Der wache Blick

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„Religiöses Denken, Glauben, Fühlen gehört zu den trügerischsten Aktivitäten des menschlichen Geistes. Wir gehen oft davon aus, dass es Gott ist, an den wir glauben, aber in Wirklichkeit könnte es ein Symbol unserer persönlichen Interessen sein, mit dem wir uns beschäftigen. Wir gehen vielleicht davon aus, dass wir uns zu Gott hingezogen fühlen, aber in Wirklichkeit könnte es eine Kraft innerhalb dieser Welt sein, die Gegenstand unserer Anbetung ist. Wir gehen vielleicht davon aus, dass es uns um Gott geht, aber wir könnten mit unserem Ego beschäftigt sein. Unsere religiöse Existenz zu prüfen ist daher eine Aufgabe, der wir beständig nachkommen müssen.“

Abraham J. Heschel, God in Search of Man, S. 9

In diesem Sinne: Ein ganz großes Danke für Euer Interesse, die vielen Kommentare und auf ein Wiedersehen/-lesen im neuen Jahr!

(PS: Das Bild oben zeigt zwar eine Klippe, aber die wird dank Leuchtturm erfolgreich umschifft)

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Ausgefragt

Christian Döring hat schon vor ein paar Tagen auf seinem Blog ein kleines Interview mit mir über „Von der Ausgrenzung zur Umarmung“ veröffentlicht. Wer sich dafür interessiert – hier klicken.

Bei der Gelegenheit fällt mir ein: Wer hat das Fragezeichen erfunden?

Hier steht die Antwort.

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Die Angst vor dem Dammbruch (3)

„Wo die Angst vor dem Dammbruch herrscht, ist der Damm gegen die Angst schon gebrochen“ twitterte @trans4mission auf meinen zweiten Blogeintrag unter dieser Überschrift zurück.

Worum ging es? Ich hatte in den beiden bisherigen Posts grob skizziert, wie sich evangelikale Identität häufig konstituiert: Als Kontrastverhältnis zur „Welt“ und verweltlichten Christenheit, das sich an bestimmten Punkten festmacht. Ich habe auch skizziert, dass es seit den Tagen Speners keineswegs immer gelungen ist, dem eigenen Reinheitsideal gerecht zu werden.

Bis heute wird im konservativen Flügel des Evangelikalismus das Gebiet der Familie und Sexualethik zur Profilierung genutzt. Aber auch hier hat es starke „Erosionen“ des Dammes gegeben, besser sollten wir vielleicht von pragmatischen Anpassungen an eine veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit reden:

Scheidung und Wiederheirat haben sich zunehmend durchgesetzt, längst nicht alle jungen Paare warten mit „dem ersten Mal“ bis zur Hochzeitsnacht (im Unterschied zu früher sind dabei kaum noch Heimlichkeiten nötig). Auch diese Dämme sind also gebrochen, das wird mal erleichtert, mal frustriert durchaus anerkannt. Die einen rechtfertigen das theologisch, die anderen lassen den Widerspruch einfach stehen. Inzwischen ordinieren auch viele Freikirchen Frauen und die Geschlechterrollen aus dem 19. Jahrhundert (von manchen irrtümlich für „biblisch“ gehalten) sind auch aufgeweicht, nur eben eine Generation später als in „liberaleren“ Milieus.

Jetzt bleibt nur noch ein Thema, das die ganze Last des Unterschieds (und damit auch des Nachweises der „Bibeltreue“!) tragen muss. Ist es am Ende gar nicht deshalb noch „übrig“, weil die biblischen Aussagen hier so klar und unmissverständlich sind wie an anderen Punkten nicht, sondern weil Homosexuelle eben recht konstant zwischen ein und drei Prozent der Gesamtbevölkerung darstellen? Parallel nahm die Zahl Geschiedener und Alleinerziehender in den letzten Jahrzehnten deutlich zu und mit ihr der Handlungsdruck an diesen Punkten – bis die pluralistische Gesellschaft anfing, konservative Protestanten und Katholiken massiv als „homophob“ und intolerant ins Kreuzfeuer zu nehmen.

