Leichtgläubige Skepsis

Gegenüber im Zug sitzt ein freundlicher älterer Herr, der mir auf der Fahrt seine lange Krankheitsgeschichte und Berufsbiografie erzählt, um dann zu fragen, was ich eigentlich so mache. Pfarrer, sage ich. Er sei schon vor langer Zeit ausgetreten, erklärt er daraufhin, freilich aus der katholischen Kirche. Die evangelische scheint ihm etwas sympathischer zu sein, sie hat halt keinen Papst.

Aber nicht sympathisch genug, um dort einzutreten. Die Bibel sei ja erst im vierten Jahrhundert geschrieben worden, erklärt er mir dann, auf Geheiß von Kaiser Konstantin und für das leichtgläubige Kirchenvolk. Hingegen sei die Wahrheit über Jesus und die ersten Christen, die sich in den viel älteren und daher authentischeren Schriften aus Qumran findet, ja vom Papst unterdrückt worden. Jesus sei mit Maria Magdalena verheiratet gewesen, und das dürfe ja nicht sein, daher wurde es vertuscht, wie vieles andere.

Ich höre eine Weile zu und sage dann: „Für einen Skeptiker glauben Sie ja doch eine ganze Menge. Soweit ich weiß, ist in den Texten von Qumran von einem verheirateten Jesus nicht die Rede?“ Er ist sich aber ganz sicher. Also relativ sicher, meint er schließlich. Aber jeder könne sich auch mal täuschen. Ich bin nicht sicher, wen von uns beiden er jetzt gerade meint, aber dann hält der Zug und unsere Wege trennen sich.

Und ich denke mir: In gewisser Weise haben wir es immer mit Hörensagen zu tun, wenn wir davon reden, dass sich Gott in menschlicher Geschichte offenbart. Aber es ist doch ein Unterschied, ob man etwas glaubt, was irgendwo im Internet oder bei irgendeinem Bestsellerautor steht – oder sich auf Traditionen bezieht, die sich seit Generationen immer wieder in Frage stellen lassen und sich ihrer Grundlagen immer wieder kritsch vergewissern, ohne damit je aufzuhören.

So einen unerschütterlichen Glauben, wie der freundliche Mitreisende hatte, bringe ich jedenfalls nicht auf.

(Foto: Tanner Mardis auf Unsplash)

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Das UFO im Garten

Die Nacht nach dem Palmsonntag war klar und kalt, und als ich vom Frühstückstisch in den Garten schaue, sehe ich ein seltsames Objekt etwa einen Meter über dem Boden schweben. 

Das UFO entpuppt sich als die Krone unseres Zwetschgenbäumchens. Meine Frau hat es am Vorabend noch verpackt gegen die Kälte. Die Obstbaumblüte hat dieses Jahr wieder recht früh begonnen. Die Zwetschge strahlt seither weiß im Sonnenlicht und wird von Bienen eifrig umsummt. Wir freuen uns an dem Anblick, aber wir machen uns auch ein bisschen Sorgen: Eine einzige klare, kalte Nacht könnte der Blütenpracht ein jähes Ende bereiten. 

Obstbauern zünden in solchen Nächten kleine Feuer unter ihren Kirsch- oder Apfelbäumen an, habe ich beim Fernsehen erfahren. Das ist verständlich, aber irgendwie auch absurd. Denn die Tatsache, dass alles eher blüht und deshalb öfter Nachtfrost abkriegt, ist ja die Folge davon, dass wir so viel verheizen: Öl, Gas, Benzin, Kohle oder auch Holz.

Schon komisch, was wir alles machen, und was gar nicht (oder viel seltener) nötig wäre, wenn wir es alle zusammen gleich richtig gemacht hätten…

Inzwischen ist die Zwetschge ohne Frostschaden verblüht. Der Apfelbaum hat sich erst zwei Wochen später herausgetraut, bei über 20 Grad und Saharastaub. Vielleicht lernen die jungen Bäume ja schneller, als ich dachte.

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Warum Minderheiten so wichtig sind für die Demokratie

Die Staatsregierung hat ihren Beamten kürzlich das Gendern verboten. Ein Bekannter, der gern über vermeintliche „Verbotsparteien“ herzieht, findet dieses Verbot super. Die Mehrheit sei schließlich „gegen den Schmarrn“, und wir seien doch in einer Demokratie. 

Gut, sage ich, aber zur Demokratie gehört halt auch, dass Minderheiten geschützt werden und sichtbar bleiben, auch in der Sprache. Und er antwortet: „Ich bin ja sehr dafür, Minderheiten zu schützen, aaaber: Nur weil jemand anders fühlt oder sich irgendwie identifiziert, ist er keine Minderheit.“

Und damit sind wir beim Kern des Problems. Es passiert eben ganz schnell, dass die Mehrheit bestimmt, wer als legitime Minderheit gilt und wer nicht. Und damit – reichlich gönnerhaft – festlegt, wen man ein bisschen schützt und wer gemobbt werden darf.

Demokratie heißt aber, dass die Mehrheit Störungen und Befremdliches akzeptiert. Nicht weil es angenehm ist, sondern weil die Mehrheit weiß, dass sie nicht immer Recht hat. Wenn wir diese Spannung aushalten, könnte es uns alle weiterbringen.

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Privilegien: Der Zankapfel unserer Zeit

Selten hatte ich das Gefühl, dass ein Perikopentext besser in die Zeit passt, als gestern am Palmsonntag. Wir sind ja ständig dabei, Privilegien auszuhandeln. Aber seit ein paar Jahren erleben wir ein besonders zähes, immer verbisseneres Ringen: Die einen möchten ihre Privilegien zementieren, die anderen reduzieren. Mit gravierenden Folgen für die Demokratie und den gesamten Planeten.

Was das Ganze mit Jesus zu tun hat und auf welche Spur es seine Nachfolger*innen in den gegenwärtigen Kulturkämpfen setzt, dazu habe ich mir gestern ein paar Gedanken gemacht. Hier könnt Ihr sie anhören.

(Und wer es gern noch vertiefen möchte: Das neue Buch von Daniel Mullis über den aufstieg der Rechten und die Regression der Mitte ist sehr informativ und gut zu lesen)

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Nachfolge in Zeiten des Zorns

Letztes Jahr im Oktober: Ich sitze in der Regionalbahn und höre, wie jemand ganz am anderen Ende des Waggons laut sagt: Der Habeck gehört erschossen! Ich will ja eigentlich ein Buch lesen, aber die weibliche Stimme kann ich nicht ausblenden, sie klingt wie eine Bekannte (die so etwas freilich nie niemals sagen würde).

Die unbekannt-bekannte Stimme im Zug monologisiert lautstark weiter, neue Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr. Keiner ihrer Gesprächsparter (es sind wohl mehrere) widerspricht. Sind die denn alle einverstanden, gewählte Politiker, die man nicht mag und deren einziges „Verbrechen“ es ist, andere Positionen zu vertreten als man selbst, mit Gewalt zu beseitigen? Die junge Frau hält sich ganz offenkundig für eine von den Guten. Und je länger sie sich im Recht fühlt, desto mehr Hass auf andere genehmigt sie sich.

Selbstgerechtigkeit ist ein starkes Gefühl. Sie verleitet mich dazu, Gott zu spielen. Als ich aussteige, fällt mir eine Szene aus der Bibel ein: Da wird Jesus „guter Meister“ genannt und er weist das sofort zurück: „Gott allein ist gut“, sagt er. Jesus weiß genau, wie brutal und übergriffig selbstgerechte Menschen sein können. Er hat es am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Ich bin nicht Gott. Ich bin auch nicht immer gut. Und genau deshalb kann ich mit mir und anderen Geduld haben. Sie stehen lassen mit ihren manchmal wunderlichen oder nervigen Ansichten. Fair und friedlich bleiben, statt auf Rache und Vernichtung zu sinnen. So wird zwar nicht alles, aber manches wieder ein bisschen besser. 

Aber den Hass und die mörderische Sprache kann man nicht stehen lassen. Nick Cave sagt in „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“:

"Ich habe das Gefühl, … dass es da draußen unermessllichen Zorn gibt, der irgendwie zum Leben erwackt wurde und sich nun gegenseitig entfacht. … Es fühlt sich die ganze Zeit an, als wären wir kurz vor einer Explosion."

In den letzten Wochen haben viele Menschen, auch viele Christen, ein deutliches Zeichen gesetzt, indem sie auf die Straßen gegangen sind. Gegen Akteure und Bewegungen, die offenbar Gott spielen wollen, indem sie anderen ihrer Grundrechte berauben.

