Die Angst vor dem Dammbruch (3)

„Wo die Angst vor dem Dammbruch herrscht, ist der Damm gegen die Angst schon gebrochen“ twitterte @trans4mission auf meinen zweiten Blogeintrag unter dieser Überschrift zurück.

Worum ging es? Ich hatte in den beiden bisherigen Posts grob skizziert, wie sich evangelikale Identität häufig konstituiert: Als Kontrastverhältnis zur „Welt“ und verweltlichten Christenheit, das sich an bestimmten Punkten festmacht. Ich habe auch skizziert, dass es seit den Tagen Speners keineswegs immer gelungen ist, dem eigenen Reinheitsideal gerecht zu werden.

Bis heute wird im konservativen Flügel des Evangelikalismus das Gebiet der Familie und Sexualethik zur Profilierung genutzt. Aber auch hier hat es starke „Erosionen“ des Dammes gegeben, besser sollten wir vielleicht von pragmatischen Anpassungen an eine veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit reden:

Scheidung und Wiederheirat haben sich zunehmend durchgesetzt, längst nicht alle jungen Paare warten mit „dem ersten Mal“ bis zur Hochzeitsnacht (im Unterschied zu früher sind dabei kaum noch Heimlichkeiten nötig). Auch diese Dämme sind also gebrochen, das wird mal erleichtert, mal frustriert durchaus anerkannt. Die einen rechtfertigen das theologisch, die anderen lassen den Widerspruch einfach stehen. Inzwischen ordinieren auch viele Freikirchen Frauen und die Geschlechterrollen aus dem 19. Jahrhundert (von manchen irrtümlich für „biblisch“ gehalten) sind auch aufgeweicht, nur eben eine Generation später als in „liberaleren“ Milieus.

Jetzt bleibt nur noch ein Thema, das die ganze Last des Unterschieds (und damit auch des Nachweises der „Bibeltreue“!) tragen muss. Ist es am Ende gar nicht deshalb noch „übrig“, weil die biblischen Aussagen hier so klar und unmissverständlich sind wie an anderen Punkten nicht, sondern weil Homosexuelle eben recht konstant zwischen ein und drei Prozent der Gesamtbevölkerung darstellen? Parallel nahm die Zahl Geschiedener und Alleinerziehender in den letzten Jahrzehnten deutlich zu und mit ihr der Handlungsdruck an diesen Punkten – bis die pluralistische Gesellschaft anfing, konservative Protestanten und Katholiken massiv als „homophob“ und intolerant ins Kreuzfeuer zu nehmen.

Es gibt durchaus Grund, auf eine Veränderung zu hoffen. Ein Umdenken ist gerade unter jüngeren Evangelikalen in vollem Gang. Zwar halten etliche an einer konservativen Position fest (d.h.: wer homosexuelle Neigungen hat, soll enthaltsam leben) und wollen nur die rhetorische Stigmatisierung Homosexueller verhindern. Eine ganze Reihe wissen noch nicht (oder nicht mehr), wo genau sie theologisch stehen, wollen aber unter keinen Umständen den harten Abgrenzungskurs früherer Jahrzehnte fortführen. Wieder andere sind längst bereit, hier neue Wege zu gehen; einige tun es stillschweigend und leiden zugleich unter der Sprachlosigkeit ihrer Gemeinden und Verbände.

Allerdings wird diese Veränderung noch eine Weile dauern. Denn egal, wohin man sieht, es dominieren momentan die Ängste: Angst vor Profilverlust bei den konservativeren Evangelikalen, Angst vor Ausschluss, Karriereknick oder Entlassung bei den Progressiveren, Angst vor Spaltungen in Gemeinden, Gremien und Organisationen bei den Moderaten, vor Spendeneinbruch und gekündigten Abonnements bei Verlagen und Werken.

Zusätzlich schwer macht es die nicht immer nur feinfühlige Kritik von ganz außen, die es den Unbeweglichen ermöglicht, mit einem Schuss Christenverfolgungsrhetorik die Solidarität der Unentschlossenen einzufordern: Eine Position, die man unter großen Opfern verteidigt hat, kann man schon allein deshalb nicht aufgeben, weil damit das Erbe der Väter mit Füßen getreten wird und der heldenhafte Kampf früherer (und zum Teil noch lebender) Generationen als sinnlos dastehen würde. Wer es doch tut, begeht damit Verrat an der gemeinsamen Sache und knickt vor den Drohungen der Feinde ein.

Wie könnte der Weg aus der Angst aussehen? Ich komme zurück zum Buch von Miroslav Volf und dem Verständnis von Identität und Anderssein, das er dort entfaltet. Es hat drei Komponenten:

1. Eine „katholische“ kulturelle Identität – Mir ist bewusst, der/die/das Andere gehört auch zu mir, jedes Ich oder Wir bleibt immer „hybrid“ und ist nie völlig statisch und stabil. „Katholisch“ ist hier nicht konfessionell gemeint und bedeutet, ich setze nicht einseitig auf Trennung.

2. Eine „evangelische“ Persönlichkeit – Das Evangelium ermöglicht Menschen aus allen Kulturen eine heilsame Umkehr, indem es ihnen eine Distanz zum vorgeprägten Selbst ermöglicht und damit auch eine Unterscheidung der Geister ermöglicht, die mehr ist als nur die Ablehnung des Fremden und Neuen mit anderen Mitteln.

3. Schließlich führt das in eine ökumenische Gemeinschaft – Volf schreibt in Von der Ausgrenzung zur Umarmung: „Während wir den Blick auf die Zukunft Gottes gerichtet halten, müssen wir über die Gefechtslinien unseren Brüdern und Schwestern auf der anderen Seite die Hand reichen. Wir müssen es zulassen, dass sie uns aus der Verschlossenheit von der eigenen Kultur und ihren jeweiligen Vorurteilen herausziehen, damit wir wieder neu das „eine Wort Gottes“ lesen können. So könnten wir wieder Salz werden für eine Welt, die vom Streit geplagt wird.“

Im Grunde treffen hier zwei Gruppen zusammen, die sich als Minderheiten verstehen und damit manche schmerzlichen Erfahrungen verbinden: Evangelikale und Homosexuelle. Das wäre doch schon ein Ansatzpunkt, an dem man sich die Hand reichen kann, um dann Ängste zu überwinden, Verletzungen zu thematisieren und ergebnisoffen (es ist „Gottes Zukunft“!) ins Gespräch zu kommen. Es gibt längst Menschen, die in beiden Welten zuhause sind – lebendige Brücken.

Vielleicht ist die Zeit dafür ja doch näher, als manche glauben: Wenn man diese Presseerklärung der Evangelischen Allianz vom 11. Dezember genau liest, wird man feststellen, dass deren Vorsitzender Michael Diener sich dort zwar dagegen wehrt, konservative Positionen zu „kriminalisieren“ und deren Vertreter auf eine Stufe mit Rechtsradikalen zu stellen, andererseits diese Stimmen als „Meinungsäußerung“ betrachtet und nirgends impliziert, dass alle Evangelikalen unisono derselben Auffassung sind.

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