Wer kommt zu wem?

Gestern saß ich mit ein paar Theologen zusammen und wir sprachen unter anderem über Vorstellungen und Formulierungen, die in Gebeten und Liedern uns am Beginn so mancher Gottesdienste begegnet sind. DSCF1041.jpg

Da war zum Beispiel die Aufforderung oder Gewohnheit, Gott „willkommen zu heißen“. Wir waren uns schnell einig, dass Gott vermutlich schon deutlich länger „da ist“ als wir. All diese räumlichen Vorstellungen eines Herbeikommens hinken erheblich. Zudem liegt es dem christlichen Verständnis von Gottesdienst deutlich näher, zu sagen, dass wir die Gäste sind und Gott der Gastgeber, statt ihn umgekehrt irgendwohin „einladen“ zu wollen. Das klingt doch schnell etwas großspurig.

Es gibt freilich in der Schrift und der Tradition eine Bitte um das Kommen des Geistes, das (Wieder-)Kommen Christi und das Kommen des Reiches Gottes. Die bezieht sich aber weniger auf das Gelingen eines Gottesdienstes als vielmehr auf den Zustand unserer Welt, die Menschen in so vieler Hinsicht als gottverlassen erfahren. Im Gottesdienst hätte so etwas bei den Fürbitten einen guten Platz.

Auch etwas kontraproduktiv sind die beliebten Tempel-Analogien mit der Vorstellung, dass Gott an einem bestimmten Ort wohnt, vor allem deshalb, weil er dann anderenorts vermutlich schwerer zu erreichen wäre. Denn obwohl z.B. die Psalmen Gottes Gegenwart nicht exklusiv auf den Tempel beschränken, hat dieses Bild häufig eine solche Wirkung. Der eigentlich sakrale „Raum“ ist jedoch die versammelte Gemeinde, in der Gott in einer anderen Weise und Qualität gegenwärtig ist (oder besser: wirkt) als wenn sich jeder selbst genügen würde – das gilt selbst dann, wenn man miteinander „nur“ schweigt. Da wo die Tempelanalogie im Neuen Testament verwendet wird, in Epheser 4, ist wieder nicht vom Gottesdienst im engeren Sinn die Rede, sondern vom Leben der Gemeinde.

Leider etwas technisch und hölzern klingen Formulierungen, die Gottes grundsätzliche Anwesenheit voraussetzen, deren wir uns nun unsererseits bewusst werden. Tatsächlich geht es ja um ein inneres Ankommen und Gegenwärtigsein, um Aufmerksamkeit und eine Ausrichtung des Herzens.

Hilfreicher ist da vielleicht der etwas altmodisch klingende Begriff von Gottes „Angesicht“. Der setzt eine „räumliche“ Anwesenheit schon voraus, nun geht es um das gegenseitige Wahrnehmen und Erkennen, um die bewusste Zuwendung. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie meine Kinder ab und zu, wenn sie auf meinem Schoß saßen und mit mir reden wollten, mit ihren kleinen Händen erst mein Gesicht zu sich hindrehten um Blickkontakt zu bekommen, bevor sie losredeten. Sie wollten sich meiner ungeteilten Aufmerksamkeit versichern. Und tatsächlich wissen wir heute, dass sich das Selbstwertgefühl und das Ich-Bewusstsein eines Babys durch den Blick in das Gesicht seiner engsten Bezugsperson entwickelt.

Am Beginn eines Gottesdienstes geschieht etwas Ähnliches. Wenn wir „Gottes Angesicht suchen“ (Ps 27,8), dann wollen wir ihm begegnen, seine Zuwendung erfahren, erkannt (und durchschaut) werden, uns seiner ungeteilten Aufmerksamkeit bewusst werden. Umgekehrt müssen auch wir unsere ungeteilte Aufmerksamkeit auf Gott richten – in uns selbst, in den anderen. Wenn in der Bibel vom „Leuchten“ des göttlichen Angesichts die Rede ist, dann ist damit diese liebevolle, gütige und freundliche Zuwendung gemeint, die uns Frieden und Geborgenheit schenkt in einer chaotischen Welt, der wir aus eigener Kraft nicht Herr werden.

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Die Kirche ist nicht die Antwort

Paul Zulehner spricht ja gern von der Jesusbewegung, weil der Begriff „Kirche“ in vieler Hinsicht abschreckend wirkt auf unsere Zeitgenossen. Marcus Mumford von Mumford & Sons hat das wohl ganz ähnlich empfunden, als er sich neulich in einem Interview mit dem Rolling Stone Magazine als „Jesus-Nachfolger“ bezeichnete, aber den Ausdruck „Christ“ ablehnte.