Aber es ist nicht nur das, was mich an die Bahnfahrt vom Herbst erinnert. Im Oktober fühlte sich das Bahn-Erlebnis noch wie ein grotesker Ausreißer an, aber aus dem dumpfen Krakeelen ist inzwischen handfeste Gewalt geworden – eben vor allem gegen grüne Politiker:innen. Die Polizei ist erstaunlich zurückhaltend angesichts dieser Übergriffe. Man könnte fast meinen, sie wendet ihre Schmerzgriffe vor allem da an, wo die Protestierenden unbewaffnet, friedlich und verletzlich daherkommen. Und konservative Politiker kommentieren den Bruch demokratischer Spielregeln immer noch mit einem hämischen „selber schuld“. In den Unionsparteien und bei den Freien Wählern haben einige offenbar ein recht opportunistisches Verhältnis zur Gewalt in der politischen Auseinandersetzung. Sabine am Orde schrieb dazu kürzlich:

Noch viel schlimmer aber ist, dass diese entweder nicht begreifen, wie ernst die Lage ist – oder bereit sind, dies parteipolitischem Kalkül zu opfern. Die Attacken richten sich ja nicht nur gegen die Grünen, sondern ­gegen die Demokratie. Und damit auch gegen sie.

Wir müssen uns wohl darauf einstellen, dass es ein langes, zähes Ringen darum geben wird, welchen Weg unser Land einschlägt. Die katholischen Bischöfe haben sich schon erfreulich klar positioniert – gegen einen Populismus, der „stereotypen Ressentiments freie Bahn verschafft – gegen Geflüchtete und Migranten, gegen Muslime, gegen die vermeintliche Verschwörung der sogenannten globalen Eliten, immer stärker auch wieder gegen Jüdinnen und Juden“.

Die Bischöfe wissen es, und wir wissen es im Grunde ja auch: Nur wenn wir nicht der Versuchung erliegen, Gott zu spielen (vor allem nicht den zornigen Gott), gelingt es uns auch, menschlich mit uns selbst und anderen umzugehen. Die Passionszeit ist ein guter Anlass, darüber nachzudenken.

Wutfasten sollte freilich nicht auf ein paar Wochen im Jahr beschränkt sein.

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Winter, Wald und Wunden

Ein stiller Moment im winterlichen Wald. Ich stehe neben einem kleinen Wasserlauf, der fast unmerklich vor sich hin tröpfelt. Als ich mich umdrehe, sehe ich am Stamm einer schlanken Rotbuche Spuren eines Sonnenbrandes. Benachbarte Bäume sind umgefallen oder geschlagen worden, das Kronendach hat dadurch ein Loch bekommen und der Stamm hat die Hitze der Sommersonne nicht gut verkraftet. Die RInde ist aufgeplatzt und hat um die offene Stelle eine dicke Wulst gebildet.

Ich lege meine Hand ein paar Augenblicke in die vernarbte Wunde. Mein Blick wandert umher. Der Schnee verbirgt etliche Baumstümpfe und die vielen am Boden liegenden Äste und Zweige. Aber es ist immer noch deutlich, dass da ein verwundeter Baum in einem verwundeten Wald steht.

Ich habe aus zwei Ästen ein Kreuz auf dem Waldboden gelegt. Das erscheint mir ein passender Ort, um an einen verwundeten Gott zu erinnern. Einer, von dem es rätselhafterweise heißt, dass wir in seinen Wunden Heilung finden. Wie sie wohl aussehen wird? Wie lange wir noch auf sie warten müssen? Was noch alles verwundet oder zerstört wird, bis es so weit ist?

Aber die Buche steht noch, und für eine Weile stehen wir hier zusammen. Eine tröstliche Weile.

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Wir Frösche im Kochtopf

Diese Woche kam die offizielle Bestätigung: Das vergangene Jahr war weltweit das heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen und nach allem, was wir wissen, das wärmste seit 125.000 Jahren.

Weil es im Sommer öfter geregnet hat als in den vorausgehenden Dürrejahren, haben viele Leute hier das gar nicht zur Kenntnis genommen. Gefühlte und gemessene Temperaturen –davon könnte der Frosch ein Lied singen, wenn er den Kochtopf denn überlebte – sind zwei Paar Stiefel.

Der Frosch im sich allmählich erhitzenden Kochtopf merkt nämlich nicht, dass er in Gefahr ist. Würde er direkt vom kalten ins heiße Wasser geworfen, wäre das anders. Der Temperaturschock würde eine schnelle, heftige Reaktion hervorrufen. Und in dieser Hinsicht, dass wir langsame, schleichende Veränderungen nicht als Gefahr wahrnehmen, sind wir Menschen leider eher wie Frösche. Deshalb ist es auch so wichtig, auf die Messwerte zu schauen. Und sie ernst zu nehmen.

Ich habe die Messwerte des letzten Jahres für Nürnberg hier mal in der Übersicht. Mit Ausnahme des – nur gefühlt eisigen – April liegen alle weit über dem Mittel der 30 Jahre vor 1990. Doch selbst der April ist nur Durchschnitt, also eigentlich doch nicht kalt gewesen.

Quelle: wetterkontor.de

Neun von zwölf Monaten waren mindestens zwei Grad wärmer. Da kann man nicht mehr von Einzelfällen, Anomalien und Ausreißern sprechen. Bei drei Grad Erwärmung wären mindestens 20% mehr Regen nötig, um den ansteigenden „Dampfhunger“ der Atmosphäre auszugleichen. Das haben wir in Nürnberg gerade mal so erreicht, aber es war eben nicht genug, um die niedrigen Grundwasserstände in der Region wieder aufzufüllen. Und weil ein Teil dieser Niederschläge als Starkregen fiel, floss das Wasser ab, bevor es in den Bödern verscikern konnte.

Auch in anderer Hinsicht sind Zahlen aufschlussreich: Naturkatastrophen haben im vergangenen Jahr Schäden in Höhe vom 250 Milliarden Dollar verursacht. Fast ein Drittel davon waren Gewitterschäden. Die fielen in Europa und Nordamerika heftiger aus als je zuvor. Für die globale Situation gibt es diese gelungene Kurzübersicht bei Zeit Online.

Unsere Parteien streiten derzeit über die Schuldenbremse im Staatshaushalt. Die Verengung auf das Monetäre ist in dieser Form verantwortungslos, verrückt und kurzsichtig, weil wir täglich weiter Klimaschulden auftürmen, die uns in Form von immens kostspieligen Klimafolgen viel teurer zu stehen kommen als alle Kredite und Anleihen, die zum ökologischen Umbau der Wirtschaft und Gesellschaft nötig wären. Geldschulden kann man zurückzahlen, aber wenn die Kippunkte unserer Ökosysteme erreicht sind (und etliche sind bereits überschritten), wird diese Schuldenspirale sehr schnell und vor allem unwiderruflich außer Kontrolle geraten.

Wenn Jesus in den Evangelien mit dem Kernsatz zitiert wird „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“, dann würde die Entsprechung angesichts der Risiken, die wir heute gemeinschaftlich entfesseln, jetzt lauten:

Es ist möglich, unsere destruktive Art zu leben und zu wirtschaften zu verändern. Aber dazu müssen wir bereit sein, umzudenken und uns einzugestehen, dass es so nicht weitergehen kann. Und wir müssen eine Haltung gegenüber Menschen und Mitgeschöpfen einüben, die nicht darauf aus ist, sie uns anzueignen und zu unterwerfen. Denn selbst wenn wir das nicht vorsätzlich tun, darauf läuft es derzeit hinaus. Und dass es nicht so bleiben darf, ist einfach nur fair und gerecht.

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Der Besuch der Märchenkönigin

Was wäre die Weihnachtszeit ohne Märchenköniginnen und Märchenkönige. Im familientauglichen Fernsehprogramm vertreiben sie uns die Zeit, wenn es draußen nasskalt ist und viel zu früh dunkel wird. Man kennt die Geschichten schon auswendig, und trotzdem – oder genau deshalb? – schauen wir sie immer wieder an. Ein liebgewonnenes Ritual – ganz besonders, wenn alle zusammen auf dem Sofa sitzen.  

Eine neue Variante dieses Festtagsbrauchs hat mich neulich amüsiert. Sie funktioniert so: Die Familie (oder der Freundeskreis) schaut alle drei Sissi-Filme hintereinander an. Jedesmal, wenn das Wort „Majestät“ fällt, erheben sich alle und rufen „lang lebe die Kaiserin“. Und stoßen miteinander an.

Früher war mehr Märchen

Während Sissi, Artus, oder Kleopatra eher um Weihnachten herum Konjunktur haben, ist hier in Bayern das ganze Jahr Märchensaison. Der Märchenkönig überhaupt, Ludwig II. von Bayern, Sissis Cousin, hat sich mit seinen Prachtbauten unauslöschlich in die bayerische Landschaft eingezeichnet. Millionen von Urlaubern bewundern seine Schlösser jedes Jahr. 

