Herausfordernde Perspektive auf den Jesus der Evangelien

N.T. Wright habe auf diesem Blog ja in schöner Regelmäßigkeit erwähnt. Mit Jesus und der Sieg Gottes (aus aktuellem Anlass kein Link zu amazon.de) ist sein bislang vielleicht wichtigstes Werk nun im Francke-Verlag auf Deutsch erschienen. Warum es mit der Übersetzung etwas gedauert hat, wird sofort klar, wenn man den stattlichen Band in der Hand hält. Sich nun vom Umfang abschrecken zu lassen, wäre ein sehr bedauerliches Versäumnis. Denn Wrights Untersuchung der Jesusworte und -geschichten aus den ersten drei Evangelien ist im Unterschied zu vielen mehr oder weniger aktuellen und originellen Aufgüssen ein selten mutiger, in sich stimmiger und im Blick auf die Texte ungemein erhellender Neuansatz.

Der Neutestamentler aus St. Andrews greift zurück auf Albert Schweitzer, der vor über 100 Jahren erkannte, dass man entweder den Ansatz konsequenter Kritik gehen kann (und dann in der Sackgasse radikaler Skepsis landet), oder in Rechnung stellen muss, dass Jesus als Jude im ersten Jahrhundert ein ganz anderes Bild Gottes Eingreifen in die Weltgeschichte hatte, als wir heute. Wright gibt Schweitzers These aber eine überraschende Wendung: Während der nämlich noch geglaubt hatte, Jesus habe irrtümlich den Anbruch des Weltendes erwartet, ordnet Wright die Verkündigung vom Reich Gottes in den Horizont der jüdischen Prophetie ein: Nicht das Ende der Geschichte Israels und der Welt, sondern ihr Höhepunkt und die entscheidende Wende stehen bevor. Und Jesus selbst ist die Schlüsselfigur in diesem göttlichen Drama.

Aus dieser Perspektive liest Wright viele Jesusworte, die andere auf „Wiederkunft“ und „Weltende“ gedeutet hatten, als stimmige Beschreibung und Erklärung dessen, was sich durch Jesu Wirken und vor den Augen seiner Nachfolger und Gegner ereignet – mitten in der Geschichte. Aus dem scheinbar weltfremden Gottmenschen traditioneller Auslegungen, der primär mit der Frage befasst zu sein scheint, wie man nach dem Tod „in den Himmel“ kommt, wird in Wrights lebendiger Darstellung ein politischer Messias, der damit rechnet, dass Gott durch sein Wirken und seinen Märtyrertod mitten in der „alten“ Welt der verheißenen neuen Schöpfung die Tür öffnet.

Die 866 Seiten (ohne Anhänge ca. 750) sind eine äußerst anregende und auch für theologisch interessierte Laien gut verständliche Entdeckungsreise, von der man bereichert zurückkehrt, und die knapp 40 Euro kann man kaum besser investieren! Wer 20 Seiten am Tag liest, ist bis Ostern durch!

Share