Was aber ist die Aufgabe dieser Jesusbewegung a.k.a. „Kirche“? Wie und mit welchen Mitteln kann sie die Welt verändern, gerade dann, wenn sie auf die Machtmittel, den rigiden Dogmatismus und die autoritären Strukturen verzichtet, auf die jene problematischen Gestalten von Kirche und Christentum, für die wir uns heute nur entschuldigen können, allzu gern zurückgriffen? Kann sie das überhaupt?

John Caputo hat das für mein Empfinden ganz treffend formuliert. Er greift Charles Sheldons Frage „What would Jesus do?“ auf (bei Martin Niemöller hieß das dann ein halbes Jahrhundert später: „Was würde Jesus dazu sagen?“ – der Akzent auf dem Tun statt dem Reden gefällt mir allerdings besser). Freilich ist es schnell geschehen, dass wir vorschnelle Antworten geben und dass der Jesus, von dem wir da reden, uns erstaunlich ähnlich sieht – und nicht wir ihm. Caputo schreibt:

Die Aufgabe der Kirche ist es, sich selbst dieser Frage zu stellen, statt sie als Prügel zu benutzen, um andere zu strafen. Die Kirche, das Archiv Jesu, ist in einer ganz realen Weise diese Frage. Sie hat keine andere Pflicht und kein anderes Privileg als die Erinnerung an Jesus zu tragen und sich selbst diese Frage zu stellen. Die Kirche ist nicht die Antwort. Die Kirche ist die Frage, diese Frage, die Versammlung von Menschen, die von der Erinnerung an Jesus zusammengerufen wurden und die diese Frage stellen, die zusammengerufen und in Frage gestellt wurden von dieser Frage, die unter Anklage stehen, unter dem Ruf, die befragt werden und angesichts dieser Frage die Aussage nicht verweigern können, und die allmählich begreifen, dass es kein einfachen, vorgefertigten und abgepackten Antworten darauf gibt.

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Der göttliche Wanderer

Anselm Grün beschreibt in seinem Buch Erlösung. Ihre Bedeutung in unserem Leben unterschiedliche Ansätze im Neuen Testament, das Versöhnungsgeschehen zwischen Gott und Menschen zu schildern. Lukas zum Bespiel beschreibt Jesus als den göttlichen Wanderer, der bei seinem Volk einkehrt:

Lukas verbindet die Erfahrung des Heils auch mit der Vergebung der Sünden. Aber er spricht nicht vom Tod Jesu als der Bedingung für die Vergebung unserer Sünden. […] Im Lukasevangelium sind es nicht in erster Linie die Geburt Jesu oder sein Tod, die uns erlösen. Der ganze Weg Jesu ist ein Heilsweg. Jesus ruft ein Heilsjahr aus. Alles, was er im Jahre dieses Heiles tut, was er sagt und welche Wege er geht, das ist erlösend und heilend für uns Menschen. (S. 42f.)

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Von Leitbildern und ausschließender Differenz

Die Diskussionen um die Orientierungshilfe der EKD zur Familie als verlässlicher Gemeinschaft dauern an. Während die Befürworter des Papiers wie Landesbischof Bedford-Strohm mit Recht darauf hinweisen, dass die Ehe (die nicht der primäre Gegenstand der Reflexion war) durchaus als Leitbild fungiert, stoßen sich die Kritiker daran, dass für sie klare Grenzen unverantwortlich verwischt werden.

Die hier schon erwähnte Unterscheidung zwischen der einschließenden und der ausschließenden Differenz hilft, die beiden Seiten zu verstehen. Die Autoren regen an, zentrale traditionell christliche Werte wie Liebe und Treue, Verantwortung und Verlässlichkeit auch in anderen Formen von Familie und Partnerschaft zu übertragen. Hier wird eine Differenz nicht aufgehoben oder verschwiegen (da irrt und verzerrt die konservative Kritik!), aber es wird das Gemeinsame in den Vordergrund gerückt und gewürdigt.

Die Kritiker denken durchweg im Sinne einer ausschließenden Differenz: Die Aussage, dass Liebe und Treue auch in einem anderen Rahmen als der institutionellen Ehe von Mann und Frau gelebt werden können, kann da nur stören und irritieren. Fehlt der Trauschein, dann steht alles unter einem negativen Vorzeichen. In einer Pressemeldung der Evangelischen Allianz von letzter Woche heißt es: „Ehe ist die lebenslängliche Treue- und Liebesgemeinschaft zwischen einer Frau und einem Mann, die öffentlich-rechtlich geschlossen wird. Familie ist eine solche durch Kinder ergänzte Gemeinschaft.“ Und man darf durchaus davon ausgehen, dass damit auch der Ausdruck Familie exklusiv denen vorbehalten ist, die dieser Definition entsprechen: Ein heterosexuelles Paar mit seinen „biologischen“ Kindern.

