Die Macht der Gewaltlosigkeit (3)

Die letzten Tage haben gezeigt, dass der Krieg in der Ukraine wohl als Genozid eingestuft werden muss. Nach den Erfahrungen in den „Volksrepubliken“ auf dem Gebiet der Ostukraine seit 2014, den Verschleppungen, Foltergefängnissen und Ermordungen dort, hatten viele schon zu Kriegsbeginn darauf hingewiesen, dass das Grauen mit einer Kapitulation vor den russischen Angreifern keineswegs beendet wäre. Diese Einschätzung hat sich nun bestätigt. Sie entspricht der Kriegsrhetorik aus Moskau.

Gewaltfreier Widerstand geht davon aus, dass beim Gegner ein Rest Integrität, Moral, Menschlichkeit, Scham oder Empathie vorhanden ist, an den man mit Worten und Gesten erfolgreich appellieren kann. Was aber, wenn der Wille zur weitgehenden oder gar vollständigen Vernichtung eines ganzen Volkes so groß ist, dass alle Hemmungen fallen? Wenn die Gegner des russischen Großmachtanspruchs pauschal als „Nazis“ bezeichnet werden, dann kann das nur heißen, dass ihre Auslöschung kein Grund zur Trauer ist.

Mit der Frage der Betrauerbarkeit sind wir wieder bei Judith Butler. Der letzte Post ist schon eine Weile her, jetzt komme ich zum zweiten Kapitel, in dem sie fragt, was uns dazu bringt, das Leben anderer zu bewahren. Das bringt uns einerseits zurück zur Einsicht, dass Menschsein immer schon Beziehung zu und Abhängigkeit von anderen voraussetzt, und zur biopolitischen Frage, wessen Leben zählt und vor Zerstörung bewahrt werden soll. Trauer bedeutet, dass wir einen Verlust empfinden, und das verleiht dem, was verloren ist oder gehen könnte, einen Wert. Das lässt sich auch auf nichtmenschliches Leben ausweiten.

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Projektion und Paranoia

Ethische Reflexion, ob sie nun Kants kategorischem Imperativ oder konsequentialistischer Logik folgt, beruht auf Gedankenexperimenten, die in eine Art Verfolgungswahn führen können:

in beiden moralischen Experimenten stellen wir uns das eigene Handeln als das des anderen vor, als potenziell destruktiven Akt, der umgekehrt oder erwidert wird. Diese Vorstellung ist schwierig und verstörend, sie entzieht mir gleichsam mein eigenes Handeln. (S. 103)

Über die eigene Gewaltneigung als Handeln anderer zu phantasieren ist nicht immer eine hilfreiche Sache. Wir haben die eigene Vorstellungwelt nicht vollständig im Griff. Ich könnte auch zu der Überzeugung gelangen, dass ich dem Übergriff anderer zuvorkommen muss, und darüber völlig vergessen, dass es ja mein eigener destruktiver Impuls ist, der mir in fremder Gestalt begegnet. Butler zitiert dazu Sigmund Freud aus „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ von 1915 zum Dilemma von Todestrieb, Destruktivität und Moral:

Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im Blute lag.

Während Freud skeptisch fragt, was (wenn überhaupt) uns davon abhält, anderen Gewalt anzutun (und ob der Versuch nicht zur seelischen Selbstzerfleischung führt), ist auch die umgekehrte, positiv formulierte Frage in der Psychoanalyse verhandelt worden. Zum Beispiel von Melanie Klein (1882-1960), der sich Butler nun zuwendet. Klein setzt sich mit Freuds Ansatz kritisch auseinander. Sie beschreibt Sympathie als Identifikation mit einer anderen Person. Das Glück anderer zu wollen kann zu Opfer und Verzicht führen. Aber ich habe auch Anteil an der Zufriedenheit des anderen, das entschädigt für den Verlust in gewisser Weise.

Fürsorge und Wiedergutmachung

Rollentausch und Stellvertretung (Butler spricht auch von Substitution in der moralischen Reflexion) können bei Klein auch den Charakter der Wiedergutmachung annehmen. Klein geht davon aus, dass in uns ständig eine Interakton von Liebe und Hass abläuft. Aus den Enttäuschungen und Verletzungen der Vergangenheit bleibt ein Groll auf die Eltern, der wiederum zu Schuldgefühlen führen kann, weil das Kind die Eltern ja auch liebt und Angst hat, sie zu verlieren. Verluste, Zorn und Schuld werden dadurch bearbeitet, dass ich anderen gegenüber die Rolle des fürsorglichen Elternteils einnehme. Butler sieht in Kleins Überlegungen die psychoanalytische Grundlage für eine Theorie der sozialen Bindung. Das soziale Band macht das Leben von Eltern und Kindern erst möglich. Butler folgert: „Das »Ich« lebt so in einer Welt, in der sich Abhängigkeit nur durch Selbstauslöschung überwinden lässt.“

Nicht erst der moralisch reflektierende Erwachsene, sondern schon jedes kleine Kind ist in der Lage, sich an die Stelle eines anderen zu setzen und umgekehrt. Abhängigkeit, Verluste, Entbehrungen, aber auch Liebe und Fürsorge gehören in dieses Verhältnis immer schon hinein:

"Ich liebe dich, aber du bist schon ich und trägst die Last meiner beschädigten Vergangenheit, meiner Entbehrung und meiner Destruktivität. Und ich bin ohne Zweifel dasselbe für dich und trage die Last der Strafe für das, was du nie bekommen hast. Wir sind füreinander immer schon mangelhafte Substitute für unabänderliche Vergangenheiten; keine von uns kann je wirklich das Verlangen überwinden, wiedergutzumachen, was nicht wiedergutzumachen ist. Und dennoch - hier sind wir, und hoffentlich trinken wir ein gutes Glas Wein zusammen." (S. 125)

Der letzte Satz ist die nahtlose Überleitung zum Gründonnerstag: Wein, Wunden und ein „Substitut“, das einerseits mangelhaft erscheint in seiner Schwäche und Verwundbarkeit, aus dem andererseits aber schon eine Hoffnung auf eine Wiedergutmachung spricht, die über eine bloße Kompensation und Reparatur hinausgeht. Zuvor beginnt morgen die Karwoche. Die Nachrichten aus den Kriegsgebieten werden so schnell nicht abreißen.

Bindung, Bruderkrieg und Bewältigung von Schuld

Butler schrieb in diesem Kapitel davon, dass der Wunsch, das Leben des anderen zu bewahren weniger aus dem hypothetischen Rollentausch kantischer oder konsequentialistischer Ethik folgt und auch nicht der Unterdrückung des Todestriebs durch die Strafandrohung des Über-Ichs zu verdanken ist. Noch vor aller Reflexion und vor allem Druck durch Moral und Gewissen ist da ein Bewusstsein vorhanden, dass mich meine Bedürftigkeit an den anderen bindet. Und dass ich aus dieser Bindung, unter der ich immer wieder auch leide, nur ausbrechen kann, indem ich mich selbst zerstöre.

Aggression und Todeswünsche sind wie Liebe und Fürsorge ein Grundbestandteil menschlicher Bindungen. Insofern ist ein „Bruderkrieg“ gar nicht so unwahrscheinlich, auch wenn wir uns das ungern ausmalen. Vielleicht sollten wir es uns auch gar nicht zu sehr ausmalen, weil sich der mehr oder weniger friedliche Bruder im Verlauf dieser Projektionen in einen gefährlichen Feind verwandelt, und weil diese vermeintliche Gefahr (die nur das Spiegelbild der eigenen Aggression ist) dann die Tür zu feindseligen Handlungen öffnet.

Die vorauslaufende Täter-Opfer-Umkehr der russischen Propaganda ist freilich unzureichend charakterisiert, wenn wir sie als aus dem Ruder gelaufenes ethisches Gedankenexperiment lesen. Sie ist wohl eher das Resultat einer gewaltigen und lange andauernden Verdrängung von Schuld, wie Olga Romanowa diese Woche in der Zeit schrieb:

"… der russische Staat und die russische Regierung haben sich nie bei ihren Bürgerinnen und Bürgern entschuldigt, und sie hatten nie die Absicht, die Verbrechen der vor ihnen Herrschenden zu verurteilen. Die grausamsten unter ihnen – Iwan der Schreckliche, Peter der Große, Josef Stalin – gelten jetzt als Sammler der "russischen Erde" und als Vorbilder. Sie hatten niemals Erbarmen für ihre Mitbürger, ganz zu schweigen von den Bürgerinnen anderer Länder. Im 21. Jahrhundert braucht es das aber. Ob Russland das will oder nicht – klar ist, dass wir alle den Preis für die Verbrechen des Putin-Regimes zahlen werden müssen."

Dass Militär, aber auch Polizei und Justiz ungestraft Menschen schikanieren und töten, ist auch für Russland selbst eine Gefahr. Was ist also nötig, um einen anderen Umgang mit Schuld, Macht und Verantwortung zu bewirken? Und auf welche Zeiträume müssen wir uns dabei einstellen?

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Fruchtbare Kränkung

Kleiner akustischer „Nachklapp“ vom vergangenen Wochenende. Im Gottesdienst haben wir den Evangelientext vom Weinstock und den Reben gelesen. Da steckt ja eine gewisse Kränkung oder Zumutung für uns Moderne drin, die sich gern als autonome Individuen begreifen.

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Ich habe mal versucht, das mit Judith Butlers Überlegungen aus ihrem neuen Buch über die Macht der Gewaltlosigkeit ins Gespräch zu bringen. Sie zeigt: Wenn wir an unsere Abhängigkeit von anderen erinnert werden, kann das ganz schön aggressiv machen. Im Verlauf der Pandemie haben wir das – die Abhängigkeit, das Ausgeliefertsein – alle gespürt, und vielleicht erklärt das auch manch aggressives Verhalten einzelner oder ganzer Gruppen. Da würde mich Eure Einschätzung interessieren.

Der Umgang mit dieser Zumutung aber auch fruchtbar verlaufen. Für mich selbst und für andere auch. Darum geht es eigentlich. Das könnte dann auch ein positiver Ertrag sein für das Leben in einer postpandemischen Welt.

Hier ist der Mitschnitt:

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