Ludwig II. hatte ja ein kompliziertes Verhältnis zur Wirklichkeit. In einer Zeit, in der die Monarchie ihre besten Tage längst hinter sich hatte, überließ er das Tagesgeschäft seinem Personal und strickte an seiner eigenen Legende. Bis ihm das Geld ausging. Denn nicht einmal Könige verfügen über grenzenlosen Reichtum. 

Das mit dem Mythos funktionierte dennoch glänzend: Bis heute ist kein bayerischer Regent, mag er noch so sehnsüchtig davon träumen und noch so viel Geld in den heimischen Sand setzen, auch nur annähernd so bekannt wie Ludwig. „Ein ewiges Rätsel bleiben will ich mir und anderen,“ hat er von sich gesagt. Das ist ihm gelungen wie kaum einem anderen. Sein Tod im Starnberger See unter mysteriösen Umständen hat diesen Mythos endgültig besiegelt.

Heute ist Epiphanias, im Volksmund auch „Dreikönigstag“. Mich erinnert das daran: Königssehnsucht und Königsfrust gibt es nach wie vor. Es gibt sie schon seit biblischen Zeiten. Auch die Bibel erzählt nämlich von einem Märchenkönig – dem König Salomo. Vielleicht lässt sich daraus etwas lernen. Vielleicht entdecke ich hier sogar einen Königsweg?

König Salomo war legendär für die Weisheit, mit der er einen verfahrenen Streit schlichtete, für Reichtum und Luxus, für Weltgewandtheit und – wer hätte das gedacht? – für seine großartigen Bauwerke. Allen voran der Tempel in Jerusalem, Tür an Tür mit dem Königspalast: Thron und Altar, Gott und Regent wie in einer großen Wohngemeinschaft. 

Pomp and Circumstance 

Hätte es das Goldene Blatt schon vor dreitausend Jahren gegeben, er wäre Dauergast auf der Titelseite gewesen. Aber auch die Schreiber am Königshof von Jerusalem sind großartige Geschichtenerzähler. Um ihren Monarchen ins rechte Licht zu rücken, lassen sie die Königin von Saba auftreten. Denn wer kann einen wahren Märchenkönig besser von einem Möchtegern unterscheiden als eine waschechte Märchenkönigin? 

Salomos Ruhm machte den Namen des Herrn bekannt. Die Königin von Saba hörte davon und kam, um Salomo mit Rätseln zu prüfen. Sie kam mit einem gewaltigen Gefolge nach Jerusalem: Kamele trugen Balsam, Gold und Edelstein in unvorstellbar großen Mengen. So kam sie zu Salomo und redete mit ihm über alles, was sie sich vorgenommen hatte. Und Salomo beantwortete alle ihre Fragen. Es gab nichts, was dem König verborgen war. Auf alles fand er eine Antwort. So erkannte die Königin von Saba seine ganze Weisheit. Auch der Palast, den Salomo gebaut hatte, beeindruckte die Königin von Saba. Dazu kamen noch die Speisen an seiner Tafel, die Rangordnung seiner Beamten, das vornehme Auftreten seiner Diener und ihre Kleidung, seine Trinkgefäße und seine Opfergaben, die er im Haus des Herrn darbrachte. Das alles sah sie, und es verschlug ihr den Atem. Da sagte sie zum König: »Es ist wirklich alles wahr, was ich in meinem Land über dich gehört habe. Man spricht von deinen Taten und deiner Weisheit. Ich wollte es nicht glauben, bis ich hierher kam und es mit eigenen Augen sah: Nicht einmal die Hälfte hatte man mir berichtet! Deine Weisheit und dein Wohlstand übertreffen alles, was ich von dir gehört habe.

Die Märchenkönigin zieht in Jerusalem ein mit einer Karawane kostbarster Geschenke. Und sie ist hingerissen von ihrem geistreichen Gesprächspartner, den ihre sorgfältig ersonnenen Rätselfragen nie in Verlegenheit bringen. Salomos Berater werden ihn gut gebrieft haben. Palast und Tempel genügen augenscheinlich allerhöchsten Standards. Und das Personal in dem Land, das zwei Generationen zuvor weder eine Hauptstadt noch einen Königshof hatte, ist makellos gekleidet und zeigt beste Manieren. Salomo besteht die Prüfung mit Bravour: Fünf Sterne für seinen Auftritt, und wenn es zehn gäbe, bekäme er die auch. Er spielt von jetzt an in der Liga der ganz Großen. Und er lässt sich auch bei den Geschenken nicht lumpen: Die Königin von Saba kehrt beladen mit allem, was ihr Herz begehrt, in ihre Heimat zurück. Und mit ihr zieht Salomos Ruhm hinaus in die weite Welt. Pomp and Circumstance, so weit das Auge reicht – eine Supernova am Königshimmel des alten Orients. Und die Erzähler beeilen sich zu erwähnen, dass natürlich auch Gottes Ansehen richtig Auftrieb bekommt durch den Erfolg seines royalen Senkrechtstarters.

Vielsagendes Schweigen

Über eine Sache bin ich beim Lesen der Geschichte gestolpert: Gott, der sich in der Bibel gern selbst zu Wort meldet, bleibt in der Geschichte vom Besuch der Königin eigenartig stumm. Aber warum? Verweist Gottes Schweigen auf das, was bisher nicht erzählt wurde? Auf den Preis, den Salomos Untertanen – denn das sind sie jetzt: Untertanen, keine Landsleute – für seinen Luxus bezahlen?

Auch davon berichtet die Bibel nämlich: Dass Salomo seine Leute schwer mit Frondiensten belastet. Wochenlang sind die erwachsenen Männer auf seinen Landgütern und Baustellen am Schuften und fehlen schmerzlich zuhause, wo sie eine Familie zu ernähren haben. Das Ganze fliegt erst nach Salomos Tod so richtig auf, und prompt wählen zehn von zwölf Stämmen einen neuen Anführer. Salomo ist, als er stirbt, zwar nicht bankrott wie König Ludwig, aber sein Königtum ist moralisch und politisch am Ende.

Die Königin von Saba interessiert sich für diese Schattenseiten nicht. Ihr reicht die fesche Fassade, sie ist wie der Stargast im Luxusresort, der sich nicht darum schert, ob dem Hauspersonal der Mindestlohn bezahlt wird oder welche Umweltstandards hier eingehalten werden. „Wenn die Leute kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen“ – der böse Ausspruch wurde verschiedenen europäischen Prinzessinnen nachgesagt, aber die Überheblichkeit, die aus ihm spricht, könnte auch schon viel älter sein. Rückblickend wird klar: Salomos Reichtum beruht auf knallharter und gar nicht märchenhafter Ausbeutung der eigenen Leute. Und er trägt schon den Keim des Zerfalls in sich.

Panik im Palast

Und was hat das Ganze nun mit Weihnachten und dem Kommen Gottes zu tun? Nun, fast tausend Jahre nach Salomo schickt sich wieder einer an, in Salomos Fußstapfen zu treten. Er baut Gott einen neuen, noch viel prächtigeren Tempel in Jerusalem, seine Burgen und Paläste ziehen heute noch ähnlich viele Menschen an wie Bayerns Märchenschlösser. Der Kaiser in Rom schätzt ihn als treuen und spendablen Gefolgsmann. Zugleich ist der Mann, der als „Herodes der Große“ in die Geschichtsbücher eingeht, mehr als nur ein bisschen paranoid. Wer auch nur den Anschein erweckt, an seinem Stuhl zu sägen, den räumt er unbarmherzig aus dem Weg. Da das auch für enge Verwandte gilt, soll Augustus über ihn gesagt haben: „Es ist besser, das Schwein des Herodes als sein Sohn zu sein.“ Weil er seine Entmachtung so sehr fürchtet, macht Herodes zu Lebzeiten kein richtiges Testament. Er lässt alles im Unklaren, und deshalb zerfällt auch sein Reich, als er stirbt. 

Maria, die Mutter Jesu, hat all das schon vor Augen, als sie hört, dass sie ein Kind bekommen soll. „Gott stürzt die Mächtigen vom Thron“, singt sie in ihrem berühmt gewordenen Magnificat.

Noch aber lebt Herodes, und er bekommt überraschend Besuch. Kultivierte Menschen aus einem fernen Land im Orient, und wie die Königin von Saba haben sie Gold und “Spezereien“ – genauer: Weihrauch und Myrrhe – als fürstliche Geschenke im Gepäck. Sie werden bei Hofe empfangen, aber anders als sein Vorgänger Salomo kann Herodes die Frage nicht beantworten, die ihm gestellt wird. Man muss fairerweise dazu sagen, dass es keine der üblichen Rätselfragen war. Sie erwischt ihn eiskalt:

Sie fragten: »Wo ist der neugeborene König der Juden? Denn wir haben seinen Stern im Osten gesehen und sind gekommen, um ihn anzubeten.« Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm alle in Jerusalem.