Es gibt durchaus Grund, auf eine Veränderung zu hoffen. Ein Umdenken ist gerade unter jüngeren Evangelikalen in vollem Gang. Zwar halten etliche an einer konservativen Position fest (d.h.: wer homosexuelle Neigungen hat, soll enthaltsam leben) und wollen nur die rhetorische Stigmatisierung Homosexueller verhindern. Eine ganze Reihe wissen noch nicht (oder nicht mehr), wo genau sie theologisch stehen, wollen aber unter keinen Umständen den harten Abgrenzungskurs früherer Jahrzehnte fortführen. Wieder andere sind längst bereit, hier neue Wege zu gehen; einige tun es stillschweigend und leiden zugleich unter der Sprachlosigkeit ihrer Gemeinden und Verbände.

Allerdings wird diese Veränderung noch eine Weile dauern. Denn egal, wohin man sieht, es dominieren momentan die Ängste: Angst vor Profilverlust bei den konservativeren Evangelikalen, Angst vor Ausschluss, Karriereknick oder Entlassung bei den Progressiveren, Angst vor Spaltungen in Gemeinden, Gremien und Organisationen bei den Moderaten, vor Spendeneinbruch und gekündigten Abonnements bei Verlagen und Werken.

Zusätzlich schwer macht es die nicht immer nur feinfühlige Kritik von ganz außen, die es den Unbeweglichen ermöglicht, mit einem Schuss Christenverfolgungsrhetorik die Solidarität der Unentschlossenen einzufordern: Eine Position, die man unter großen Opfern verteidigt hat, kann man schon allein deshalb nicht aufgeben, weil damit das Erbe der Väter mit Füßen getreten wird und der heldenhafte Kampf früherer (und zum Teil noch lebender) Generationen als sinnlos dastehen würde. Wer es doch tut, begeht damit Verrat an der gemeinsamen Sache und knickt vor den Drohungen der Feinde ein.

Wie könnte der Weg aus der Angst aussehen? Ich komme zurück zum Buch von Miroslav Volf und dem Verständnis von Identität und Anderssein, das er dort entfaltet. Es hat drei Komponenten:

1. Eine „katholische“ kulturelle Identität – Mir ist bewusst, der/die/das Andere gehört auch zu mir, jedes Ich oder Wir bleibt immer „hybrid“ und ist nie völlig statisch und stabil. „Katholisch“ ist hier nicht konfessionell gemeint und bedeutet, ich setze nicht einseitig auf Trennung.

2. Eine „evangelische“ Persönlichkeit – Das Evangelium ermöglicht Menschen aus allen Kulturen eine heilsame Umkehr, indem es ihnen eine Distanz zum vorgeprägten Selbst ermöglicht und damit auch eine Unterscheidung der Geister ermöglicht, die mehr ist als nur die Ablehnung des Fremden und Neuen mit anderen Mitteln.

3. Schließlich führt das in eine ökumenische Gemeinschaft – Volf schreibt in Von der Ausgrenzung zur Umarmung: „Während wir den Blick auf die Zukunft Gottes gerichtet halten, müssen wir über die Gefechtslinien unseren Brüdern und Schwestern auf der anderen Seite die Hand reichen. Wir müssen es zulassen, dass sie uns aus der Verschlossenheit von der eigenen Kultur und ihren jeweiligen Vorurteilen herausziehen, damit wir wieder neu das „eine Wort Gottes“ lesen können. So könnten wir wieder Salz werden für eine Welt, die vom Streit geplagt wird.“

Im Grunde treffen hier zwei Gruppen zusammen, die sich als Minderheiten verstehen und damit manche schmerzlichen Erfahrungen verbinden: Evangelikale und Homosexuelle. Das wäre doch schon ein Ansatzpunkt, an dem man sich die Hand reichen kann, um dann Ängste zu überwinden, Verletzungen zu thematisieren und ergebnisoffen (es ist „Gottes Zukunft“!) ins Gespräch zu kommen. Es gibt längst Menschen, die in beiden Welten zuhause sind – lebendige Brücken.

