Heute hat ELIA 30. Geburtstag gefeiert. 25 Jahre davon habe ich miterlebt und mitgewirkt. Vor 30 Jahren hat diese Gründung ordentlich Staub aufgewirbelt und es ist wohltuend zu sehen, wie viele Hoffnungen sich erfüllt haben und wie viele Befürchtungen nicht. Wir haben heute einen fröhlichen Gottesdienst mit vielen wunderbaren Menschen genossen. Ich habe einen kurzen Beitrag dazu verfasst. Ein Brief an ELIA, inspiriert von Bruno Latours Brief an sein jüngstes Enkelkind. Vielleicht interessiert er auch ein paar, die nicht dabei waren:
Liebe ELIA,
als Du auf die Welt kamst, war ich fast so alt, wie Du jetzt bist, und gerade junger Vater. Seit ein paar Wochen bin ich nun Vater eines jungen Vaters. Eine ganze Generation liegt zwischen damals und heute.
Über Generationen wird gerade fast schon inflationär geschrieben. Alle paar Jahre (nicht etwa Jahrzehnte…) erfinden Medienschaffende und Marketingabteilungen wieder eine neue. Lassen wir das also beiseite.
Ich erspare dir auch nostalgisch-rührselige Geschichten darüber, wie süß Du warst, als Du noch klein warst. Davon kriegen meine Kinder schon genug ab.
Aber vielleicht können wir ein bisschen drüber reden, was nach dem 30. auf dich zukommt. Davon habe ich inzwischen ein bisschen Ahnung.
Reden wir also übers Älterwerden. Am Montag war ich im Seniorenheim. Auf einer Bank saßen ein paar Bewohnerinnen, und als ich vorbeiging, fragte eine die anderen halblaut, wer „der junge Mann“ denn sei. Alter ist relativ. In den nächsten Jahren wirst Du merken, dass das mit der Selbstbeschreibung „jung“ nicht mehr so einfach ist. Ich wünsche Dir, dass es dir gelingt, nicht jugendlicher sein zu wollen, als du bist. Dann wird es auch leichter auszuhalten sein, dass andere frischer, hipper und cooler sind als du selbst. Und wenn Du Dich zwischendurch trotzdem mal richtig jung fühlen willst, mach’ einfach mal einen Besuch im Altersheim.
Die gute Nachricht lautet: Künftig rückt sowas wie „Weisheit“ in greifbare Nähe. Die Schwaben sagen ja: „Mit 40 wird man gescheit“. Ungeduld und Übermut lassen sich besser zügeln, und Illusionen sind zwar noch möglich, aber es wird immer anstrengender, sie aufrechtzuerhalten.
Vor ein paar Tagen habe ich einen Brief des Philosophen Bruno Latour an seinen jüngsten Enkel Lilo gehört. Er sagt, die nächsten 20 Jahre werden höchstwahrscheinlich sehr schwer. Die Krisen werden sich verschärfen und die Versäumnisse früherer Generationen (vor allem beim Klimaschutz) werden sich bitter rächen. Aber dann, in 20 Jahren, könnte sich die Zivilisationskrise vielleicht doch lösen lassen. In der Zwischenzeit ist es ganz wichtig, dass sie Mittel und Wege kennt, sich selbst und andere zu heilen.
Mich hat das ins Nachdenken gebracht: Früher, als viele von uns noch dachten, die Welt wird quasi automatisch immer besser, ging es mal darum, progressiv zu sein. Setz dich an die Spitze der Bewegung, sei Schrittmacher und Motor. Wo es hingeht, war klar: Fortschritt wird von Forschung und Technik angetrieben, Wissen und Innovation nehmen stetig weiter zu, das Leben wird besser und die Menschen glücklicher. Das glauben heute nur noch die paar Prozent im Lande, die FDP wählen.
Seit ein paar Jahren bröckelt dieses Bild. Technischer Fortschritt findet immer noch statt, aber plötzlich sind es Viren und Waldbrände, Fluten und Hitzewellen, die uns in Atem halten (oder ihn uns nehmen). Plötzlich nehmen sich die Autokraten der Welt wieder ein Vorbild an Stalin, Hitler, Mussolini und Mao. Die Geister einer längst überwunden geglaubten Vergangenheit sind zurück. Und wir sind unvorbereitet, die Regierung arbeitet vielfach im Panikmodus – und die Opposition erst recht.
Was gestern noch „progressiv“ war, ist morgen schon obsolet. Es gibt keine klare Richtung mehr, kein Vorne und Hinten, die Schläge treffen uns aus dem toten Winkel, von rechts und links, oben und unten.
Ich glaube, Jesus war nicht progressiv, sondern prophetisch. Wie die großen Propheten vor ihm sieht er die Welt in einem Zustand der Disruption, der Erschütterung, voller Brüche und Risse. Und wie sie stellt er sich auf die Seite derer, die bereits unter diesen Erschütterungen leiden. Denen gehört das Reich Gottes.
Er warnt die Sorglosen und Selbstzufriedenen, dass es auch sie treffen wird. Er unterbricht die Gleichgültigkeit der Mehrheit mit seiner Forderung nach einer besseren Gerechtigkeit und konfrontiert sie mit den Folgen ihrer destruktiven Lebensweise. Er klagt, er weint, er droht, er rüttelt auf. Und ja, manchmal heilt und tröstet er dann auch.
Wenn ich Gott also irgendwo „vorne“ und auf kontinuierlichen Linien suche, könnte das künftig schwer werden. Die gute Nachricht ist: In den Brüchen und bei denen, die nicht mehr sagen können, was morgen kommt und wo vorne und hinten ist, wird es reichlich Gelegenheit geben, ihm zu begegnen.
Und wenn wir uns dann in 30 Jahren wiedersehen (und ich dann noch da bin), können wir einander davon erzählen.