Panik im Palast, anders kann man es nicht sagen. Herodes setzt sein Pokerface auf und murmelt etwas wie „Ich lass das mal überprüfen und gebe Ihnen Bescheid“. Als die Sterndeuter die Audienz verlassen, holt er alle verfügbaren Berater zusammen. Die Antwort der Schriftgelehrten ist eindeutig: Jemand, der Anspruch auf den Thron Davids erheben könnte, kommt sehr wahrscheinlich aus Bethlehem. Da leben noch Nachkommen und Verwandte. So steht es geschrieben bei den Propheten.

Für Herodes, der zeitlebens damit zu kämpfen hatte, dass er für einen König der Juden keinen standesgemäßen Stammbaum vorweisen konnte, besteht nun Alarmstufe rot. Aber ausländische Zeugen eines politischen Attentats wären schlecht für den angekratzten Ruf. Für den Augenblick bleibt nur List und Lüge. Der Wolf frisst Kreide. Er zeigt sich betont erfreut und kooperativ:

Später rief Herodes die Sterndeuter heimlich zu sich. Er erkundigte sich bei ihnen genau nach der Zeit, wann der Stern erschienen war. Dann schickte er sie nach Betlehem und sagte: »Geht und sucht überall nach dem Kind! Wenn ihr es findet, gebt mir Bescheid! Dann will auch ich kommen und es anbeten.«

Und so ziehen die Sterndeuter los. Nirgendwo steht in der Bibel übrigens, dass es drei sind. Es können zwei oder zwölf oder zwanzig gewesen sein. Unmissverständlich schreibt der Evangelist Matthäus freilich auch: Sie sind keine Könige, sondern Gelehrte. In einer Zeit, in der Politiker sich gern über Forscherinnen hinwegsetzen, wenn ihnen die Fragen und Ergebnisse nicht in den Kram passen, ist das auch eine Erwähnung wert: Manchmal schickt Gott Wissenschaftler – Leute, die genau hinschauen und sagen, was wirklich ist, und die dafür Strapazen auf sich nehmen und weite Wege zurücklegen. 

Bethlehem – wo sonst?

Bis Bethlehem sind es nur noch ein paar Kilometer. Als sie ankommen, steht der Stern schon über einem der Häuser. Ich bin gestern Abend mal rausgegangen und habe versucht zu sehen, welcher Stern über welchem Haus steht. Es wird Sie nicht überraschen, liebe Hörerinnen und Hörer, dass ich gescheitert bin. Und als ich es zwei Stunden später noch einmal versuchen wollte, standen die Sterne schon wieder wo anders. 

Aber ich bin ja auch kein Sterndeuter aus dem alten Persien. Die führt der Stern sicher ans Ziel. Gut, vielleicht hat auch der Rat der schriftkundigen Kollegen aus Jerusalem geholfen; und natürlich war es damals in Bethlehem viel leichter, jemanden zu finden, als in unseren Großstädten heute. Sie kommen an, und jetzt müssen wir schon wieder unsere folkloristisch übermalten Bilder von Weihnachten korrigieren: Es gibt hier keinen Stall, keinen Engeleinchor und keine Tiere; die Weisen stehen vor einem richtigen Haus. Das bescheidene Ambiente mag unerwartet gewesen sein, aber jetzt zögern sie keine Sekunde:

Als sie den Stern sahen, waren sie außer sich vor Freude. Sie gingen in das Haus und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter. Sie warfen sich vor ihm nieder und beteten es an. Dann holten sie ihre Schätze hervor und gaben ihm Geschenke: Gold, Weihrauch und Myrrhe.

Und dann kommt der Moment, in dem Gott spricht. Keine donnernde Stimme vom Himmel, sondern ganz leise durch einen Traum. Da sind die üblichen Filter meines Alltagsbewusstseins ausgeschaltet. Ahnungen, Wünsche und Sehnsüchte werden im Traum zum Leben erweckt. Und ich habe die Freiheit, mir am Morgen die Augen zu reiben und den Kopf zu schütteln und alles wieder zu vergessen. Aber die weisen Frauen und Männer in der Bibel haben ein Gespür dafür, wenn Gott ihnen einen Traum schickt. Wie das wohl war: Haben alle Sterndeuter dasselbe geträumt? Oder hat einer die anderen überzeugt? Jedenfalls verabschieden sie sich leise aus Bethlehem und machen auf ihrem Rückweg einen weiten Bogen um Jerusalem. Der Königsweg führt nicht wieder zu Herodes. 

Jetzt wird auch klar, warum es Bethlehem sein musste: In Jerusalem scheitert das Königtum gerade zum wiederholten Mal – an seinem Größenwahn, an seinem Hang zur Gewalt, an seiner Paranoia. In Bethlehem, so erzählt es die Bibel, hat Gott schon einmal einen Jungen, dem niemand etwas zutraute, zum Antikönig gemacht: Nämlich David, von dem  – Ironie der Geschichte! – Salomo sein großes Reich geerbt hatte Und jetzt wird hier in Bethlehem das Ende der Mörder- und Märchenkönige besiegelt. Pomp und Überheblichkeit müssen draußen bleiben. 

Er kam nicht, um uns einzuschüchtern, zu verurteilen oder von oben herab zu behandeln. Nicht um uns seine Knechte zu nennen, sondern um uns als Freunde an seiner Seite zu haben. Ein für allemal, als Gott Mensch wurde“.

So heißt es im Christmas Song von Don Francisco…

Diese, die ursprüngliche Weihnachtsgeschichte schärft meinen Blick für das, was Märchenköniginnen und -könige gern ausblenden und verschleiern: Ungleiche und ungerechte Machtverhältnisse, von denen die Welt erlöst werden muss, wenn sie nicht mit ihren Despoten untergehen soll. Der neugeborene Messias wird später alle Hoheitstitel zurückweisen, außer dem einen, der ihn mit uns allen verbindet: „Menschensohn“.

Ich staune zugleich, wie stark die Königssehnsucht trotzdem noch ist. Schon nach wenigen Jahrhunderten wurden aus den biblischen Weisen die „Heiligen Drei Könige“. Als nächstes nahm man dem Heiligen Nikolaus den Sack mit Süßigkeiten und Spielsachen für die Kinder weg und drückte ihn dem Christkind in die Hand. Und noch etwas später kamen immer mehr dekorative Elemente dazu wie Schnee, Rentiere mit roten Nasen, Tannenbäume und goldene Lichtlein.

Bei Kindern ist das ja sehr charmant und liebenswert, wenn sie sämtliche Lieblingsfiguren um die Krippe herum aufstellen, bis man Mutter und Kind kaum noch sieht im Gedränge. Wären da halt nicht jene verbissenen Erwachsenen, die jedem, der etwas von dem üppigen Beiwerk weglässt, einen „Krieg gegen Weihnachten“ andichten. Dieses Jahr traf es eine Kita in Hamburg – die nicht etwa Weihnachten abschaffte, sondern lediglich auf den Baum verzichtete. Ohne Skrupel treten diese Platzhirsche in Medien und Politik eine Lawine von Hassbotschaften und Drohungen über die arglosen Eltern und Erzieher:innen los – alles im Namen der Märchenweihnacht. Was würden die Weisen, was würde Maria dazu sagen, dass unser „Weihnachten“ Kulturgrenzen nicht mehr durchlässig macht, sondern oft noch vermint?

Im Evangelium von den Weisen blitzt nämlich eine andere Welt auf. Eine Welt, die wir mehr denn je brauchen: In der junge Mütter voller Hoffnung in die Zukunft ihrer Kinder schauen, in der Soldaten ins Leere laufen, in der die Rechte der Wehrlosen gewahrt und in der die Fragen von Fremden und die kritischen Stimmen ein offenes Ohr finden.

Und in der Gott zu seinen Leuten redet und sie auf überraschende Wege schickt. Königswege. Ohne allen Pomp, auf den ersten Blick gänzlich unscheinbar, aber voll großer Freude mitten in der herben Wirklichkeit. Auch heute noch zum Niederknien schön.

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Queere Weihnachtstradition

Vielleicht lag es daran, dass ich einen Bericht des Sonntagsblatts über Queere Theologie quergelesen hatte, als ich gestern Nachmittag in die Stadt ging.