Vielleicht ist die Zeit dafür ja doch näher, als manche glauben: Wenn man diese Presseerklärung der Evangelischen Allianz vom 11. Dezember genau liest, wird man feststellen, dass deren Vorsitzender Michael Diener sich dort zwar dagegen wehrt, konservative Positionen zu „kriminalisieren“ und deren Vertreter auf eine Stufe mit Rechtsradikalen zu stellen, andererseits diese Stimmen als „Meinungsäußerung“ betrachtet und nirgends impliziert, dass alle Evangelikalen unisono derselben Auffassung sind.

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Wenn Gott zur Welt kommt…

… erfährt der Aufrichtige
von seiner Zukünftigen
dass sich das Wunschkind
ohne ihn auf den Weg machte
– adieu, Durchschnittsfamilie.

 

Träumt der Verlässliche
von erfüllten Versprechen
von himmlischen Namen
und handelt verwegen
– adieu, Alltäglichkeit.

 

Verlassen die Himmelsdeuter
die erhabene Warte
und suchen die Antwort
im irdischen Gewimmel
– adieu, Berechenbarkeit.

 

Rutscht der Tyrann
rastlos auf seinem
Thron hin und her
bangt um die Macht
– adieu, Selbstherrlichkeit.

 

Schwärmen die Schergen
aus ins Städtchen
sinnloser Blutdurst
Macht ohne Menschlichkeit
– adieu, Kleinstadtidylle.

 

Flieht die Hoffnung
ins Land alter Feinde
bis in der Heimat
ein Tod Türen öffnet
– adieu, alte Ordnung.

 

Aber glücklich seid
ihr Düpierten und Träumer
ihr Suchenden und Gejagten
ihr Weinenden und Armseligen
Gott ist ganz
unten angekommen:
Immanuel.

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Das missbrauchte Massaker

Kann man so jemand noch ernst nehmen? Wenn ja, dann darf man ihm das nicht ohne Widerspruch durchgehen lassen: Der religiöse Rechtsaußen James Dobson wendet einen beliebten Trick an, den wir schon aus anderen Zusammenhängen kennen (Nero und der Brand von Rom, Goebbels und das Feuer im Reichstag von 1933):

  • Man nehme eine Katastrophe, die die Gemüter bewegt (hier: das Blutbad von Sandy Hill)
  • Man finde jemanden, mit dem man noch eine Rechnung offen hat (hier: die pluralistische Gesellschaft, die Demokratische Partei, liberales Christentum)
  • Man behaupte einen direkten Zusammenhang zwischen der Katastrophe und dem Verhalten der Gegner (hier: Gottes Gericht für deren Sünden, namentlich die Abtreibungsgesetze und die Relativierung der Ehe von Mann und Frau)
  • Man achte darauf, dass die wahren Hintergründe (z.B. die irrationale Besessenheit der eigenen Nation von Waffen und Gewalt) und die mögliche eigene Verstrickung (mit der Waffenlobby hat Dobson sich m.W. nie angelegt) darin tunlichst im Dunkel bleiben

Dobson nutzt die Katastrophe, um sich in der eigenen Selbstgerechtigkeit zu bestärken und die anderen so schlecht wie möglich zu machen. Er kritisiert, was er schon immer kritisiert hat und beschuldigt die, die er schon immer beschuldigt hat, nur jetzt mit apokalyptischen Obertönen. Unter den Kommentaren zu dieser Meldung fand ich ein schönes Zitat von Anne Lamott:

“You can safely assume you’ve created God in your own image when it turns out that God hates all the same people you do.”