Alles andere (Patchwork- und Regenbogenfamilien, aber natürlich auch Alleinerziehende) erscheint damit notgedrungen als minder-wertig, ja sogar als schädlich, wenn es weiter heißt: „Sie [die so definierten Familien] sind für die seelische Gesundheit und Ausgeglichenheit von Menschen und damit auch für die Gesundheit staatlich geordneter Gemeinschaft unverzichtbar.“ Eine conditio sine qua non gelingenden Lebens also, für das Individuum wie die Gesellschaft als ganze.

Entsprechend werden dann auch die unterschiedlichsten staatlichen Privilegien für die Familie gefordert. Vermutlich ist das ja als Anreiz zum Upgrade auf die Vollversion von Ehe 1.0 gedacht; das wäre dann die exklusivistische Interpretation des Leitbildgedankens, freilich ist dieser Schritt etwa für Homosexuelle durch die vorausgestellte Definition kategorisch ausgeschlossen.

Der inklusive Ansatz setzt nun gewiss weniger direkte Anreize zum Upgrade, wenn er mit dem Gedanken spielt, dass sich auch in Beziehungen, die nicht allen oben aufgezählten Kriterien genügen, vieles Gute und Segensreiche ereignet. Aber er kann sagen, was die anderen zumindest offiziell nicht sagen dürfen, ohne dass in den eigenen Reihen lautstarke Zweifel aufkommen, warum man sich eigentlich die ganze Mühe macht mit dem Heiraten und dem Es-Miteinander-Aushalten, wenn das nicht von außen (!!) honoriert wird. Und er vermittelt Paaren, die aus den verschiedensten Gründen nicht „richtig“ heiraten, dass Gott und die Kirche sie nicht nur irgendwie tolerieren, sondern sie auch auf ihrem anderen Weg positiv begleiten.

Im Begriff des „Leitbildes“ ist es im Grunde ja schon angelegt, ihn inklusiv zu verstehen, er ermöglicht unterschiedliche Grade von Annäherung statt alles in ein scharfkantiges Drinnen/Draußen zu pressen. Über die inhaltliche Beschreibung dieses Leitbildes scheint es mir nicht annähernd so große Differenzen zu geben wie um seine ein- oder ausschließende Funktion.

In den meisten Organisationen, die ein Leitbild haben und es auch wirklich ernst nehmen, wird man es als Gewinn betrachten, wenn sich möglichst viele in die Richtung bewegen, die es weist. Man freut sich auch über zaghafte Ansätze und vermeidet kontraproduktive Alles-oder-nichts-Parolen. Freilich wird man sich auch Mühe geben, dieses Leitbild möglichst originell und motivierend zu formulieren, und in dieser Frage könnten ja nun alle Seiten fröhlich wetteifern.

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Böser Pluralismus?

In der Geschichte vom Turmbau zu Babel zeigt sich, wie Gott auf totalitäre Tendenzen imperialer Massenkultur reagiert, indem er eine Vielzahl von Sprachen und Kulturen entstehen lässt. Menschen wollen sich zu übermenschlicher Größe aufschwingen und drohen darüber zu Unmenschen zu werden.

Gott antwortet auf diese Gefährdung der Menschlichkeit, indem er eine unauflösliche Vielfalt schafft. Dass diese Vielfalt gottgewollt ist und kein Produkt bloßer Verlegenheit, zeigt schon die Tatsache, dass der Erzählung vom Turmbau die „Völkertafel“ vorgeschaltet ist, die diese Vielfalt für die damals bekannte Welt beschreibt und erläutert und die unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Länder und Völker in einen Verwandtschaftszusammenhang stellt.

Die gern gebrauchte Differenzierung Pluralität (= gut) und Pluralismus (= schlecht, weil „-ismus“) geht hier also nicht so richtig auf, denn Gott scheint die Vielstimmigkeit und Fragmentierung offenbar nicht einfach nur hinzunehmen, er wollte es tatsächlich so. Gott ist so gesehen ein bewusster Pluralist und widersetzt sich allen Tendenzen zur Uniformierung, Assimilierung und Homogenisierung menschlicher Gesellschaften.