Dort hängt noch die Weihnachtsbeleuchtung, in der das „Christkind“ eine große Rolle spielt. In Nürnberg ist das gar kein Kind, sondern eine Mischung aus Rauschgoldengel und Himmelskönigin (es trägt eine Krone, die haben Engel normalerweise nicht). Also ziemlich das Gegenteil dessen, was die christliche Tradition an Weihnachten feiert, wenn wir singen „wahr Mensch und wahrer Gott“.

Das „Christkind“ ist keins von beiden. Interessant ist freilich: Es wird seit 1975 immer von einer jungen Frau verkörpert, zugleich ist es offensichtlich nicht-binär. Erstens, weil der begriffliche Bezug zum Christus noch da ist. Und zweitens, weil Engel, wie wir seit Alan Rickmans großartigem Auftritt in „Dogma“ wissen, geschlechtslos sind:

Das „Christkind“ gibt es seit 1933 (!), schreibt die Stadt. Es ist nicht nur ein Beispiel für weihnachtlichen Synkretismus (den sind wir ja gewohnt in Zeiten des Christdemokratenbaums). Sondern auch eine durch und durch queere Erscheinung. Das fand ich, als es mir gestern auffiel, doch sehr bemerkenswert.

Vielleicht hätte die Erinnerung an das Nürnberger „Christkind“ die Aufregung etwas dämpfen können, die der Satz „Gott ist queer“ in Quinton Ceasars Abschlusspredigt des Kirchentags hervorgerufen hat. Diese Worte fielen übrigens an genau dem Ort, wo das „Christkind“ jedes Jahr zum Christkindlesmarkt seinen großen Auftritt hat. In Nürnberg sagt das niemand laut, aber Advent und Weihnachten haben hier doch einen spürbar queeren Charakter. Vielleicht trägt das „Christkind“ zum 100. Jahrestag dann ja einen Regenbogen. Vielleicht auch schon eher?

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Die lange Nacht und der helle Morgenstern

In meiner Straße leuchten zur Zeit Sterne überall aus den Fenstern, wenn es dunkel wird. Sterne gehören zu Weihnachten, ebenso wie die Nacht, in der die Engel bei den Hirten erscheinen und der Stern die Weisen lotst.

Die „heilige Nacht“ erinnert an Nächte, die nicht enden sollten – verliebt, im Glücksrausch, im Flow. Sie erinnert auch an Nächte, die nicht enden wollen. Mit einem kranken Kind, mit Schmerzen, mit Sorgen, die mir keine Ruhe lassen, mit schlechten Träumen.

Viele von uns haben das Gefühl, dass sich unsere Welt verdunkelt hat in den letzten Jahren. Pandemie, Kriege und viele ungelöste Probleme, die wir vor uns herschieben. Und dann noch unsere privaten und persönlichen dunklen Stunden und Wegstrecken. Wird es noch einmal besser? Wann hört das auf?

Wer in diesen Tagen vor Sonnenaufgang an den Himmel schaut, kann den Morgenstern sehen. Heller als alle anderen. Wenn er erscheint, dann ist es die längste Zeit dunkel gewesen. Nicht nur vielleicht, sondern ganz sicher. Auch wenn es in diesem Moment noch stockdunkel ist.

Das liegt an der besonderen Beziehung zwischen Erde, Sonne und dem Morgenstern – unserem Nachbarplaneten, der Venus. Sie ist immer in der Nähe der Sonne zu sehen. Und ihr helles Licht ist das Licht der demnächst aufgehenden Sonne.

In der Bibel wird Jesus ab und zu als „Morgenstern“ bezeichnet. Das ist wunderbar poetisch. Aber wie kommen die Menschen in der Bibel dazu, Jesus als Morgenstern zu bezeichnen, als den Vorboten des neuen Tages für die Welt und uns? Ist das mehr als bloß Zweckoptimismus?

Ja, und das liegt an seiner besonderen Beziehung, in der Jesus zu Gott und zu uns steht. Jesus ist in unser Universum gekommen und an unserer Seite, und er ist Gott so nahe, dass Gottes Licht und Liebe und Schöpferkraft aus ihm hervorstrahlen wie nirgendwo sonst. Die Nacht dauert zwar noch an, es ist noch ziemlich dunkel, aber das Ende ist schon besiegelt. Es wird nicht ewig so weitergehen. Das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis kriegt es nicht in den Griff.

An Weihnachten feiern wir den Beginn einer großen Verwandlung. Sie beginnt in Gott selbst. Er legt sich unwiderruflich fest auf diese Liebe zu seiner kaputten Welt. Mein Computer warnt mich manchmal: „Sie können den folgenden Arbeitsschritt nicht mehr rückgängig machen. Möchten sie fortfahren oder abbrechen?“ Wir feiern, dass Gott sich fürs „Fortfahren“ entschieden hat. Wohl wissend, dass dieser Weg zu neuem Leben für die Welt durch den Tod am Kreuz führt.

So sehr identifiziert er sich mit seinen Geschöpfen. Und wir können zwar die Welt und die Lebewesen auf der Erde zerstören, aber nicht Gott. Mitten in der Welt existiert jetzt eine Quelle von Leben und Güte und Kraft, die größer ist als die Welt selbst und alle Verwüstung, die in ihr herrscht. 

Weil Gott sich so festgelegt hat, deshalb besteht heute Hoffnung für uns: Welt ging verloren, Christ ist geboren. Paulus nennt ihn den „Erstgeborenen der neuen Schöpfung“. Dieser Anfang liegt zwar schon in der Vergangenheit, aber seine ganze Wirkung hat er noch gar nicht entfaltet.

So sicher wie der Morgenstern sich zeigt, so sicher kommt der Tag. So sicher, wie Jesus sich auf den Weg machte zu uns, so sicher bringt er uns zum Ziel. Also feiern wir heute schon mal ein Ende von Krieg, Hass, Unterdrückung, Einsamkeit, Krankheit, Verzweiflung und Tod. Das ist alles noch da, aber nicht mehr übermächtig. Übermächtig ist die Liebe. Und darüber dürfen wir uns ausgelassen freuen. 

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Solidarisches Seufzen: Von Walen, Wehen und dem Schmerz der Welt

Es gibt wenige Texte aus der Bibel, die mir mehr bedeuten und mich öfter beschäftigen als das achte Kapitel des Römerbriefes, und immer öfter der Mittelteil vom Seufzen der Kreatur. Das ist der Predigttext übermorgen, am drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, und diesmal habe ich die Evangelische Morgenfeier im BR dazu vorbereitet. In dieser Blogfassung sind ein paar Dinge etwas ausführlicher möglich als in der Sendefassung

Jetzt, im November, wenn es früh dunkel wird und das letzte bunte Laub von den Bäumen fällt, schüttele ich die Traurigkeit nicht mehr so leicht ab wie sonst. Nicht nur persönlicher Kummer meldet sich, auch all der Kummer, den ich von anderen mitbekomme. Dann tut es gut, zu spüren: Ich bin nicht der einzige, der seufzt oder sich eine Träne abwischt. Und auch wenn ich für die Traurigkeit keine Worte finde, bin ich nicht allein – sondern umgeben von einer Welt voller mitfühlender Wesen.

Talequah ist ein weiblicher Orca-Wal. Ihre Schule (so heißt ein Familienverband bei Walen und Delfinen) lebt im nördlichen Pazifik, vor den Hafenmetropolen Seattle und Vancouver. Meeresbiologen, die die Walpopulation dort beobachten, sagen: Seit Jahren hat dort kein Jungtier mehr überlebt. Das Meerwasser ist zu verschmutzt und der Fischbestand zu stark geschrumpft. 

Dann aber, am 24. Juli 2018, bringt Talequah eine Tochter zu Welt. Es gibt wieder Hoffnung für die kinderlose Schwertwal-Sippe.

Die Freude ist jedoch nur von kurzer Dauer. Das Kalb stirbt nach wenigen Stunden. In den folgenden 17 Tagen und über eine Strecke von über 1.500 Kilometern trägt die Mutter ihr totes Baby auf ihrem Körper. Wenn es abrutscht, taucht sie ihm nach und bringt es zurück an die Oberfläche. Als hofft sie immer noch, das Kalb werde irgendwann wieder anfangen zu atmen. Es dauert bis sie schließlich so weit ist, dass sie das Kleine loslassen kann. Die Forscherinnen beobachten sie mit einer Mischung aus Ergriffenheit und Erstaunen. Wir Menschen sind nicht die einzigen Wesen, die trauern – und nicht die einzigen, die lieben. Denn Trauer gibt es nur da, wo auch Liebe ist. 

Wie in der Liebe versagen auch in der Trauer manchmal die Worte, und es bleibt nur ein Seufzen. Wenn der Apostel Paulus, der ja viel auf dem Meer unterwegs war, die Geschichte von Talequah gehört hätte, hätte er sich vielleicht an seine Worte aus dem Brief an die Römer erinnert:

Wir wissen ja: Die ganze Schöpfung seufzt und stöhnt vor Schmerz wie in Geburtswehen – bis heute. Und nicht nur sie: Uns geht es genauso! Wir haben zwar schon als Vorschuss den Geist Gottes empfangen. Trotzdem seufzen und stöhnen auch wir noch in unserem Innern.