Leider muss man fürchten, dass Dobson nicht der einzige ist, der auf diesen plumpen Mechanismus der Projektion hereinfällt. Zu viele Leute suchen nach einem Blitzableiter für ihren Frust und ihre Verbitterung und fragen nicht lange, wenn man ihnen ein „geeignetes“ Ziel präsentiert. Und manche von denen besitzen Schusswaffen…

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Eine unerwartete Begegnung

Nachdem ich rund um das Emergent Forum vor drei Wochen hier viel zum Thema „Mächte und Gewalten“ geschrieben habe, haben wir für den Advent eine kleine Reihe Predigten über die Apokalypse begonnen. Und wie ich sehe, hatte Walter Faerber denselben Gedanken.

Einen kleinen Einstieg in das mysteriöse Buch am Ende der Bibel habe ich mit dieser Predigt versucht und am Ende auch ein paar knappe Überlegungen angestellt, was das heute für uns bedeuten könnte. Wer mitlesen möchte:

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Ein Sch…tag kommt selten allein

Rückblickend würde ich sagen: Wenn jemand bei diesem trüben Wetter mit verspiegelter Sonnenbrille im Frida-Supermarkt herumläuft, muss man eigentlich misstrauisch werden. Der Typ an der mittäglich geschäftigen Kasse war eindeutig auf Krawall gebürstet. Er hatte fünf identisch aussehende Flaschen Bier aufs Band gelegt und erklärte der armen Kassiererin, zwei davon würden 87 Cent kosten (da aus dem Kühlschrank) und drei 82 Cent, die seien warm.

Der Barcodescanner hatte erwartungsgemäß keinen Temperaturfühler und berechnete einheitlich 87 Cent. Der Mann mit der Puck-Brille bestand auf einer Kontrolle der Preisschilder am Regal durch die Geschäftsführerin, dann auf einer Stornierung der Eingabe und der Auszahlung der fälschlich berechneten 15 Cent. Zur – bemerkenswert gelassenen – Dame an der Kasse sagte er in oberlehrerhaftem Tonfall:

„Ich weiß sie können nichts dafür. Aber wenn ich einen Scheißtag habe, dann habe ich ihn nicht allein!“

Nachdem er – die Schlange wurde inzwischen länger und länger – endlich seinen sagenhaften Gewinn eingestrichen hatte, kontrollierte er den Kassenzettel ein zweites Mal und fing schon an, erneut zu reklamieren, bis ihm auffiel, dass sich diesmal tatsächlich er selbst getäuscht hatte. Er verließ den Laden langsam und beim Hinausgehen holte ich ihn ein, klopfte ihm auf die Schulter, gratulierte zu dem beeindruckenden Auftritt an der Kasse und schwor mir im Stillen: Das nächste Mal schalte ich schneller, verderbe ihm das Spiel und zahle die 15 Cent selber.

Hoffen wir mal, dass er heute niemandem mehr begegnet, der noch einen schlimmeren Scheißtag hatte als er…

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Alles ist unterwegs

Andrea Schwarz vergleicht in Eigentlich ist Weihnachten ganz anders: Hoffnungstexte unsere vorweihnachtliche Eile mit dem biblischen Eilen der verschiedenen Akteure rund um Jesu Geburt (Weise, Hirten, Engel und natürlich Josef und Maria auf dem Weg, der Flucht, später dem Rückweg). Und schreibt dann:

Es gibt ein Unterwegs-Sein, damit das Fest so schön wird wie letztes Jahr, damit man allen Erwartungen gerecht wird, damit bloß kein Streit entsteht, damit alle zufrieden sind – oder anders gesagt: damit alles so bleibt, wie es ist.

Und es gibt ein Unterwegs-Sein, weil in mir etwas in Bewegung gekommen ist, weil da etwas Neues geschieht, weil es eine Verheißung gibt, eine Zusage, eine Hoffnung, ein Licht, einen Stern – oder anders gesagt: damit nichts so bleibt, wie es ist. […]

Die spannende Frage scheint zu sein:

Sind wir unterwegs um sitzen zu bleiben oder um neu aufzubrechen?

