Newbigin (4): Autorität, Autonomie und Tradition

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Newbigin verweist zum Einstieg auf Peter Bergers These vom “Häretischen Imperativ”, weil in Glaubensdingen jeder für sich selbst entscheiden muss. In der religiösen Erziehung ist daher auch das Element der kritischen Meinungsbildung des Individuums stark betont worden. Ganz anders dagegen funktioniert das Lernen der (Natur-) Wissenschaft. Dort sind die Lehrer davon überzeugt, dass bestimmte Wahrheiten gelten und dass die Schüler als Resultat des Unterrichts zur selben Überzeugung gelangen.

Die neuzeitliche Wissenschaft stellte ihre Beobachtungen über die kirchliche Tradition, die etwa vorgab, der Jupiter könne keine Monde haben. Und doch vertraut der Schüler auch dort dem Lehrer, der ihn in eine Denktradition einführt, die er anfangs nicht versteht, sondern erst nach einer Weile. Niedergelegt ist die Tradition in den Lehrbüchern der jeweiligen Wissenschaften. Fortschritt erfordert Intuition (etwa die, dass Forschen an dieser Stelle sich lohnt, weil es etwas zu entdecken gibt) und Entscheidungen über Fragestellung, Methode und Vorgehen. In der Medizin genügen die Lehrbücher allein nicht, sondern man lernt von einem erfahrenen Arzt praktisch, wie man Diagnosen stellt und Patienten behandelt. Zu dieser Unterordnung unter einen (hoffentlich) kompetenten Praktiker gibt es keine Alternative. Dasselbe gilt auch für wissenschaftliche Forschung:

Erst wenn sich eine Studentin lange Zeit der Autorität einer Tradition unterworfen hat, ist sie qualifiziert, an der Seite eines Wissenschaftlers zu arbeiten, der Theoriefindung betreibt an Problemen, die nicht nur ungelöst sind, sondern vielleicht noch nicht einmal als solche erkannt werden, außer von diesem Wissenschaftler. Nur indem sie diesen Wissenschaftler bei der Arbeit beobachtet, sieht, wie er Probleme anpackt, Lösungswege einschlägt, mehrdeutige Indizien bewertet und neue, originelle Ideen entwirft, erlernt sie die Fertigkeiten, die man zum Forschen braucht. Es gibt keine unpersönlichen, mechanischen Prinzipien…

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Manche Theorien wie etwa Einsteins Relativitätstheorie waren anerkannt, obwohl sie (noch) nicht beweisbar waren, schlicht wegen ihrer Eleganz und Plausibilität.

Eine Theorie für wahr zu halten ist in der Rationalität des Kosmos ein Akt des Glaubens. Die Rechtfertigung – wenn man es so sagen darf – erfolgt im Glauben; erst hinterher, als Folgeerscheinung, entdeckt man, dass sie gerechtfertigt ist, weil sie funktioniert. Die Analogie zum christlichen Glauben muss kaum noch erläutert werden.

Paradigmenwechsel, also ein Austausch der “Brillen”, durch die man Dinge wahrnimmt, sind daher schwierig und oft eine Generationenfrage in der Wissenschaft, eben weil die Tradition das Instrument ist, das man normalerweise implizit (a-critically) benutzt, um den Gegenstand der Forschung zu bearbeiten. Würde man nämlich ständig alles in Zweifel ziehen, gäbe es keine Wissenschaft. Also kann man immer nur einzelne Elemente der Tradition revidieren.

Die Tradition lebt aus der freiwilligen Zustimmung der wissenschaftlichen Gemeinschaft (die sich durch diesen Konsens in gewisser Weise ja auch konstituiert). Ihre Autorität erweist sich zum Beispiel in der Auswahl der Forschungsergebnisse, die publiziert und Lehraufträge, die vergeben werden. Eine Vielzahl von Beiträgen wird (meistens zu Recht…) zurückgewiesen, weil sie schlicht nicht plausibel erscheinen im Licht der herrschenden Tradition.

Die Anerkennung wissenschaftlicher Innovationen setzt erstens voraus, dass der Urheber einer neuen These selbst ein Meister der Tradition ist. Zweitens braucht man für einen Paradigmenwechsel mehr als nur einzelne Fakten, die die etablierte Sicht in Frage stellen. Man braucht ein neues, überzeugenderes Paradigma. Sich darauf einzulassen ist eine persönliche Entscheidung, aber keineswegs rein subjektiv, weil sie in universaler Absicht getroffen wird.

Die Autorität wissenschaftlicher Tradition ruht also auf sich selbst und beschreibt damit einen Zirkelschluss, weil sie voraussetzt, was sie zu beweisen sucht und das ignoriert, was dem entgegen zu stehen scheint. Sie wird zusammengehalten vom gegenseitigen Vertrauen der Wissenschaftler. Der wissenschaftliche Nachwuchs akzeptiert diese Tradition als Ausgangspunkt analog zu Anselms “credo ut intelligam”. Selbst der Wissenschaftler, der der Tradition widerspricht, tut dies, um sie zu verbessern und zu stärken. Damit sind aber sowohl der moderne Szientismus als auch der “biblische” Fundamentalismus widerlegt, die auf unterschiedliche Weise an der Illusion eines rein objektiven, von der Person unabhängigen Wissens festhalten.

Auch die christliche Gemeinschaft hat eine Tradition, anhand derer sie ihre Erfahrungen interpretiert. Ihre Fragestellung ist dabei weniger eingeschränkt als die der Wissenschaft, weil die Fragen von Sinn und Zweck der Welt und des Lebens, die Naturwissenschaften ausblenden, hier ausdrücklich einbezogen sind. Die Denkvoraussetzungen über die Rationalität des Kosmos sind dieselben, Rationalität wird aber umfassender verstanden. Wie die Wissenschaftler, so müssen auch Christen sich in diese Tradition einleben, sie verinnerlichen, und denen dabei vertrauen, die ihn unterweisen. Gute Eltern und Lehrer legen Wert darauf, dass der Lernende (der “Jünger”) schließlich selbst überzeugt ist. Wer die Tradition gemeistert hat, wird im Interesse der Gemeinschaft immer wieder über notwendige Modifikationen nachdenken müssen. Im Unterschied zur wissenschaftlichen Tradition geht es hier nicht (nur) um menschliches Lernen, sondern um das noch andauernde Handeln Gottes in der Geschichte, in dem Gott sich offenbart – und an der auch wir unseren Anteil haben und unsere Rolle spielen.

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