Unheilbarer Weltschmerz

Es scheint, als hätte Paulus Ohren für die Klage und das Leid unserer Mitgeschöpfe gehabt. Und darin eine Verbindung zu seinem eigenen Schmerz entdeckt. Hören und Sehen ist ja immer „Hören und Sehen als“: Die einen hören den Ruf einer Möwe als störenden Lärm, für andere ist es der Klang der Sehnsucht nach dem weiten Meer und fernen Ländern. Die einen sehen eine Sternschnuppe als hellen Streifen am Himmel, für die anderen ist es ein zauberhafter Augenblick voller Verheißung.  

Es hängt alles davon ab, wie ich hinsehe und hinhöre, und was die Bilder und Töne in mir zum Klingen bringen. Die Schriftstellerin P.D. James beschreibt das, indem sie ihren Protagonisten Adam Dalgliesh an die Küste Cornwalls schickt. Wo manch anderer nur die Brandung hören würde, begegnet der feinsinnige Detektiv dem Seufzen der Kreatur:

„Er lauschte, und zwar nicht so, dass er auf das rhythmische Schlagen der Wellen gegen den unnachgiebigen Granit achtete. Er ließ den unaufhörlichen Klang in die tiefen Schichten seines Bewusstseins, wo er zu einer ewigen Klage über den unheilbaren Schmerz der Welt wurde.“

Ich lebe nicht am Meer, aber manchmal spüre ich etwas ähnliches. Ich gehe gern in den Wald, und ganz besonders, wenn ich traurig bin oder angespannt und gestresst. Umgeben vom Grün der Bäume, Gräser und Moose, geborgen unter dem schattigen Kronendach und abseits vom Lärm der Zivilisation kann ich in der frischen Waldluft unbedrängt durchatmen. Die Aufregung legt sich und der Kopf wird wieder etwas freier. Leider hat das in den letzten fünf Jahren nicht mehr gut funktioniert. Immer öfter kam ich traurig und niedergeschlagen zurück. Die meisten Bäume sind vor Hitze und Dürre krank geworden, viele sind abgestorben. Im Frankenwald waren es dieses Frühjahr ein Viertel aller Bäume. Unwetter haben andernorts fußballfeldgroße Löcher in den Wald gerissen. Die Forstwege sind zerfurcht von den Maschinen, die Berge von Totholz abtransportieren müssen.

Das ist nicht mehr der Wald, den ich kenne. Es tut mir fast körperlich weh, die tiefen Wunden in der Natur zu betrachten. Wenn ich meine Sehnsuchtsorte nicht mehr wiedererkenne, dann ist das eine Art psychischer Kahlschlag. Dafür gibt es seit einigen Jahren den Begriff „Solastalgie“. Das heißt so viel wie: Leiden an der Trostlosigkeit. Als wäre der Freund, der mir immer geduldig zugehört und mich getröstet hatte, nun selber sterbenskrank und verzweifelt.  Immer wieder einmal hat der Wald mit mir geseufzt. Jetzt seufze ich mit dem Wald, und das geht in Ordnung.

Wenn nur das Seufzen bleibt

„Uns geht es genauso!“, schreibt Paulus. Damals wie heute versuchen Menschen, ihre tiefe Erfahrung von Schmerz und Verbundenheit auszudrücken. Manchmal reicht es nur für ein tiefes Seufzen. 

Andere singen von ihrer Trauer, zum Beispiel die Musikerin LeAnn Rimes in „Throw my arms around the world“: „Ich lege meinen Bauch auf den Boden, drücke mein Ohr auf die Erde, ich kann hören, wie sie innerlich weint, dass sie einfach nie, nie gehört wird. […] Ich möchte die Welt in meine Arme schließen, vielleicht kann ich sie ins Leben zurück lieben.“

Ich denke noch einmal zurück an die Walmutter. Talequahs Schmerz ist vermutlich nicht nur die Trauer über das verlorene Kalb, sondern auch darüber, dass ihre Sippe dort, wo sie lebt, keine Zukunft mehr hat. So etwas spüren Wale tatsächlich! Anders als noch zu Paulus’ Zeiten sind wir Menschen es, die uns und anderen Lebewesen solchen Schaden zufügen, indem wir das Wasser und die Luft verschmutzen und vergiften. Im Lärm unserer Schiffe und Flugzeuge, unserer Kraftwerke und Fabriken, unserer Dauerberieselung mit Musik und Nachrichten, geht das leise Seufzen der Kreatur so leicht unter. Parallel dazu haben immer mehr Menschen Mühe, sich selbst noch zu spüren. Kein Wunder, würde Paulus sagen, es hängt ja beides zusammen. Weil wir taub geworden sind für andere Geschöpfe, nehmen wir auch die leisen Signale der eigenen Seele nicht mehr wahr. Die äußere und die innere Verwüstung gehen Hand in Hand.

Womöglich hätten wir alle etwas weniger Grund zum Seufzen und Stöhnen, wenn wir fremdem Leid gegenüber kein so dickes Fell hätten. Aber wenn unsere Gesellschaft die leisen Töne so meisterlich verdrängt, müsste die Schöpfung da nicht lauter und nachdrücklicher auftreten? Bernhard Pötter schreibt in einem Kommentar für die taz:

»Wenn sie krachen, stinken und raufen würden, wenn sie auf der Straße Autoreifen anzünden und ihre Wut rausschreien würden, wenn sich die Moore mit der Polizei prügeln würden und das Wasser im Wasserwerfer streiken würde. Wenn wir mit Wäldern, Seegraswiesen und Mittelgebirgen Tarifverhandlungen führen müssten und uns über ihre unverschämten Forderungen ärgern könnten – es wäre eine bessere Welt. Wenn die Natur endlich mal das Maul aufreißen würde – vielleicht würden wir dann endlich das Gras wachsen hören.«

Aber vielleicht geschieht das ja gerade? Seit einiger Zeit rempeln Schwertwale in der Straße von Gibraltar immer wieder Segelyachten an. Vorsätzlich, wie es scheint. Manche Boote waren danach manövrierunfähig. In den sozialen Medien wurde das als „Orca-Aufstand“ regelrecht gefeiert. Ist es nur ein ruppiges Spiel, oder haben die Tiere womöglich verstanden, wer für den Lärm und Schmutz in ihrem Zuhause verantwortlich ist, und reagieren nun entsprechend? Und selbst wenn wir Menschen nur unser eigenes schlechtes Gewissen in das Verhalten der Wale hineinlesen – steht dahinter vielleicht die Einsicht, dass wir den Anstoß und die Unterstützung unserer Mitgeschöpfe brauchen, um das Schlimmste für uns selbst und andere zu verhindern?

Mein neues Wir-Gefühl

In letzter Zeit habe ich öfter mit den Tieren im Garten gesprochen. Den Eichhörnchen, die sich bis auf zwei Meter herangewagt haben. Den Meisen, Amseln und Rotkehlchen. Den gewitzten Krähen, die Nüsse knacken, indem sie sie aus einigen Metern Höhe auf den Asphalt meiner Straße fallen lassen. Ich weiß schon, dass sie den Inhalt meiner Worte nicht verstehen. Aber vielleicht verstehen sie ja, dass ich mit ihnen rede: Dass sie für mich ein Gegenüber sind, auch wenn sie keine Haustiere sind, bei denen wir das alle tun.

Kürzlich kam ich an einem Baum vorbei, dem jemand ein Schild umgehängt hatte. Darauf steht: „Ich mach Dir Luft.“ Ich fand es schön, dass hier „Ich“ und „Dir“ stand und nicht: „Bäume produzieren Sauerstoff“ oder etwas ähnlich Objektivierend-Belehrendes. Ein Gespräch habe ich mit dem Baum zwar nicht angefangen, aber ich habe ihn als Verbündeten empfunden. Solche Begegnungen persönlich zu nehmen und mich von der fürsorglichen Nähe meiner Mitgeschöpfe berühren zu lassen, weckt in mir ein neues Wir-Gefühl. Und dann fühle ich mich schon ein bisschen weniger einsam und verloren.

Ein solch geschwisterliches Verhältnis zu den Mitgeschöpfen kennen wir auch von Franziskus von Assisi. Der hob Raupen und Würmer vom Weg auf, damit sie nicht zertreten werden. Er ließ hungrige Bienen im Winter mit Süßwein füttern und wies den Klostergärtner an, um die Beete herum genug Platz zu lassen für Wildkräuter, weil die auf ihre Art von der Schönheit des Vaters aller Dinge erzählen.