Wenn das stimmt, warum haben eigentlich so viele Leute Angst vor dem Pluralismus, der ja in unserer heutigen Situation als eine Reaktion auf die totalitären Systeme und Ideologien des 20. Jahrhunderts entstand, also wieder der Begrenzung menschlichen Gewaltpotenzials dient? Dass er gewisse Schwierigkeiten mit sich bringt und unsere komplexe Welt noch unübersichtlicher macht, liegt ja auf der Hand. Dass er möglicherweise weit größere Schwierigkeiten abwendet, daran erinnert uns Genesis 11.

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Lebendige Nasen

In den letzten Tagen habe ich mich mit der biblischen Urgeschichte befasst und dazu einige Schöpfungsmythen aus der Umwelt des Judentums angeschaut. Diesen Absatz aus der ägyptischen Lehre für Merikare fand ich besonders originell formuliert:

Wohlversorgt sind die Menschen, das Kleinvieh Gottes,

Ihretwegen erschuf er Himmel und Erde

Er drängte die Gier des Wassers zurück

und schuf die Luft, damit ihre Nasen leben

(gefunden in: Walter Klaiber, Schöpfung. Urgeschichte und Gegenwart)

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Weisheit der Woche: Nicht bei sich selbst zu Hause

»Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein«, schrieb Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft. Dem müsste man heute hinzufügen: es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Darin zeigt sich etwas an von dem schwierigen Verhältnis, in dem der Einzelne zu seinem Eigentum sich befindet, solange er überhaupt noch etwas besitzt. Die Kunst bestünde darin, in Evidenz zu halten und auszudrücken, dass das Privateigentum einem nicht mehr gehört, in dem Sinn, dass die Fülle der Konsumgüter potentiell so groß geworden ist, dass kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern; dass man aber dennoch Eigentum haben muss, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortbestand des Besitzverhältnisses zugute kommt.

Theodor Adorno

Künftig gilt: … Wer etwas kauft, soll es nicht festhalten wollen. Und wer die Dinge dieser Welt benutzt, soll gut auf sie verzichten können.

Paulus, 1.Kor 7, 29-31

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Der innere Kindergarten

Es ist nicht so, dass wir ein einzelnes Kind in uns hätten, vielleicht verletzt, verängstigt, das gebraucht werden will oder sich zurückzieht, um etwas zu kompensieren, sondern eine ganze Schar von Kindern, einen veritablen Kindergarten, zu dem der Klassenclown gehört, der Künstler, der Rebell und das spontane Kind, das mit der Welt im Einklang ist. So gut wie alle wurden vernachlässigt oder unterdrückt. Daher fördert es die Therapie oft, wenn man ein Gespür für ihre Anwesenheit entwickelt. Gewiss ist das eine Art, Jesu Feststellung aufzugreifen, dass man wieder ein Kind werden muss, um in das Reich Gottes zu kommen.

Sicher müssen wir uns auch mit unserem narzisstischen Kind auseinandersetzen, unserem eifersüchtigen Kind, unserem wütenden Kind, dessen, Ausbrüche oft peinlich und destruktiv sind. Aber noch wahrscheinlicher haben wir die Freiheit vergessen, die wunderbare Naivität, sogar die Freude, wenn man das Leben frisch lebt. Eine der zersetzendsten Erfahrungen der Lebensmitte ist das Gefühl der Vergeblichkeit und Freudlosigkeit, das mit der Routine einhergeht. Und freilich ist das freie Kind, das wir mit uns herumtragen, im Büro selten erwünscht, vielleicht nicht einmal in der Ehe.

James Hollis, The Middle Passage

 

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Das „Tier“ ist zurück

Ist es nicht verrückt: Es gibt einen ganzen Flügel der Christenheit, der sich darauf spezialisiert hat, in allen möglichen und unmöglichen Situationen den Antichristen, das Tier aus der Offenbarung, den nächsten totalitären Herrscher aufzuspüren und davor zu warnen. Auf der Liste der Verdächtigen stehen ganz oben die EU, der Weltkirchenrat, Feministinnen (heute: „Gender Mainstream“). Ach ja, den Islam hätte ich fast vergessen.

Nun erfahren wir seit ein paar Tagen scheibchenweise (schöner Überblick und gute Diskussion z.B. gestern bei Beckmann), mit welcher Gründlichkeit und Dreistigkeit wir alle bespitzelt werden, wie gegen uns alle Material gesammelt wird, aus dem sich mit nur mäßiger krimineller Energie die wildesten Dinge konstruieren lassen. Und wie Kanzlerin und Innenminister die ganze Sache in immer neuen Verharmlosungen und Beschwichtigungen und mit abstrusem Geschwurbel über das „Supergrundrecht“ auf Sicherheit (deutsch: totale Überwachung und Kontrolle) die um ihre Grundrechte betrogenen Bürger für dumm verkaufen.