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Weisheit der Woche: Zwischen Determinismus und Menschlichkeit

Gestern Abend hatte ich das Vergnügen, Peter Jacksons „Hobbit“ im O-Ton zu genießen, mit einem großartigen Martin Freeman, einem überraschend witzigen Gollum und Gandalfs verräterischem, weil für den Film programmatischen Satz „a good story deserves embellishment“. Passend dazu lese ich heute:

Kinder brauchten Märchen, so hieß es bei Bruno Bettelheim; in der Aufklärung steckengebliebene Gesellschaften brauchen Fantasy.

… Hier tobt auch der Kampf zwischen Fundamentalisten und Mystikern, zwischen Determinismus und Menschlichkeit. Und ist ein Hobbit wirklich irrealer als ein Xetra-Dax? Er wurde jedenfalls mit etwas mehr Liebe erfunden.

Georg Seesslen in Der Freitag

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Anbetung als Parodie

In unserem Adventsgottesdienst heute stand die „Thronsaalvision“ aus der Offenbarung des Johannes (Kapitel 4-5) im Zentrum. Passend dazu haben wir etliche Lieder – als und neu – gesungen, die sich der Bilder und Symbole dieses Textes bedienten. Daniel Hufeisen wies dann in seiner Predigt darauf hin, dass neben vielen alttestamentlichen Bezügen vor allem auch die Thronbesteigungszeremonie der römischen Kaiser im Hintergrund dieser Schilderung steht.

Man kann das also so lesen: Da wechselt diese kleine religiöse Minderheit den erhabenen Kaiser in der ewigen Stadt Rom gegen ihren in Schmach und Schmutz gekreuzigten Messias. In den Augen des Systems eine ähnliche Persiflage auf die wahren Machtverhältnisse wie zwei Generationen zuvor der Einzug Jesu am Palmsonntag in Jerusalem auf einem königlichen Reittier, mit Jubelrufen, Palmen und Mänteln auf der Straße und aller messianischen Symbolik, die man ad hoc aufbieten konnte. Sein Gegenstück findet dieser Einzug dann in der Symbolik der Dornenkrone und des Titutlus am Kreuz.

Nicht nur wird mit dieser Schilderung des Johannes der Machtanspruch der Herrschenden ironisiert, es wird auch ein paradoxer Machtanspruch aufgerichtet, der allen sichtbaren Machtverhältnissen spottet.

Und jetzt meine Frage: Wenn das eine Parodie ist, müssten unsere Lieder das nicht irgendwie widerspiegeln? Wird man ihr gerecht, wenn man sie einfach so ungebrochen und aus dem Zusammenhang gerissen vertont und wiederholt, und dabei die antike Symbolik (die uns heute ganz fremd geworden ist) für bare Münze nimmt, ihr also die herrschaftskritische Spitze damit abbricht?

Ich habe immer ein mulmiges Gefühl bei diesen Liedern, in denen sich die königlichen Attribute und Unterwerfungsgesten so massiv häufen. Erstens sind solche Texte im Laufe der Geschichte immer wieder zur Legitimation „christlicher“ Herrschaft (sei es Papst oder Kaiser, ich habe gerade wieder drei Tage Kirchengeschichte des Mittelalters unterrichtet) herangezogen worden, als säße Gott an der Spitze einer Machtpyramide, auf deren mittleren Rängen dann Könige und Adel folgen und der Rest – wir – auf den untersten Etagen, ohne das Recht aufzumucken.

Gott so naiv als orientalischen Potentaten (der römische Kaiserkult kam ja aus dem Osten!) hinzustellen hat zudem auch etwas total Unwirkliches in unserer Welt, die so sehr ihren eigenen Gesetzen zu gehorchen scheint und in der ganz andere Mächte den Ton angeben. Vielleicht kommen wir viel näher hin, wenn wir (analog zur Johannesoffenbarung) den Kult unserer Zeit, seine Machtdemonstrationen und seine Heilsversprechen ironisch brechen und ihr die ganz andere Macht Gottes gegenüberstellen?