Wie verletzlich wir doch sind

Paulus musste sich vor 2.000 Jahren noch keine Gedanken machen über Umweltkatastrophen, Kipppunkte und Artensterben. Für ihn bezieht sich das Seufzen der Schöpfung auf die Vergänglichkeit. Vergänglichkeit, das heißt: Als Mensch bin ich – wie alle Geschöpfe – nicht einfach nur endlich und sterblich, sondern auch schon mitten im Leben ungeheuer verletzlich an Leib und Seele. Ich ahne, dass mich Krankheiten, Unfälle, veränderte Lebensumstände jederzeit aus der Bahn werfen können. Und so wirft es einen Schatten auf mein Leben jetzt und alle unverdient glücklichen Momente darin, wenn ich lese und höre, was anderen denkenden und fühlenden Wesen Furchtbares zustößt.  

Das Leid da draußen, nah oder fern, erzeugt ein Echo tief in meinem Inneren. Dabei schwingt nicht nur die Erinnerung an das Schwere mit, das ich schon erlebt habe, sondern auch eine Ahnung davon, was alles noch geschehen könnte. Was noch möglich ist, weil es gerade tausendfach anderen passiert, die ja auch nichts dafür können. Und deswegen ist dieses fremde Leid gar nicht nur fremd, sondern irgendwie auch mein eigenes; selbst wenn es bisher nicht eingetreten ist und das vielleicht auch niemals wird. 

Dieses Bewusstsein meiner Verletzlichkeit, meiner Vergänglichkeit kann mich ganz schön verunsichern. Darf, ja soll ich mich dem stellen, oder macht – wie beim sprichwörtlichen Kaninchen vor der Schlange – das Hinschauen alles noch schlimmer? Was rettet mich vor der drohenden Resignation und Verzweiflung? Was hilft? Oder gibt es gar keinen Ausweg? Bleibt es beim ewigen Seufzen?

Für Paulus scheint schon in der angespannten Sehnsucht danach, dass Vergänglichkeit und Tod überwunden werden, ein Funke Hoffnung zu stecken:

Die ganze Schöpfung wartet doch sehnsüchtig darauf, dass Gott die Herrlichkeit seiner Kinder offenbart. Denn die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen – allerdings nicht durch eigene Schuld. Vielmehr hat Gott es so bestimmt. Damit ist aber eine Hoffnung verbunden: Denn auch die Schöpfung wird befreit werden aus der Sklaverei der Vergänglichkeit. Sie wird ebenfalls zu der Freiheit kommen, die Gottes Kinder in der Herrlichkeit erwartet.

Seufzen und Hoffen, Schmerzen und neues Leben gehören offenbar eng zueinander. Das ist vielleicht der Grund, warum Paulus zu Anfang des Textes, den wir heute gehört haben, von Geburtswehen spricht: Auf den ersten Blick ein etwas gewöhnungsbedürftiger Vergleich, aber es stimmt schon:

Die Wehen sind voller Schmerz und gleichzeitig voller Hoffnung, dass der Schmerz überwunden und das neue Leben in all seiner kleinen, schrumpeligen Baby-Herrlichkeit sichtbar wird!

Diese Geburtswehen von Gottes neuer Welt betreffen Frauen und Männer. Sie aus der Perspektive der werdenden Mutter zu sehen hilft mir, unter Schmerz durchzuhalten. Das rettet mich vor Verzweiflung und hält den Fluchtreflex im Zaum. 

Der Vergleich mit der Geburt hilft zum einen, weil er den Blick über den momentanen, akuten Schmerz hinaus richtet. Aber er erinnert mich auch an das, was wir selbst erlebt haben und was mir andere Eltern oft erzählt haben: Wenn die Schmerzen irgendwann kaum noch auszuhalten sind, hilft nur noch eines: Dass der Mutter jemand die Hand hält und sie spüren lässt: Ich bin da und weiche nicht von deiner Seite, bis alles durchgestanden ist.

Gekommen, um zu bleiben

Wenn Paulus von den Geburtswehen spricht, dann ist da auch jemand, der sagt: „Ich bin da und weiche nicht vin deiner Seite“ – Gott!

Auf dieses „ich bin da“ Gottes gründet sich für Paulus die Hoffnung der Menschen. In Jesus von Nazareth ist Gott Teil seiner seufzenden Welt geworden. Er ist gekommen, um zu bleiben, bis alles gut ist. Und im Heiligen Geist bleibt er bei jeder und jedem einzelnen. So, wie Jesus bis hin zum Tod am Kreuz das Leid und die Dunkelheit der Menschen geteilt hat, so tut er es jetzt durch den Geist. Und diese bleibende Anwesenheit Gottes im Schmerz enthält das Versprechen, dass Schmerz und Leid ein Ende finden. Er schließt die Welt in seine Arme und liebt sie zurück ins Leben. Paulus sagt es fast ein bisschen trotzig:

Ich bin überzeugt: Das Leid, das wir gegenwärtig erleben, steht in keinem Verhältnis zu der Herrlichkeit, die uns erwartet. Gott wird sie an uns offenbar machen.

Und allen, die sich lieber heraushalten und nicht in Mitleidenschaft ziehen lassen wollen, die das zähe Warten und die Härten einer aus den Fugen geratenen Welt lieber auslassen oder überspringen würden, hält er entgegen:

Denn wir sind zwar gerettet, aber noch ist alles erst Hoffnung. Und eine Hoffnung, die wir schon erfüllt sehen, ist keine Hoffnung mehr. Wer hofft schließlich auf das, was er schon vor sich sieht? Wir aber hoffen auf etwas, das wir noch nicht sehen. Darum müssen wir geduldig warten.

Diesen Gedankengang des Paulus hat wohl auch P.D. James verstanden. Ihre Romanfigur Adam Dalgliesh ist nicht nur Polizist, sondern auch Poet. Er hört nicht nur das Seufzen der Kreatur im Meeresrauschen, er sieht auch den Schmerz im Licht der Liebe:

„Die Welt ist ein wunderbarer und schrecklicher Ort. Gräueltaten werden jede Minute verübt, und am Ende sterben jene, die wir lieben. Wenn die Schreie aller Lebewesen auf der Erde ein einziger Schmerzensschrei wären, würde das gewiss die Sterne erschüttern. Aber wir haben die Liebe. Sie mag nur ein zerbrechlicher Schutz gegen die Schrecken der Welt sein, aber wir müssen sie festhalten und an sie glauben, denn sie ist alles, was wir haben.“

Warten, ausharren, und ab und zu ein Seufzen: Wenn ich die Liebe nicht verlieren will, muss ich den Schmerz zulassen. Auch den Schmerz der anderen. Aber ich kann das auch, ohne daran zu zerbrechen. Denn Liebe und Schmerz verbinden mich mit all den anderen Geschöpfen – und mit dem Schöpfer selbst. Der hört nicht nur mein Seufzen, er seufzt mit mir, weil es auch ihm nahegeht. Ganz anders als manche Zeitgenossen nimmt er nämlich eigenen Schmerz nicht zum Anlass, anderen bedenkenlos Schmerz zuzufügen. Im Gegenteil: Er trägt meinen Schmerz mit, aus freien Stücken – ein solidarisches Seufzen.

Eines unserer Kinder kam, als es noch klein war, öfters nachts zu uns ins Schlafzimmer. Ein schlechter Traum, ein lautes Geräusch oder irgendwas anderes hatten es aus dem Schlaf gerissen. Ich erkannte schon am Klang der Schritte, wer da neben meinem Bett stand. Manchmal hielt ich dann still und hoffte, meine Frau würde wach. Und manchmal war es umgekehrt.

Da stand nun der Zwerg und brauchte einen von uns. Gleichzeitig wollte er uns aber nicht aufwecken und womöglich schlechte Laune riskieren. Er löste das Dilemma, indem er ganz tief schnaufte. Und wenn das Schnaufen noch nicht reichte, hängte er nach ein paar Versuchen einen kleinen Seufzer dran. Damit hatte er dann eigentlich immer Erfolg, und zugleich waren wir Eltern immer ein bisschen gerührt, wie schonend wir geweckt wurden.

So ähnlich stelle ich mir Gottes mütterlich-väterliche Liebe vor. Sie ist für den Augenblick alles, was wir haben. Und sie ist gekommen, um zu bleiben. Unter allen Umständen. Während wir schnaufen und seufzen. Bis schließlich und endlich alles gut ist in der Welt. Für alle Geschöpfe Gottes: Wale, Wald, uns Menschen – und die Amsel, die mitten in der Nacht übt, mit ihren lädierten Flügeln wieder loszufliegen. 

