Die Angst vor dem Dammbruch (2)

Seit den Tagen Speners und Zinzendorfs hat der Pietismus eine Selbstbeschreibung, die neben den drei reformatorischen „sola“ einerseits auf Differenz und Kontrast nicht nur zur säkularen Gesellschaft (die entstand damals gerade erst), sondern auch zur verweltlichten Kirche setzt (ähnlich wie, ich sagte es schon, die Täufer und zuvor im Mittelalter das Mönchtum). Was als Öffnung und Erneuerung begonnen hatte, wurde bald zu einer theologisch und politisch konservativen Strömung. Der autoritäre Friedrich-Wilhelm I. von Preußen, bekannt als „Soldatenkönig“, kam zum Beispiel glänzend klar mit den hallischen Pietisten.

Das andere Element war das Streben nach Reinheit. Im 19. Jahrhundert kam der Puritanismus der Heiligungsbewegung aus den USA nach Europa, Anfang des 20. Jahrhunderts dann der Fundamentalismus, ein Denken, das sich bei uns häufig hinter dem Schlagwort „Bibeltreue“ versteckt. Im Unterschied zum vorkritischen Bibelverständnis des alten Pietismus (das durchaus noch Offenheit für – freilich moderate – Bibelkritik entwickelte) wurde in den USA unter dem Eindruck der radikalen historischen Kritik und der Ausbreitung des philosophischen Atheismus im 19. Jahrhundert eine dezidiert antimoderne und antiliberale Theologie entfaltet.

Nun kann man an der Moderne und an der liberalen Theologie mit guten Gründen Kritik üben und tatsächlich geschieht das ja beispielsweise im Zuge des postmodernen Diskurses. Der theologische Fundamentalismus jedoch hat sich mit seinem Absolutheitsanspruch in einem geschlossenen Weltbild eingemauert, aus dem kaum ein Weg mehr nach draußen führt. 100 Jahre vor der Veröffentlichung der Fundamentals hatte Friedrich Schleiermacher noch gefragt: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen: Das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ Die konservative Bewegung aus Pietismus und Erweckung entwickelte einen starken reaktionären Flügel, der mit der immer pluralistischeren Gesellschaft, die ihn umgab, zunehmend fremdelte. Es entstanden die Subkulturen, die Schleiermacher so gern verhindert hätte.

Die apologetischen Abwehrschlachten um die vermeintliche Irrtumslosigkeit der Schriften des Alten und Neuen Testaments (theologisch ein Rückgriff auf das Schriftverständnis der Orthodoxie, von der man sich doch eigentlich längst gelöst hatte) verbrauchten viel Energie und erzeugten Fraktionszwänge: Um des lieben (innerevangelikalen) Friedens willen fielen (und fallen) viele Gemäßigte den bibeltreuen Hardlinern nicht öffentlich in den Rücken.

Der Damm gegen die Moderne hielt indes nicht besonders gut, weil die Fluten (um im Bild zu bleiben) aus ganz unterschiedlichen Richtungen hereinbrachen – oder schon längst hereingebrochen waren: Abgesehen von einigen rühmlichen Ausnahmen verschliefen das Gros der bürgerlichen Erweckten – wie der übrige Protestantismus auch – weitgehend die soziale Frage und das Entstehen einer neuen Schicht, der Arbeiterklasse. Der Unternehmersohn Friedrich Engels geißelte als Neunzehnjähriger den aufs Persönliche und Jenseitige beschränkten Glauben seines pietistischen Vaters, und Goethe nannte Friedrich Wilhelm Krummachers erweckliche Predigten „narkotisch“.

Im Revolutionsjahr 1848 hatte man sich zudem mehrheitlich auf die Seite der Reaktion geschlagen. Krummacher etwa wurde 1853 Hofprediger in Potsdam, der junge Bismarck hatte Kontakt zur Erweckung in Pommern. Der Nationalismus, wie der Kapitalismus eine durch und durch moderne Ideologie, hatte im zweiten Kaiserreich ein genauso leichtes Spiel wie jener, und auf seinen Fersen folgte schließlich der Nationalsozialismus: die Evangelische Allianz zählte keineswegs zu Hitlers engagiertesten Gegnern (etwas anders der Gnadauer Verband, der zumindest deutliche Distanz zu den „Deutschen Christen“ suchte). Vielleicht verstellte die Fixierung auf die private Reinheit und Heiligung ja auch den Blick für die soziopolitischen Entwicklungen – zumindest hatte „Bibeltreue“ an sich keine automatisch immunisierende Wirkung gegen die großen Verführungen des Zeitgeistes gebracht. Die Autoritätskritik der 68er-Bewegung (und nach ihr die Friedensbewegung und dann wieder die Grünen) löste daher auch im Wesentlichen wieder nur die üblichen konservativen Chaosängste und Abwehrreflexe aus.

Wenn also heute die Gefahr eines „Dammbruchs“ beschworen wird, dann muss man sehen, dass diese Art der „Bibeltreue“ Christen nur bedingt zur Ideologiekritik befähigte und dass die konservativen Christen auf evangelischer Seite sich, wenn es darauf ankam, gar nicht so gravierend von den „liberaleren“ Kräften unterschieden. Oder noch einmal anders formuliert: Dass es mit der „Reinheit“, wenn überhaupt, nur auf einigen ganz bestimmten Feldern funktionierte. Man muss das nicht als Unglück werten. Mir fällt dazu ein kritischer Gedanke von Miroslav Volf ein:

Wir wollen eine reine Welt und drängen die „Anderen“ aus unserer Welt hinaus; wir wollen selbst rein sein und tilgen die Andersartigkeit aus unserem Selbst. Der „Wille zur Reinheit“ enthält ein ganzes Programm zur Ordnung unserer sozialen Welten – von den inneren Welten des Selbst zu den äußeren unserer Familien, Nachbarschaften und Nationen […]. Es ist ein gefährliches Programm, regiert von einer Logik, die reduziert, ausscheidet und abtrennt.

Diese Logik ist keineswegs auf Evangelikale beschränkt (sie wurden freilich auch selbst immer wieder von anderen Gruppen ausgegrenzt, was fest im kollektiven Gedächtnis verankert ist), aber Evangelikale sind, wenn man das gesamte Spektrum betrachtet, eben auch keineswegs frei davon. Und gerade da, wo sie sich von diesem Ordnungsprinzip lösen, setzt die Verunsicherung ein: Es droht eine Identitätskrise, wenn der Binnenpluralismus bestimmte Grenzen überschreitet.

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