Im Schlusskapitel von Torn bringt Justin Lee nach den schon beschriebenen Ratschlägen noch einen weiteren wichtigen Gedanken ins Spiel. Christen, die zu ihrer Homosexualität stehen, sagt er, sollten ihren Platz in der Kirche finden. Er selbst habe sich immer gefragt, ob Gott etwas mit ihm anfangen könne, obwohl er doch homosexuell sei. Nun sieht er, dass er nicht trotz, sondern wegen seiner Orientierung etwas Besonderes zu geben hat.
Christen wie er können dazu beitragen, die schon ausführlich thematisierte Kluft zwischen den beiden „Lagern“ zu überwinden. Viele haben tiefe Krisen und Zweifel durchlebt, und haben dabei zu inneren Klärungen und einem tieferen Gottvertrauen gefunden. Und weil viele von ihnen auch unter den Zuständen in den Kirchen gelitten haben, können sie einen authentischen Beitrag zur Versöhnung leisten.
Dazu müssen sie sich aber auf allen Ebenen des Gemeindelebens einbringen dürfen, was zu erheblichen Spannungen führen kann, wenn etwa ein homosexuelles Paar auf eine Gemeinde trifft, die davon überzeugt ist, dass die beiden zölibatär leben sollten. Oft wird in diesem Zusammenhang dann auf 1.Korinther 5 Bezug genommen, wo Paulus darauf beharrt, dass Christen sich in einem Umfeld, dass sie misstrauisch beäugte, moralisch tadellos verhalten sollten. Heute ist in westlichen Ländern die Situation freilich umgekehrt: Kaum jemand lauert auf eine Chance, Christen als moralisch verwerflich zu diskreditieren, vielmehr werden konservative Christen als strenge Moralapostel gemieden. Der gesellschaftliche Konsens, dass Homosexualität prinzipiell „falsch“ sei, bricht momentan überall zusammen, allmählich auch unter Evangelikalen.
Statt in 1.Korinther 5 liefert uns Paulus den Schlüssel zum richtigen Umgang mit unterschiedlichen moralischen Urteilen in Römer 14, wo Paulus dazu aufruft, dass die verschiedenen Seiten einander erlauben, ihrem Gewissen zu folgen. Selbst unter homosexuellen Christen gibt es unterschiedliche Positionen, die im Gay Christian Network miteinander ins Gespräch gebracht werden. Es gibt durchaus gleichgeschlechtliche Paare, die sich aus bewusst einer Gemeinde angeschlossen haben, die ihre Beziehung offiziell nicht unterstützt, weil sie sich dorthin von Gott gerufen sehen.
Damit das gelingt, muss man sich im Dialog üben: Eltern müssen lernen, ihren homosexuellen Kindern zuzuhören, statt voreilige Schlüsse zu ziehen. Schwule und lesbische ChristInnen sollten mit ihren Verwandten und Freunden Geduld haben, unüberlegte Äußerungen nicht auf die Goldwaage legen, und ehrlich von den eigenen inneren Kämpfen reden. In Gemeinden und zwischen Gemeinden gilt es, offen und ohne Druck ins Gespräch zu kommen über die unterschiedlichen Standpunkte.
Das ist Christen ja generell aufgetragen: den Anderen ernsthaft verstehen zu wollen, auch wenn man selbst noch nicht verstanden wird – etwa, indem wir Vorurteile aussetzen und die Sprache des anderen lernen. Das bedeutet sich den Verzicht auf die eigene Meinung, aber die Bereitschaft, sie als etwas Vorläufiges zu betrachten. Schließlich haben wir täglich mit Menschen zu tun, die in vielen Fragen ganz anderer Auffassung sind als wir selbst. Wenn wir einander im Licht der Gnade sehen, dann treten diese Unterschiede zurück und die Gemeinsamkeiten rücken in den Vordergrund.
Ich hoffe, der Kurzdurchgang hat gezeigt, dass sich die Lektüre von Torn lohnt. Momentan ist leider kaum zu erwarten, dass sich ein evangelikaler Verlag an eine Übersetzung wagt. Das allein zeigt natürlich auch, wie tief die Gräben derzeit noch sind. Aber es muss ja nicht ewig dabei bleiben.
Die Torn-Reihe war sehr interessant und spannend, danke dafür. Ich schließe mich dem Wunsch an, dieses wertvolle Buch irgendwann auch auf deutsch lesen zu können. Es könnte eine sehr heilsame Wirkung auf die Christen und Gemeinden in unserem Land haben.
Vielen Dank auch von mir für die Torn-Reihe, die mich veranlasst hat, das Buch ebenfalls zu kaufen und zu lesen.