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Die Angst vor dem Dammbruch (2)

Seit den Tagen Speners und Zinzendorfs hat der Pietismus eine Selbstbeschreibung, die neben den drei reformatorischen „sola“ einerseits auf Differenz und Kontrast nicht nur zur säkularen Gesellschaft (die entstand damals gerade erst), sondern auch zur verweltlichten Kirche setzt (ähnlich wie, ich sagte es schon, die Täufer und zuvor im Mittelalter das Mönchtum). Was als Öffnung und Erneuerung begonnen hatte, wurde bald zu einer theologisch und politisch konservativen Strömung. Der autoritäre Friedrich-Wilhelm I. von Preußen, bekannt als „Soldatenkönig“, kam zum Beispiel glänzend klar mit den hallischen Pietisten.

Das andere Element war das Streben nach Reinheit. Im 19. Jahrhundert kam der Puritanismus der Heiligungsbewegung aus den USA nach Europa, Anfang des 20. Jahrhunderts dann der Fundamentalismus, ein Denken, das sich bei uns häufig hinter dem Schlagwort „Bibeltreue“ versteckt. Im Unterschied zum vorkritischen Bibelverständnis des alten Pietismus (das durchaus noch Offenheit für – freilich moderate – Bibelkritik entwickelte) wurde in den USA unter dem Eindruck der radikalen historischen Kritik und der Ausbreitung des philosophischen Atheismus im 19. Jahrhundert eine dezidiert antimoderne und antiliberale Theologie entfaltet.

Nun kann man an der Moderne und an der liberalen Theologie mit guten Gründen Kritik üben und tatsächlich geschieht das ja beispielsweise im Zuge des postmodernen Diskurses. Der theologische Fundamentalismus jedoch hat sich mit seinem Absolutheitsanspruch in einem geschlossenen Weltbild eingemauert, aus dem kaum ein Weg mehr nach draußen führt. 100 Jahre vor der Veröffentlichung der Fundamentals hatte Friedrich Schleiermacher noch gefragt: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen: Das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ Die konservative Bewegung aus Pietismus und Erweckung entwickelte einen starken reaktionären Flügel, der mit der immer pluralistischeren Gesellschaft, die ihn umgab, zunehmend fremdelte. Es entstanden die Subkulturen, die Schleiermacher so gern verhindert hätte.

Die apologetischen Abwehrschlachten um die vermeintliche Irrtumslosigkeit der Schriften des Alten und Neuen Testaments (theologisch ein Rückgriff auf das Schriftverständnis der Orthodoxie, von der man sich doch eigentlich längst gelöst hatte) verbrauchten viel Energie und erzeugten Fraktionszwänge: Um des lieben (innerevangelikalen) Friedens willen fielen (und fallen) viele Gemäßigte den bibeltreuen Hardlinern nicht öffentlich in den Rücken.

Der Damm gegen die Moderne hielt indes nicht besonders gut, weil die Fluten (um im Bild zu bleiben) aus ganz unterschiedlichen Richtungen hereinbrachen – oder schon längst hereingebrochen waren: Abgesehen von einigen rühmlichen Ausnahmen verschliefen das Gros der bürgerlichen Erweckten – wie der übrige Protestantismus auch – weitgehend die soziale Frage und das Entstehen einer neuen Schicht, der Arbeiterklasse. Der Unternehmersohn Friedrich Engels geißelte als Neunzehnjähriger den aufs Persönliche und Jenseitige beschränkten Glauben seines pietistischen Vaters, und Goethe nannte Friedrich Wilhelm Krummachers erweckliche Predigten „narkotisch“.

