Rituale – tragende Gewohnheiten

Es ist schon erstaunlich, was einem so alles auffällt, wenn man die richtige Brille aufsetzt. Ich habe an einer Predigt über Rituale gearbeitet. Tony Campolo hat mal gesagt, wenn man etwas über die Kraft von Ritualen lernen will, muss man den Islam studieren. Oder als Protestant die katholische Kirche. Rituale sind das letzte, was noch funktioniert (und, wenn es die richtigen sind, Menschen mit Gott verbindet) wenn aufgrund von Alter oder Krankheit die Kräfte schwinden. Liederverse und Bibelstellen, die man jahrelang “aufgesagt” hat, tragen einen Menschen plötzlich durch.

Brian McLaren hat es so definiert: Ein Ritual ist etwas, das ich tue, ob ich mich danach fühle oder nicht, weil es mich an das bindet, wofür es steht. Oft ist das Zusammengehörigkeit: singende Fußballfans, die Nationalhymne oder eine Parade, der Spaziergang der Familie (einschließlich das dazu gehörige Murren der Kinder) am Sonntag nachmittag. Wahrscheinlich haben (und brauchen) alle Gruppen ihre Rituale.

Es gibt auch bizarre Rituale der Konsumgesellschaft, man muss nur mal auf den Begriff “Kult” achten: Das Studieren des neuen Ikea-Katalogs oder der Flyer bestimmter Discounter inklusive dem Anstehen montags und donnerstags zur Öffnung – ein wahrhaft demokratischer Akt der Gleichheit quer durch alle Einkommensschichten. Er eint die Nation der Verbraucher für ein paar Minuten. Danach bricht der (ebenfalls rituelle) Wettbewerb aus, wer als erstes den Wagen voll und die Kasse hinter sich hat. Auch das gehört zur Konsumgesellschaft: jeder kann ein Gewinner sein, wenn er sich nur durchsetzt.

Nationen mit weniger Geschichte pflegen ihre Rituale oft mit um so mehr Inbrunst – man muss nur mal Amerikaner und Deutsche vergleichen. Unter Christen ist es ähnlich, nur dass die neueren Rituale oft gar nicht erkannt oder bewusst gemacht werden. Aber wenn man einmal “freie” Gebete (etwa bei Tisch) vergleicht, stellt man auch einen hohen Anteil an Formelsprache fest. Das ist nur dann schlimm, wenn man irrtümlich davon ausgeht, nur das Spontane sei authentisch und gut (und umgekehrt traditionelle Rituale als “religiös”, zwanghaft oder “ungeistlich” einstuft. Nicht, dass das irgendwer hier jemand täte, aber wir kennen alle Menschen, die…).

Gehört Rauchen (die “Zigarette danach”) und Schokolade futtern gegen Frust auch zu den Ritualen, oder sind das einfach nur mehr oder weniger problematische Gewohnheiten? Die Frage an uns heute ist, welche alten Rituale wir wieder in unser Leben integrieren und welche neuen wir schaffen können. Rituale wirken von außen nach innen, sie haben die Kraft, unser geistliches Leben und unsere Persönlichkeit zu formen. Da ist es gut, wenn wir sie unter die Lupe nehmen, auf ihren SInn abklopfen und wenn nötig ändern oder ergänzen. Mich würde interessieren, was Ihr für Erfahrungen dabei gemacht habt und welche Gedankenanstöße Ihr weitergeben könnt.

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2 Antworten auf „Rituale – tragende Gewohnheiten“

  1. Gal. 5, 25: „Wenn wir durch den Geist leben, so laßt uns durch den Geist wandeln!“
    Mir fiel Galater ein beim Lesen von „Rituale“ ein und ich hab mich gefragt, braucht der Geist Rituale? Ich denke, Gott „ge-braucht“ sicherlich Rituale, um Menschen da zu begegnen, wo sie halt grad stehen. Müssen wir uns für unser christliches Leben Rituale schaffen? Meiner Meinung nach liegt dieser Auffassung die Annahme zugrunde, Gott wär irgendwo da draußen und wir müßten uns Verbindungen schaffen, die uns im Fall des Falles durchtragen (Alter, Krankheit, etc.). Wenn man die Kulturen betrachtet haben Rituale aber vor allem den Zweck, eine Zusammengehörigkeit über den Verstand hinaus in den Mitgliedern der entsprechenden Gruppe zu generieren (Kirchen, Nationen, Stämme, etc.), die zugrunde liegende „Wahrheit“ kann dabei verloren gehen, ohne daß diese Primärfunktion leiden muß. So haben z.B. die Nubischen Stämme in Oberägypten eine Art Taufritual, das sicherlich aus der christlichen Zeit Ägyptens vor dem Islam stammt, heutzutage gibt ihnen dieses auch als Moslems ein Gefühl der kulturellen Zusammengehörigkeit, auch ohne den Ursinn davon noch zu erfassen.
    Wenn wir also wirklich glauben, daß der Heilige Geist IN uns wohnt, brauchen wir solche Verbindungen zu einem Gott da draußen? Ich denke, christliche Rituale können höchstens ein Durchgangsstadium auf dem Weg eines Christen zu immer mehr Leben im Geist sein, da sie über die Generationen in der Gefahr stehen, inhaltsleer zu werden in der oben beschriebenen Weise.
    Sachen wie Schoki futtern halte ich nicht für Rituale, sondern für Kompensationsstrategien der frustrierten Persönlichkeit, genau dahin gehören auch die Entgleisungen der Konsumindustrie, die bewußt darauf abzielen.

  2. Also ich glaube nicht, dass wir je über Rituale hinaus sein werden und dass Geist und Ritual kein Widerspruch sind, nur weil Rituale inhaltsleer werden können. Alle guten menschlichen Beziehungen leben nicht nur aus dem Spontanen, sondern sie schaffen und pflegen Rituale. Warum sollte es mit Gott anders sein? Sinnlose Rituale sind nur die, die wir nicht bewusst pflegen. Dann werden sie starr und museal.

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