Ich habe dazu heute „Das christliche Nachrichtenportal“ nach Meldungen durchsucht und bekam zur Antwort: „Ihre Suche nach: snowden ergab 0 Treffer.“

Kann das sein – all die selbsternannten Wachhunde Gottes halten, wenn’s drauf ankommt, brav die Schnauze oder bellen am falschen Baum?

(Nachtrag: „Pixelpastor“ Jörg Dechert schrieb für „Idea Spektum“ diesen Kommentar, Jörg gehört freilich auch sonst nicht zur „Jagt-den-Antichrist“-Fraktion)

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Retro-Gottesbilder

Wichtiger als die Auseinandersetzung mit dem Atheismus über die Existenz Gottes, sagt der brasilianische Theologe Renold Blank in Gott und seine Schöpfung, ist im 21. Jahrhundert die Frage, inwiefern das eigene Gottesbild im Laufe der Geschichte und unter dem Einfluss gesellschaftlicher und kultureller Umstände bedenklich einseitig geworden ist, und inwiefern selbst theologisch „richtige“ (also irgendwie aus der Bibel und der Tradition herleitbare) Formeln sich auf die konkrete Gottesbeziehung hinderlich auswirken. das Ideologische liegt in der Einseitigkeit, mit der bestimmte Aspekte betont und andere verschwiegen werden.

So wurde Gott über weite Zeitabschnitte primär gesehen: das „ganz Andere“, der nicht Erkennbare und nicht Verstehbare. Die einzig adäquate Haltung des Menschen diesem Gott gegenüber war konsequenterweise jene der Anbetung und des Lobes. Auch diese Haltung findet sich bis heute bei unzähligen Christinnen und Christen. Ja, sie wird erneut aktiviert und gefördert in den vielen neukirchlichen und pfingstlichen Religionsgemeinschaften unserer Zeit. Ihre Konsequenz ist die Problematik der Rückkehr zu einem Gottesbild, das jeder Art von Entfremdung und Abkehr von der Welt Vorschub leistet.

Eine Art Retro-Effekt, könnte man sagen, aber nicht retro und damit eben auch nicht neu genug, findet Blank:

Alle diese Gottesvorstellungen aber sind weit entfernt von jener ungeheuer neuen Perspektive, wie sie beispielsweise in prophetischen Texten sichtbar wird – oder später bei Jesus Christus. Und doch enthalten sie die [die Propheten] authentische Offenbarung darüber, wie Gott denn sei; und diese Offenbarung ist oft weit entfernt vom Gottesbild vieler Frommer.

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Selber Schuld…?

Dass in der Theologie auch hin und wieder Probleme unzulässigerweise individualisiert und privatisiert wurden, habe ich hier schon einmal kritisiert. Freilich geschieht genau das in unserer Gesellschaft fortwährend, und wir haben uns schon so daran gewöhnt, dass es niemanden mehr richtig aufzuregen scheint:

  • Globale Finanzkonzerne verursachen einen Crash, für den dann viele einzelne Privatpersonen zur Kasse gebeten werden: wir Staatsbürger und Steuerzahler.
  • Multinationale Firmen flüchten in Billiglohnländer und Steueroasen, bauen massiv Stellen ab, und die entlassenen Arbeitskräfte bekommen zu hören, sie müssten flexibler werden (Codewort für: finanzielle Einbußen und weniger Rechte, also Lohnkürzungen und Sozialabbau), wenn sie jemals wieder einen Job finden wollen.
  • Immer mehr dieser Lasten drücken zersetzend auf einzelne und Familien, aber wenn eine Ehe scheitert, erleben es alle Beteiligten ausschließlich als ihr ganz privates Versagen, und es wird auch nur auf dieser Ebene reflektiert.

Als wäre das alles noch nicht genug, hat in diesen Tagen ein Matthias Zahn vom SWR in einem Rundfunkkommentar behauptet, der belauschte und bespitzelte Bürger könne doch von Sicherheitsdiensten unserer demokratischen Rechtsstaaten nichts anderes erwarten, als illegal ausspioniert zu werden. Man könne mithin auch nicht von der Bundesregierung erwarten, dass sie dem Einhalt gebiete. Nein, schützen müsse sich schon jeder selbst.

Aber was ist das für ein Staat, der das Recht und seine Bürger nicht mehr schützen kann und will? Und wo hört das auf, eine legitime Erwartung zu sein, dass man geschützt wird? Wen schützt der Staat, wenn er uns nicht mehr schützt? Seine Institutionen und Dienste? Die Hinterteile seiner Amtsträger und Funktionäre, beziehungsweise deren Chancen auf Wiederwahl?