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Echt bayerisch…

Es war vor der Wahl, als noch an jeder Straßenecke das Konterfei des Ministerpräsidenten prangte. Ich ging kurz hinter der Grenze zu Oberbayern einen Kaffee trinken. Auf der Serviette der Bäckereifiliale las ich: „Echt bayerisch – echt gut“.

Mag sein, dass ich noch den Wahlkampf in den Ohren hatte, der von Regierungsseite praktisch ohne Sachthemen auskam und sich strikt an das Motto „Bayern ist schön und die Grünen sind böse“ hielt. Was außer den Grünen auch niemand im Freistaat störte.

Jedenfalls stieß mir diese nicht so ganz stillschweigende Gleichsetzung von Bayern und gut sauer auf. Dieses andauernde Sich-Selbst-auf-die-Schulter-Klopfen. Diese bornierte Selbstzufriedenheit und die latente Fremdenfeindlichkeit, die aus dieser Verknüpfung spricht. Nein, nicht immer und in jedem Fall, aber eben viel zu oft.

Eine Woche nach der Wahl sitze ich im Zug nach Erlangen, um einen Krankenbesuch zu machen. Ein paar Plätze weiter sitzen ein paar junge Männer um die 20, die in einer fremden Sprache Handyvideos anschauen. Weil die Lautstärke unnötig hoch ist, drehe ich mich zu ihnen um und frage vorsichtig, ob sie das auch mit Kopfhörer tun könnten. Die zwei entschuldigen sich und hören leise weiter.

Wenn das einmal geklappt hat, klappt es bestimmt nochmal, denke ich im Regionalexpress auf der Rückfahrt. Da sitzen wieder junge Männer, diesmal etwa zehn von ihnen. Ihr Dialekt weist sie unverkennbar als Bewohner eines östlich angrenzenden Regierungsbezirks aus. Sie reden, nein rufen, wild durcheinander, und weil niemand den anderen richtig ausreden lässt, steigt der Geräuschpegel ins Unerträgliche. Ich gehe hin und bitte den ersten aus der Runde, zu dem ich Blickkontakt bekomme, freundlich und behutsam darum, die Konversation etwas leiser fortzusetzen.

Das hätte ich mal lieber bleiben lassen. Ungläubiges Staunen schlägt mir entgegen. Die Gruppe verstummt kurzzeitig, um dann in um so lautstarkere Empörung auszubrechen, was mir denn einfiele, welche Unverschämtheit und so weiter. Die nächsten zehn Minuten haben sie kein anderes Gesprächsthema als diesen Affront. Ich sitze längst wieder an meinem Platz, aber natürlich höre ich (und alle anderen Mitreisenden), wie sie sich über den Idioten ereifern, der ihnen Vorschriften machen will. Sie erklären einander, dass sie ja eigentlich friedliche Menschen sind, . Und wenn sie in meine Richtung reden, tun sie es extra laut.

Die Knaben sind (wenigstens äußerlich betrachtet) längst keine Halbstarken mehr, und ganz offensichtlich der Überzeugung, dass sie die Guten sind. Sie sind halt auch Bayern. Das kann jetzt natürlich ein Zufall gewesen sein. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass dieses Geklopfe auf die eigene Schulter uns gerade gar nicht gut tut.

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Teuflische Topographie

Vor ein paar Wochen war ich mit meiner Tochter in den Bergen, am Teufelstättkopf. Es war eine wunderschöne Tagestour. Aber sie warf bei mir die Frage auf, warum Teufel & Co so oft Pate stehen, wenn markante Orte benannt werden. Die größte Tropfsteinhöhle der Frankenalb hat man „Teufelshöhle“ genannt. Da spielte offenbar der (Aber)glaube eine Rolle. Die Leute fragten sich: Könnte das große Loch der Eingang zur Unterwelt sein? So, wie man auch Geister in den Nebelschwaden vermutete, die im Novemberwind um schroffe Berggipfel tanzen.

Manchmal war es aber auch die Lust am Fabulieren. Ein Sandstein-Geotop im nahen Reichswald soll sich der Teufel gekrallt haben, um es nach einem wohltätigen und frommen Adelsfräulein zu werfen. Aber das Gebet der Angegriffenen durchkreuzte die böse Absicht. Heute erinnert ein Schild der Bayerischen Staatsforsten GmbH an die Legende. Ach, und  „Teufelstische“ sind mir im Bayerischen Wald wie auch im Pfälzer Wald begegnet, aber ganz bestimmt gibt es viele, die ich noch nicht kenne.

Früher war vielleicht auch schwarze Pädagogik im Spiel: Kinder und vorwitzige Charaktere sollen sich fernhalten von Orten, an denen beim Auf- und Abstieg Gefahr droht. Teufelsgeschichten waren besser und wirkungsvoller, als Warnschilder aufzustellen. Wenn man heute sieht, wie überlaufen bestimmte Orte sind, und wie leichtfertig sich Menschen, vor allem im Gebirge, in Gefahr begeben, dann rechtfertigt das manche abschreckende Namensgebung vielleicht auch rückwirkend. 

Und doch bin ich unglücklich darüber, dass der Teufel so viel Raum in der Naturbegegnung einnimmt. Ich befürchte nämlich, dass es ein Spiegel der mitteleuropäischen Seele und Symptom einer allgemeineren Fixierung auf das Böse sein könnte – und der Unfähigkeit, vor lauter Gegrusel noch Gott und das Gute in der Wildnis zu erkennen. Jedenfalls außerhalb von risikobefreiter Kulturlandschaft, ihrem domestizierten Tierbestand und den sakralen Räumen, die von Menschenhand errichtet wurden. Aber Gott ist auch überall da draußen. Den Teufel bringen wir selber mit – in Gestalt unserer Ängste, blinden Flecken und dem merkwürdig antagonistischen Blick auf die Schöpfung, den unsere Kultur hervorgebracht hat. 

Jetzt wäre die Zeit, ihn endgültig abzulegen.

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Explosive Gewohnheits-Rechte

Foto: Marius Matuschzik on unsplash.com

Ein Erlebnis vom vergangenen Sonntag geht mir nicht aus dem Kopf: An einer Tankstelle steht jemand draußen vor dem Kassenhäuschen und raucht eine Zigarette. Als er fertig ist, geht er hinein, und ich erkenne: Das ist einer der Angestellten. Er hat nicht etwa hinter dem Kassenhäuschen geraucht, sondern davor – auf der Seite, wo die Zapfsäulen stehen und reger Betrieb herrscht. Wohlgemerkt: an einem heißen Sommertag!

Die Person, die eigentlich darauf achten sollte, dass niemand an dieser Tankstelle raucht, steht da in aller Öffentlichkeit und tut genau das, was sie verhindern soll. Sie kann es tun, weil es eine Art Gewohnheitsrecht für Raucher gibt: Raucher „dürfen“ einfach mal so ihren Arbeitsplatz für ein paar Minuten verlassen und sie „dürfen“ ihre Kippen auch einfach so in die Gegend werfen, obwohl die Filter hochgradig umweltschädlich sind.

Und so ist die Szene eben auch ein Bild für den Zustand unserer Gesellschaft in der anbrechenden Klimakatastrophe: Ausgerechnet die Leute, die verhindern sollten, dass wir uns selbst und andere gefährden, nehmen sich demonstrativ die Freiheit, Regeln und Verpflichtungen, denen sie (wie wir alle) unterliegen, zu ignorieren. Und sie können es, weil es quasi ein Gewohnheitsrecht auf fossiles Heizen und unbeschränkte Automobilität gibt, das keine Regierung bisher ernsthaft anzutasten wagte. Für die stetig zunehmende Anzahl der Populisten in Bund und Land zählt dieses Gewohnheitsrecht mehr als jedes demokratisch beschlossene Gesetz.

Ich habe mir die Tankstelle gemerkt. Sie ist ein gefährlicher Ort, den ich künftig meiden werde. Leider lässt sich das im Blick auf das größere Problem des globalen Klimakollapses nicht machen. Das heißt: Mit den Gefährdern in der Politik müssen wir uns anlegen. Und mit denen, die gerade so wütend und beleidigt auf ihrem explosiven Gewohnheitsrecht beharren, auch.

In dieser Kombination liegt das eigentliche Problem: Menschen reagieren allergisch bis aggressiv, wenn es um Gewohnheitsrechte geht. Sie in Frage zu stellen, wird in aller Regel als persönlicher Angriff gedeutet. Und wenn diese Wut dann noch bestärkt wird durch lautstarke Kulturkämpfer aus der rechten Presse- und bürgerlichen Parteienlandschaft, dann brauchen alle, die Kritik am Verhalten dieser Gewohnheits-Rechten üben, schon ein recht dickes Fell, um das heil zu überstehen.

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