Torn (9): Ein neues Dilemma

Der erneute Durchgang durch die Bibel hatte für Justin Lee ergeben: Überall da, wo Homosexualität ausdrücklich erwähnt wurde, wurde sie negativ bewertet. Andererseits war nicht eindeutig klar, dass sich diese ablehnenden Aussagen auch auf verbindliche und liebevolle gleichgeschlechtliche Partnerschaften bezogen. Justin Lee entschloss sich, im fortbestehenden Zweifelsfall lieber weiterhin allein zu bleiben, und die Texte nicht weiter hin und her zu drehen.

Zu seiner Überraschung stellt er fest, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hatte. Die entscheidende Frage war nicht die nach dem Inhalt der einzelnen Textstellen, sondern aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet, die Frage nach (das sind jetzt meine Worte) der Mitte der Schrift. In früheren Streitfragen – ob die Bibel Sklaverei billigt oder Frauen von Gemeindeämtern ausschließt und ob man das Recht oder gar die Pflicht zu zivilem Ungehorsam hat – haben sich Christen durchaus auch über den ausdrücklichen Wortlaut einzelner Schriftstellen hinweggesetzt.

Lee findet den Schlüssel zur biblischen Ethik in Römer 13,8-10, wo Paulus die Liebe als die Erfüllung des ganzen Gesetzes bezeichnet, die bedingungslose, selbstlose, verletzliche Liebe, die den anderen so achtet und ihm so zugewandt ist, dass sie ihm nichts Böses zufügt. Wer aufrichtig liebt, tut automatisch das Richtige. Lee verfolgt den Gedanken durch das Corpus Paulinum und findet ihn immer wieder in unterschiedlichen Facetten: Der Weg der Freiheit liegt zwischen den beiden Polen der Gesetzlichkeit und des Hedonismus oder der Willkür.

Dieselbe Logik liegt auch bei Jesus zugrunde, wenn er sich über das Sabbatgebot hinwegsetzt. Für seine Zeitgenossen war das keine Kleinigkeit, sondern der unmissverständliche Beweis, dass Jesus kein echter Prophet sein konnte, sondern nur ein raffinierter Verführer. Zum Streit in Markus 3,4 merkt Lee an:

Aus der regelkonformen Perspektive ergibt das Argument Jesu keinen Sinn. Aber aus einer liebe-deinen-Nächsten-Persepektive ist der Sinn sonnenklar.

Jesus streitet also mit den Pharisäern gar nicht darum, ob das Verbot, am Sabbat bestimmte Dinge zu tun, in seinem Fall (Heilung, Ährenausraufen) zutrifft, er bestreitet also gar nicht, dass er das Sabbatgebot „bricht“. Stattdessen erklärt er, dass das Gebot „für den Menschen“ da ist, oder, um es mit Paulus zu sagen, um uns zu Christus zu führen, um dort dem Geist des Gesetzes zu begegnen, statt beim Buchstaben stehen zu bleiben.

Und so wie ein Arzt dem Patienten manchmal in einem konkreten Fall rät, den Beipackzettel mit seinen Warnungen und Dosierungsanleitungen zu ignorieren und das verschriebene Medikament anders einzunehmen, so kann der Geist Gottes Menschen in bestimmten Situationen dazu anleiten, den Buchstaben des Gesetzes zu missachten. Ob es tatsächlich Gottes Geist war, der diesen Weg gewiesen hatte, muss sich dann an der Frucht dieses Handelns erweisen.

Zweifellos gab es viele Arten homosexuellen Verhaltens, die von Selbstsucht angetrieben wurden und nicht von Agape-Liebe. Vergehen wie Vergewaltigung, Götzenkult, Prostitution, und der Missbrauch von Kindern sind klare Beispiele für die Resultate selbstsüchtiger, fleischlicher Motivation, die keine Liebe zu Gott und anderen ist.

… Aber angenommen, zwei Menschen lieben sich von ganzem Herzen, und sie wollen einander im Angesicht Gottes versprechen, sich zu lieben, zu ehren, wertzuschätzen; einander selbstlos zu dienen und zu ermutigen; gemeinsam Gott zu dienen; einander treu zu bleiben für den Rest ihres Lebens. Wären sie unterschiedlichen Geschlechts, würden wir das heilig nennen und schön und einen Grund zum Feiern. Aber wenn wir nur eine Sache ändern – das Geschlecht eines der beiden – während immer noch die gleiche Liebe, Selbstlosigkeit und Hingabe da wären, würden viele Christen es plötzlich als Gräuel bezeichnen, dem die Hölle droht.

Als ich Römer 13,8-10 wieder und wieder las, fand ich keinen anderen Weg, diese Sicht der Dinge mit dem in Einklang zu bringen, was Paulus uns über Sünde sagt. Wenn alle Gebote in der Regel zusammengefasst sind, dass wir einander lieben sollen, dann waren homosexuelle Paare entweder die einzige Ausnahme von dieser Regel, und Paulus hatte Unrecht – oder meine Kirche hatte einen schlimmen Fehler gemacht.

Mit Furcht und Zittern betritt Justin Lee Neuland, für das er noch keine Karten hat. Wenn er mit seiner Einschätzung falsch liegt, macht er sich schuldig und verleitet andere zur Sünde. Ein erschreckender Gedanke! Aber was, wenn er umgekehrt Recht und die kirchliche Tradition sich geirrt hatte? Was, wenn sie zahllose Menschen unnötigerweise vor den Kopf gestoßen und ihnen den Weg zum Glauben verbaut hatte? War es dann in Ordnung, einfach den Mund zu halten?

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