Die Kanzlerin beschwichtigt, ohne irgendetwas zu sagen. Der Innenminister fliegt durch die Weltgeschichte und macht große Augen. Vielleicht war es ja auch nur Resignation, die aus Zahns Kommentar sprach, weil da tatsächlich kein Interesse erkennbar ist, Abhilfe und damit Recht zu schaffen.

Heute nachmittag nun schloss sich Innenminister Friedrich der Position von Zahn an: Datenschutz ist Sache des einzelnen Bürgers. Vielleicht ist der fehlende Gemeinsinn auch in den höchsten Staatsämtern schon üblich, diese Tugend ist bei uns im Vergleich zu anderen Ländern laut Bertelsmann-Stiftung eher unterentwickelt.

Vom „jeder muss selber sehen, wie er klarkommt“ zum „jeder ist sich selbst der Nächste“ ist es nur ein winziger Schritt. All das erinnert an einen Satz von Theodor Adorno aus „Minima Moralia„:

Das Private ist vollends ins Privative übergegangen, das es insgeheim von je war, und ins sture Festhalten am je eigenen Interesse hat sich die Wut eingemischt, daß man es eigentlich ja doch nicht mehr wahrzunehmen vermag, daß es anders und besser möglich wäre.

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Die Gemeinschaft der Wahrheit

DSC00820.jpgDie spirituelle und damit auch die ganzheitliche Dimension von Bildung interessiert Parker Palmer in seinem Buch To Know as We Are Known: A Spirituality of Education: Education as a Spiritual Journey . Es geht um Wahrheit, Wissen, Gewalt und Macht. Zu lange wurde das Wissen um der Macht willen angestrebt, und gerade diese Instrumentalisierung des Wissens, um die Welt der eigenen Willkür zu unterwerfen, hat den postmodernen Vorbehalt gegen Wahrheitsansprüche aller Art ja überhaupt erst heraufbeschworen. Die Folgen wiegen schwer.

Das Ziel von Unterricht und Bildung hatte Palmer früher schon einmal beschrieben als „einen Raum zu schaffen, wo man sich im Gehorsam gegenüber der Wahrheit übt“. Wenn zum problematischen Wahrheitsbegriff nun das autoritäre Strukturen legitimierende Wort Gehorsam tritt, dann scheidet dieses Bildungsziel für viele Menschen schon aufgrund dieser Terminologie aus.

Palmer hat daher versucht, andere Begriffe zu finden für das, worum es ihm geht – eine andere Form des Wissens und Lernens. Er ersetzt „Gehorsam gegenüber der Wahrheit“ durch „die Gemeinschaft der Wahrheit“, um dem autoritär-hierarchischen Missverständnis vorzubeugen. Es geht um ein Beziehungsgeflecht, in dem man ebenso zuhört wie redet und sich Wahrheitsansprüchen anderer ebenso stellt wie man selbst Wahrheit für sich selbst beansprucht. Alles hat diesen gemeinschaftlichen, auf Gegenseitigkeit hin angelegten Charakter: Die Ontologie (die Frage nach dem Sein), die Epistemologie (die Frage nach dem Wissen), die Pädagogik (die Frage nach dem Lernen) und die Ethik (die Frage nach dem Leben und Handeln).

In der Biologie (und ähnlich in der Physik) hat die Beziehung und die Gemeinschaft den Wettbewerb, den Überlebenskampf und die isolierte Betrachtung einzelner Objekte als entscheidende Kategorie abgelöst. Alles Sein ist ein Sein in unterschiedlichsten Beziehungen. Ebenso setzt auch alles Erkennen eine Wechselwirkung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem, was es betrachtet, voraus. Jede Aussage, die wir über die Natur machen, sagt auch etwas über uns selbst. Die Natur ist nicht stumm, die Geschichte keine „tote“ Vergangenheit, und unsere Beschäftigung mit beidem besteht im Aufspüren unserer lebendigen Verbindung zu beidem.

Folglich setzt auch alles erfolgreiche Lernen eine Beziehung voraus: Zum „Gegenstand“ des Unterrichts, zwischen Lehrer und Schülern, aber auch zwischen den Schülern untereinander. Wenn diese Beziehung etwa durch Angst und Konkurrenzdruck beeinträchtigt wird, dann wird Lernen schnell zum defensiven Nachplappern und sturen Pauken. Ein hoher intellektueller Anspruch lässt sich dagegen nur in einer Atmosphäre des Vertrauens durchhalten, weil sie einen konstruktiven, kreativen Dissens ermöglicht.