Im Revolutionsjahr 1848 hatte man sich zudem mehrheitlich auf die Seite der Reaktion geschlagen. Krummacher etwa wurde 1853 Hofprediger in Potsdam, der junge Bismarck hatte Kontakt zur Erweckung in Pommern. Der Nationalismus, wie der Kapitalismus eine durch und durch moderne Ideologie, hatte im zweiten Kaiserreich ein genauso leichtes Spiel wie jener, und auf seinen Fersen folgte schließlich der Nationalsozialismus: die Evangelische Allianz zählte keineswegs zu Hitlers engagiertesten Gegnern (etwas anders der Gnadauer Verband, der zumindest deutliche Distanz zu den „Deutschen Christen“ suchte). Vielleicht verstellte die Fixierung auf die private Reinheit und Heiligung ja auch den Blick für die soziopolitischen Entwicklungen – zumindest hatte „Bibeltreue“ an sich keine automatisch immunisierende Wirkung gegen die großen Verführungen des Zeitgeistes gebracht. Die Autoritätskritik der 68er-Bewegung (und nach ihr die Friedensbewegung und dann wieder die Grünen) löste daher auch im Wesentlichen wieder nur die üblichen konservativen Chaosängste und Abwehrreflexe aus.

Wenn also heute die Gefahr eines „Dammbruchs“ beschworen wird, dann muss man sehen, dass diese Art der „Bibeltreue“ Christen nur bedingt zur Ideologiekritik befähigte und dass die konservativen Christen auf evangelischer Seite sich, wenn es darauf ankam, gar nicht so gravierend von den „liberaleren“ Kräften unterschieden. Oder noch einmal anders formuliert: Dass es mit der „Reinheit“, wenn überhaupt, nur auf einigen ganz bestimmten Feldern funktionierte. Man muss das nicht als Unglück werten. Mir fällt dazu ein kritischer Gedanke von Miroslav Volf ein:

Wir wollen eine reine Welt und drängen die „Anderen“ aus unserer Welt hinaus; wir wollen selbst rein sein und tilgen die Andersartigkeit aus unserem Selbst. Der „Wille zur Reinheit“ enthält ein ganzes Programm zur Ordnung unserer sozialen Welten – von den inneren Welten des Selbst zu den äußeren unserer Familien, Nachbarschaften und Nationen […]. Es ist ein gefährliches Programm, regiert von einer Logik, die reduziert, ausscheidet und abtrennt.

Diese Logik ist keineswegs auf Evangelikale beschränkt (sie wurden freilich auch selbst immer wieder von anderen Gruppen ausgegrenzt, was fest im kollektiven Gedächtnis verankert ist), aber Evangelikale sind, wenn man das gesamte Spektrum betrachtet, eben auch keineswegs frei davon. Und gerade da, wo sie sich von diesem Ordnungsprinzip lösen, setzt die Verunsicherung ein: Es droht eine Identitätskrise, wenn der Binnenpluralismus bestimmte Grenzen überschreitet.

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Kleinlaut im Advent

Karl Rahner beschreibt die Stimmung im Spätherbst und wie man mit ihr umgehen kann:

Es ist , wie wenn die Welt kleinlaut geworden wäre und den Mut verloren hätte, sich selbst zu behaupten, von sich überzeugt zu sein und stolz auf ihre Macht und ihr Leben. Ihr Anlauf in der schwellenden Fülle des Frühlings und des Sommers ist missglückt; denn die Fülle ist wieder verloren gegangen.

Da ist es an der Zeit, die Melancholie dieser Zeit zu überwinden, sich selber leise und treu zu sagen, was der Glaube uns sagt, da ist eine Zeit, das Wort des Glaubens gläubig zu sprechen: Ich glaube an die Ewigkeit Gottes, die in unsere Zeit, in meine Zeit hineingekommen ist. Unter dem ermüdenden Auf und Ab der Zeit wächst schon heimlich das Leben, das keinen Tod mehr kennt.

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