Was die Verlage angeht, könnte ich mir für eine deutsche Ausgabe den Aussaat-Verlag noch am ehesten vorstellen. Der ist zwar nicht direkt evangelikal, wird aber doch von vielen Evangelikalen beachtet.
Über eine Übersetzung würde ich mich jedenfalls sehr freuen.
@Christian: An den Neukirchener Verlag hatte ich auch schon gedacht, die haben auch Brian McLarens „A New Kind of Christianity“ herausgebracht, das war für evangelikale Verhältnisse schon sehr radikal 🙂
Lieber Peter,
ich finde in diesem Zusammenhang auch sehr interessant die Ansichten von Walter Wink:
https://www.huk.org/cms/front_content.php?idart=169
Außerdem hört sich die Website von „Zwischenraum“ sehr interessant an:
http://www.zwischenraum.net/ueber-uns/das-sind-wir.html
(Vielleicht kennst du aber auch schon beides…)
Grüße
-J.
@Jochen: Ja, die sind sehr lesenswert!
Danke für die Zusammenfassung, klingt nach einem lesenswerten Buch!
Weiß hier jemand zufällig, ob Miroslav Volf je etwas zu diesem Thema gesagt/geschrieben bzw. sich irgendwie positioniert hat? Das Internet gibt hier nicht viel her…
Ich dachte immer, Francke sei der Verlag der Wahl, wenn es um emergent Sachen geht…
Vielen Dank für die Reihe und auch für den Abschluss und Deine eigene Bewertung (die ich bis dahin nur zwischen den Zeilen gefunden habe).
Ein Gedanke noch zu dem Abschnitt:
„Heute ist in westlichen Ländern die Situation freilich umgekehrt: Kaum jemand lauert auf eine Chance, Christen als moralisch verwerflich zu diskreditieren, vielmehr werden konservative Christen als strenge Moralapostel gemieden.“
Wenn wir es an dem Begriff „Moral“ festmachen, dann mag das stimmen.
Aber wenn wir über ethisch richtiges Verhalten reden, dann gibt es durchaus deratiges „Lauern“ oder besser: Dann sind einige durchaus der Meinung, dass Christen sich falsch verhalten. Ein markantes Beispiel ist immer noch die Homosexualität, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Eine Ablehnung von Partnerschaften oder auch „nur“ deren gottesdienstlicher Segnung wird als „Homophobie“, als „ausgrenzend“, als ethisch falsch angesehen. Ohne das Wort „Moral“ zu verwenden, geht es im Grunde um nichts anderes: Christen verhalten sich scheinbar moralisch falsch, weil sie die Liebe zweier Menschen nicht zulassen.
Was würde es in diesem gesellschaftlichen Umfeld heißen, sich so zu verhalten, dass wir dem Umfeld keinen unnötigen Anstoß geben?
„Was würde es in diesem gesellschaftlichen Umfeld heißen, sich so zu verhalten, dass wir dem Umfeld keinen unnötigen Anstoß geben?“
1. Kor. 6, 12: „, sagt ihr. Das mag stimmen, aber es ist nicht alles gut für euch. Mir ist alles erlaubt, aber ich will mich nicht von irgendetwas beherrschen lassen.“
1. Kor. 10, 23: „Ihr lebt nach dem Grundsatz: Ich antworte darauf: Aber nicht alles, was erlaubt ist, ist auch gut. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut die Gemeinde auf.“
1. Kor. 10, 32: „Seid für niemanden ein Hindernis zum Glauben, weder für die Juden noch für die Nichtjuden und auch nicht für die Mitchristen in der Gemeinde.“
Das ist eine schwierige Gratwanderung. Ich habe auch kein Patentrezept zur Hand. Sind wir ein Hindernis zum Glauben, weil wir z.B. das Ausleben der Homosexualität nicht richtig finden? Sind wir ein Hindernis zum Glauben, weil wir z.B. das hemmungslose Bereichern auf Kosten anderer oder die „Erst komm ich“-Mentalität nicht richtig finden?
Hmm, seltsam, dass die Bibelstellen hier immer mal wieder zerhackt werden (ich kopiere immer direkt von bibleserver.de). Text in spitzen Klammern (auch wenn kein html-Befehl) scheint immer ignoriert zu werden… Hier noch mal, jetzt hoffentlich korrekt:
1. Kor. 6, 12: „“Es ist alles erlaubt“, sagt ihr. Das mag stimmen, aber es ist nicht alles gut für euch. Mir ist alles erlaubt, aber ich will mich nicht von irgendetwas beherrschen lassen.“
1. Kor. 10, 23: „Ihr lebt nach dem Grundsatz:5 „Alles ist erlaubt!“ Ich antworte darauf: Aber nicht alles, was erlaubt ist, ist auch gut. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut die Gemeinde auf.“