All das hat Folgen für die Ethik, sagt Palmer:

Wenn wir unseren Studenten beibringen, die Wirklichkeit als eine Ansammlung von Atomen anzusehen, die wir nach Belieben umgruppieren können, bringen wir ihnen eine gemeinschaftsfeindliche Ethik bei. Wenn wir Studenten beibringen, den Verstand als ein Werkzeug zu betrachten, mitessen Hilfe man sich von der Welt distanziert, dann bringen wir ihnen eine gemeinschaftsfeindliche Ethik bei. Wenn wir den Studenten beibringen, um Noten zu wetteifern, als wäre das Wissen eine Ware, an der ein Mangel herrscht, bringen wir ihnen eine gemeinschaftsfeindliche Ethik bei. Wenn diese Dinge durch das heimliche Curriculum von Bildern und Prozeduren vermittelt werden, spielt der Inhalt des förmlichen Lehrplans kaum eine Rolle – egal wie „gemeinschaftlich“ oder „ethisch“ er sein mag.

Kritisches Denken muss kein Akt der Distanzierung sein, sondern kann auch als Teilhabe und Engagement gelebt werden, ebenso wie das Aushalten von Ambivalenz nicht zum billigen Relativismus werden muss, sondern als Hören auf den anderen, das die eigene Stimme darüber nicht verliert. Hinter den Brüchen und Widersprüchen könnte so die verborgene Einheit und Ganzheit des Lebens wieder sichtbar und spürbar werden. Wahrheit, die verbindet statt trennt. Wahrheit, die den verändert, der sie entdeckt, und ihn von dem Zwang heilt, die Welt zu manipulieren, um sich selbst nicht ändern zu müssen.

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Ambivalente Autorität

Man könnte meinen, diese Zeilen seien unter dem Eindruck von Prism und der erschreckend unbeholfene Haltung der Bundesregierung zu den Lauschern der NSA entstanden. Tatsächlich hat Richard Sennett das schon vor mehr als 30 Jahren formuliert, und das digitale Zeitalter hat nichts daran geändert:

Das Bedürfnis nach Autorität ist elementar. Kinder brauchen Autoritäten, die sie anleiten und die ihnen Sicherheit geben. Erwachsene erfüllen einen wesentlichen Teil ihrer Erwachsenenrolle, indem sie Autoritäten sind; es ist dies eine Form, Anteilnahme an anderen zum Ausdruck zu bringen. Immer wieder begegnet uns die Angst, dass wir dieser Erfahrung beraubt werden könnten. Die Odyssee, König Lear und Buddenbrooks – alle diese Werke handeln von der Schwächung oder vom Zusammenbruch von Autorität.

Heute allerdings verbinden sich mit der Autorität auch eine andere Angst – die Angst vor der Autorität. Wir sind dahin gelangt, den Einfluss der Autorität als Bedrohung unserer Freiheiten zu fürchten – innerhalb der Familie ebenso wie in der Gesellschaft. Und das Bedürfnis nach Autorität verdoppelt diese moderne Angst: Werden wir unsere Freiheiten aufgeben und uns in tiefste Abhängigkeit begeben, weil wir so sehr darauf aus sind, dass sich jemand um uns kümmert?

Richard Sennett, Autorität
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Wenn dein Kind nicht dein Kind ist…

201307121106.jpgVor ein paar Tagen hatte ich ein sehr interessantes Gespräch mit einer sympathischen Mutter über Reinkarnation. Sie erzählte, wie sie und andere mit Hilfe von Hypnose und eines Therapeuten den Ereignissen früherer Leben auf die Spur kamen und mit diesen Einblicken aktuelle Probleme lösen konnten, sprach von Kindern mit „alten Seelen“ und dass es doch, gäbe es nur dieses eine Leben, ein unerträglicher Gedanke wäre, wenn manche viel früher sterben als andere oder ein grausames Schicksal zu erdulden hatten.

Und dann wollte sie wissen, wie ich das sehe.

Ich stimmte zu, dass der Gedanke an einen viel zu frühen Tod, ein unerfülltes Leben, und noch mehr der an schreiende Ungerechtigkeit und maßloses Leid schwer zu ertragen ist. Aber macht die Annahme, es gebe ein nächstes und ein übernächstes Leben, das Ganze besser? Wäre sie nicht (mindestens so wie die feige „Vertröstung“ auf den Himmel, die Christen immer wieder, und gelegentlich leider zu Recht vorgeworfen wurde) insgeheim eine eher abstrakte Rechtfertigung dieser Dinge, die man sich durch Fehlverhalten in einem früheren Leben zugezogen hat oder im nächsten Leben dann erstattet bekommt? Und wie würde sich das auswirken auf meinen Einsatz für Gerechtigkeit jetzt, in diesem Leben?

