Der Ausdruck „Verschwörungsmystiker“ ist mir inzwischen ein paarmal begegnet – in Pressetexten und sogar bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Er ist, ich kann es nicht anders sagen, leider ein terminologischer Totalschaden.
Zwei Dinge kommen hier zusammen: Erstens gab und gibt es Stimmen, die darauf drängen, nicht von „Verschwörungstheorien“ zu sprechen, um seriöse Theoriebildung in den Wissenschaften nicht zu diskreditieren. Stattdessen solle man besser von „Verschwörungsmythen“ sprechen.
Probleme verlagern statt lösen
Damit wird das Problem freilich nur aus dem Bereich der Naturwissenschaft in den der Sprach- und Literaturwissenschaft verlagert. Denn die Protokolle der Weisen von Zion, Gerüchte über Chemtrails oder Bill Gates, der uns Chips implantieren möchte, sind einfach böswillige Konstrukte und vorsätzliche Fälschungen. Man muss als schon die Vulgärdefinition von Mythos als einer unwahren Geschichte zugrundelegen, um die argumentative Kurve noch zu kriegen. Eigentlich aber geht es in Mythen, wenn man sie richtig versteht, um etwas ganz anderes, wie die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong schön erklärt:
In popular parlance, a “myth” is something that is not true. But in the past, myth was not self-indulgent fantasy; rather, like logos, it helped people to live effectively in our confusing world, though in a different way. Myths may have told stories about the gods, but they were really focused on the more elusive, puzzling, and tragic aspects of the human predicament that lay outside the remit of logos. Myth has been called a primitive form of psychology. When a myth described heroes threading their way through labyrinths, descending into the underworld, or fighting monsters, these were not understood as primarily factual stories. They were designed to help people negotiate the obscure regions of the psyche, which are difficult to access but which profoundly influence our thought and behavior.
Karen Armstrong
Was ähnlich klingt, ist noch lange nicht dasselbe
Passend zu Verschwörungstheorien gibt es den Ausdruck „Verschwörungstheoretiker“. Das sind Menschen, die sich Verschwörungstheorien ausdenken oder sie verbreiten. Wer aber meint, „Verschwörungsmythen“ sagen zu müssen, braucht nun eine analoge Wortbildung. Die müsste, wenn schon, „Verschwörungsmythiker“ lauten. Aus Ahnungslosigkeit und Denkfaulheit jedoch wandert hier ein „s“ ein und macht die Mythiker zu Mystikern. Klingt ja ganz ähnlich, kommt beides aus dem Griechischen, das muss doch reichen…? Ein bisschen wie: Obama oder Osama – Hauptsache Hassfigur, der Rest ist egal.
Damit sind nun zwar alle Theoretiker aus dem Schneider, allerdings auf Kosten der Mystiker. Denn Mystik hat mit Mythen erst einmal gar nichts zu tun. Mystiker üben sich im Schweigen und der Meditation, sie fabrizieren also keine Mythen. Mystik setzt auch keine Mythen voraus. Möglicherweise fällt es Menschen, die Erfahrung mit Meditation haben, leichter, mit echten, gewachsenen Mythen umzugehen. Sie verstehen die Sprache der Seele und finden Zugang zu deren Codes und Bildern, ohne diese mit Historie, Tatsachenbehauptungen oder „Informationen“ zu verwechseln.
Mystiker sind nicht weniger rational und vernünftig als andere Menschen. Im besten Fall wissen sie um die Grenzen von Vernunfterkenntnis und Argumenten und um den Wert spiritueller Erfahrung. Einer Erfahrung, die (um es mal mit Martin Buber zu sagen) nicht im instrumentellen und objektivierenden Ich/Es Modus stattfindet, sondern sich im Ich/Du-Verhältnis zu Gott und Schöpfung bzw. Welt vollzieht.
Es waren Theoretiker wie Immanuel Kant, die im 18. Jahrhundert den Kampfbegriff „Mystizismus“ prägten, der zum Synonym für dumpfen Aberglauben wurde und differenziertes Hinsehen überflüssig machte. Aberglauben und religiösen Wahn gibt es freilich auch. Aber es gibt eben ein weites, buntes Feld zwischen diesen beiden Polen: der monarchischen Vernunft und dem magischem Denken oder Spiritualismus (was wiederum ganz ähnlich klingt wie „Spiritualität“, aber etwas ganz anderes ist).
Der Versuch, die Theorie vor dem Wahn zu retten, indem man die Verschwörung erst Richtung Mythos und dann weiter zur Mystik verschiebt, produziert also allerhand sprachliche Kollateralschäden. Dabei wäre das Gegenteil nötig: Auf begriffliche Klarheit zu achten, die gedankliche Klarheit ja überhaupt erst ermöglicht.
Nicola Gess hat an dieser Stelle mit ihrem Buch Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit hilfreiche Arbeit geleistet. Merkt Euch also schon mal den Begriff – Fortsetzung folgt.