Der (un)freie Wille und die Mächte

In der westlichen Christenheit (und unter ganz anderen Vorzeichen neuerdings in der Neurobiologie) war die Frage nach der Willensfreiheit immer ein heißes Eisen. Es ist unendlich viel dazu gesagt, geschrieben und verworfen worden; aber mir scheint, oft hat man auch entscheidende Aspekte vernachlässigt. Die Ostkirche hat – vielleicht auch deshalb – bis heute kaum nachvollziehen können, worum man im Westen seit Augustinus erregt diskutierte.

So lange Gott und der Mensch die einzigen Akteure auf dem Feld sind, steht man vor der unbefriedigenden Alternative, ob nun der eine oder der andere seinen Willen bekommt, oder ob man beides irgendwie noch sinnvoll zusammendenken kann – was meistens misslingt und sehr unanschaulich wird. Über das Paradox, das Paulus im Philipperbrief (2,12-13) schon formuliert hatte, kommt man selten hinaus (neurobiologischer Determinismus ist freilich noch viel plumper, da bleibt selbst das menschliche Bewusstsein nur ein Epiphänomen – eine Art weißes Rauschen im Hirn, das Theorien wie den neuobiologischen Determinismus hervorbringt).

Ganz anders, wenn wir die „Mächte und Gewalten“ in die Überlegung mit einbeziehen: Dann wird sofort deutlich, dass niemand auf neutralem Territorium sein Leben beginnt, sondern ungefragt schon immer in einer mehr oder weniger stark belasteten und belastenden Umgebung beginnt und mit einer gewissen Hypothek startet, die nun freilich nicht in erster Linie rein individuelle Schuld und persönliche Haftung bedeutet, sondern das – um es mit Walter Wink zu sagen – im Schatten des Todes steht, und zwar ziemlich konkret:

Wir sind tot, insofern wir mit ungerechten Mustern groß geworden sind. Wir sind Stück für Stück gestorben, indem uns wesensfremde Erwartungen aufgezwungen wurden. Wir starben, als wir zu Komplizen unserer eigenen Entfremdung und der anderer wurden. Wir starben, als wir anfingen, unsere Fesseln zu lieben, zu rationalisieren, zu rechtfertigen und uns sogar für sie stark zu machen.

Tot, weil uns all das entmenschlicht und uns die Kraft zur Gegenwehr raubt. Und just in dieser Situation wendet sich das Evangelium an den Rest von Wahrheitsliebe, gesundem Empfinden für Gerechtigkeit, Sehnsucht nach Heilwerden, Hoffnung auf ein besseres Leben und leiser Ahnung, dass uns irgendwo ein lebendiger Gott hört und sieht, und spricht uns auf unsere Freiheit an (oder spricht sie uns zu), dass wir unser wahres Ich darin finden, wenn wir nein sagen zu dem, was unsere Menschlichkeit (und die anderer vergiftet) und erstickt. Als erinnerte Gott uns an eine innere Bastion der Freiheit, die eben noch nicht endgültig besetzt ist von den Kräften, die unsere Vorstellung und Wahrnehmung, unsere Gefühle und Reflexe (nicht immer ohne unsere tatkräftige Mitwirkung) zum Zwecke systemkonformen Funktionierens manipulieren.

Aus diesem Ausgeliefertsein an die Mächte können wir uns, weil es viel zu tief sitzt, nicht aus eigener Kraft befreien. Aber diese Befreiung geschieht eben auch nicht über unsere Köpfe hinweg, ohne unsere Beteiligung (bei dem Gedanken intoniert der prädestinatianische Chor normalerweise schrill: „Pfui, Synergismus!“). Es geht also nicht um eine Art Ellbogendrücken zwischen Gott und dem Individuum darüber, wer die Lorbeeren dafür erntet, dass jemand im „Himmel“ landet, sondern um Gottes befreiendes Eingreifen in die Machtsphären unseres Lebens, das uns ermächtigt, unsere innere und äußere Freiheit zu gebrauchen, und das sich nicht nur auf die Innerlichkeit des Einzelnen beschränkt.

Um auf den Streit zwischen Erasmus und Luther zurückzukommen: Der humanistische Optimismus im Blick auf menschliche Freiheit ist psychologisch naiv und ökonomisch blind – da wo wir die Zwänge nicht mehr wahrnehmen, haben wir sie meist so verinnerlicht, dass sie Teil unserer Persönlichkeit geworden sind. Aber – und das wäre die kritische Rückfrage an Luther – vielleicht ist der Mensch ja auch nie freier und mehr Mensch, als in dem Moment, in dem er sich Gottes gewaltlosem Aufstand gegen die Mächte anschließt?

Denn wenn Luther in de servo arbitrio den menschlichen Willen mit einem Lasttier vergleicht, das entweder von Gott oder dem Satan geritten wird, bringt er zwar mit dem Stichwort „Teufel“ eine dritte Kraft ins Spiel. Trotzdem schlägt er damit bei näherem Hinsehen andere Töne an als das neue Testament. Zum einen ist der Bezug zwischen dem Stichwort „Teufel“ und den handfesten soziokulturellen und -politischen Realitäten, auf die das Wortfeld von den Mächten anspielt, eher vage (politische Theologie war nicht unbedingt Luthers Stärke, wie seine Hilflosigkeit im Bauernkrieg zeigte). Zum andern scheint mir die Parallele zu schematisch, wie der rein passiv gedachte Mensch sich Gott oder anderen Mächten gegenüber verhält.

Anders gesagt: Gott und seine Herrschaft sind nicht einfach nur das spiegelbildliche Gegenteil aller anderen Formen destruktiver Herrschaft. Freilich kann auch Paulus von „Knechtschaft“ sprechen, aber dann steht im Hintergrund des Vergleichs eben das System der römischen Sklavenhaltergesellschaft, die Menschen im Zuge ihrer Eroberungskriege und aus wirtschaftlichen Gründen gewaltsam versklavt, ausbeutet, psychisch verkrüppelt und politisch mundtot macht. Das gipfelt schließlich darin, dass Rom den Sohn Gottes wie einen aufständischen Sklaven kreuzigt. Das Sklavensystem degradiert und entmenschlicht den Menschen, es beraubt ihn seiner Würde, während ein Pferd oder Esel immer ein mehr oder weniger heiles Pferd oder Esel bleibt, egal, wer es reitet (es sei denn, wir lehnen die Nutztierhaltung generell ab).

Diese Befreiung ist gewiss nicht aus eigener Kraft und ohne Verbündete möglich; Gottes Tat geht unserer Antwort ja schon zeitlich voran; aber selbst wenn es völlig absurd wäre, quantitativ aufrechnen zu wollen, wer dazu wie viel beiträgt, muss man die qualitativ andere menschliche „Beteiligung“ ja nicht kategorisch auf Null setzen. Neben den Aussagen zu Herrschaft und Knechtschaft stehen bei Paulus ja auch immer wieder Sätze, die kaum noch eine klare Unterscheidung zwischen menschlichem Selbst und göttlichem Geistwirken zulassen. Zu unübersichtlich, fürchte ich, um es so radikal zu vereinfachen.

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