Noch viel schwieriger fand ich den Gedanken da, wo er konkret wird: Wenn es eine „Seelenwanderung“ gibt, wir es also nicht mit einzigartigen Menschen zu tun haben, sondern mit einzigartigen Seelen (die Differenzierung stammte von meiner Gesprächspartnerin) – leider mit einer gehörigen Teilamnesie! –, dann ist mein Kind gar nicht mein Kind und ich bin nicht das Kind meiner Eltern, sondern lediglich eine „Seele“, die sich dieses Umfeld als Durchgangsstation ausgewählt oder zugewiesen bekommen hat. Mit mir hat das herzlich wenig zu tun. Zu glauben, dass nicht nur Augenfarbe, sondern auch seelische Eigenschaften nur ansatzweise „vererbt“ sein könnten, wäre eine Illusion. Wir wären alle irgendwie Adoptiveltern. Das kann natürlich auch gutgehen und würde vielleicht die Gefahr reduzieren, dass Eltern ein Kind als Erweiterung des eigenen Selbst missverstehen. Es käme ja schon irgendwie „fertig“ auf die Welt.

Über Vererbung hingegen müssten wir dann gar nicht mehr reden, und alles soziale Lernen würde mächtig relativiert, es bildet lediglich die oberste Schicht eines dicken, schier undurchdringlichen Psycholaminats. Psychische Störungen werden dann nicht mehr nur als verstehbare Reaktionen auf die überschaubare (und in der Regel auch überprüfbare) Lebensgeschichte und Umgebung hin befragt. Das Buddeln nach Erklärungen in der Vergangenheit und im Unbewussten, das schon der klassischen Psychoanalyse einiges an Kritik eingetragen hat, kann nun spekulativ ins Unendliche erweitert werden. Wenn man von „alten Seelen“ ausgeht, die schon etliche Leben auf dem Buckel haben (und eventuell von einem ganz anderen Planeten stammen), dann ist irgendwann jede nur denkbare Komplikation auch „tatsächlich“ passiert und erlebt worden.

Und der Skeptiker in mir argwöhnt: Freilich wird in den meisten Fällen dazu ein „Therapeut“ nötig sein, und freilich kostet das immer eine Stange Geld. Nicht auszuschließen, dass die intensive persönliche Zuwendung positive Wirkungen entfaltet – aber beweist das schon die Theorie? Zumal man dann eine ganz strikte Geist/Materie-Spaltung annehmen muss, unser Denken, Fühlen und Erinnern also ein gänzlich körperloses wäre und damit im krassen Widerspruch zu dem stünde, was wir gerade über unser Gehirn alles entdecken…

Mich interessiert das Ganze auch, weil wir an diesem Wochenende in einem Seminar mit Andreas Ebert und Niklas Tartler über Leid und Schuld, aber auch den großen Segen nachdenken werden, den unsere jeweiligen Familiensysteme mit sich bringen. Immer ausgehend von der Annahme: Jeder Mensch ist einzigartig. Wie wir miteinander umgehen, spielt eine wichtige Rolle – nicht nur für die oberste Schicht unserer Persönlichkeit. Aufgrund des ganz konkreten Ortes, den konkreten Zeit und konkreten Verhältnisse, in die ich hineingeboren wurde, ergeben sich ganz für jede(n) einzigartige Zumutungen und Möglichkeiten. Statt hinter diese Dinge zurückzuspekulieren hilft es mir, diese geschichtliche Situation genau zu betrachten und mit Gottes Hilfe und Führung richtig darauf zu antworten.

Wie gesagt: Die christliche Vorstellung von der Auferweckung von den Toten kann zwar auch als „Opium“ missbraucht werden. Richtig verstanden aber bestätigt sie gerade die Einzigartigkeit eines jeden Menschen. Gottes Liebe zielt ja gerade darauf ab, diese ganz besondere Geschichte mit jedem von uns nicht abbrechen zu lassen, sondern ihrer konkreten Erfüllung entgegenzuführen. Wir müssen nicht selber alles gut machen, neben dem Leben wird uns auch das Heil geschenkt. Daher hoffen wir mit Paulus auf die eine leibliche Auferstehung, die das Soziale (geheilte Beziehungen) und Ökologische (geheilte Schöpfung) mit einschließt. Daher sind auch die Beziehungen jetzt und hier, in der Familie, zu den Mitchristen, zum Nächsten nichts Austauschbares oder Belangloses. Auf sie fällt schon der helle Vorschein der neuen Welt. Sie haben Ewigkeitspotenzial, das unbegrenzt wachsen kann.

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