Die Iren haben sich deutlich für die gleichgeschlechtliche Ehe ausgesprochen, ein Vertreter des Vatikan hat dies als Niederlage für die Menschheit bezeichnet, die Bundesregierung hat ein Mini-Reförmchen vor, das ein paar Verbesserungen bringt und noch weniger Aufregung bei den Unions-Wählern (mit hohem Katholiken-Anteil) verursacht. Es wird viel geredet und geschrieben, es scheint eigentlich auch schon alles gesagt (nur noch nicht von jedem, dafür von anderen mehrfach). Oft jedoch ist die Verständigung zwischen den unterschiedlichen Positionen sehr schwierig, darum dreht sich viel im Kreis.
Die Gründe dafür liegen in Einstellungen, die bei jeder ethischen Urteilsbildung eine entscheidende Rolle spielen, selbst aber kaum oder gar nicht zum Thema werden. Der Religionspsychologe Richard Beck hat das in seinem Buch Unclean: Meditations on Purity, Hospitality, and Mortality beleuchtet. Zum einen behandelt er dort die Psychologie des Ekels (das wäre einen weiteren Blogpost wert), die gerade bei Thema Sex eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Zum anderen nennt er zwei Studien, die sich mit den Prämissen und Grundhaltungen moralischer Urteile befassen.
Beck berichtet vom Phänomen des Moral Dumbfounding („moralischen Verstummens“): Ab einem bestimmten Punkt versagen rationalen Argumente, aber es bleibt eine tiefe innere Überzeugung, dass eine bestimmte Handlung nicht richtig ist. Der Affekt reicht weiter als die Vernunft – schon David Hume wusste das. Unverfängliches Beispiel von Beck: Der Hund einer Familie wird vor dem Haus überfahren. Jemand erinnert sich daran, dass Hundefleisch gut schmecken soll, also wird er zerlegt und kommt als Braten auf den Tisch. Unvorstellbar für die meisten von uns, aber eine stringente Begründung dafür zu liefern, ist gar nicht so einfach.
Wie Richard Shewder zeigt, gibt es Unterschiede in der „moralischen Grammatik“, die kulturell bedingt sind. Da ist die Grammatik der Autonomie, die empfindlich auf jede Verletzung der Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung einer Person reagiert. Die Ethik der Gemeinschaft dreht sich um Pflicht und Loyalität, die Achtung von Autorität und Einhaltung von Normen. Gemeinschaft und Autonomie zusammen bilden das Koordinatensystem für die meisten sozialen und politischen Entscheidungen, in den unterschiedlichen Kulturen wird dieses Verhältnis unterschiedlich bestimmt.
Doch es gibt noch eine dritte Dimension, Shewder nennt sie „divinity ethic“. Da geht es um das Heilige. Und zwar nicht nur im klassisch religiösen Sinn, und keineswegs nur in bestimmten Kulturen: Es geht um Würde und Integrität, um Ehrfurcht und Reinheit. Zwei Metaphern dominieren dieses Feld: Reinheit und Verschmutzung auf der einen Seite (das gilt für Kindesmissbrauch ebenso wie für die Verwüstung unberührter Natur), und den Unterschied zwischen Hohem und Tiefem bzw. Oben und Unten. Oben ist dann Gott und das Gute angesiedelt, unten das Chaos, die „niederen“ Instinkte und Beweggründe, das Animalische und Unheimliche. Als Mensch sollte ich mich, der Logik des Heilgen folgend, nach oben orientieren. In vielen Kulturen sind das Heilige und das Profane säuberlich getrennt, um eine Verunreinigung zu vermeiden. Die Vorstellungen davon, was genau eine Verletzung des Heiligen darstellt, können im Einzelfall aber weit auseinander liegen.
Jonathan Haidt und Jesse Graham haben, wie Beck ausführt, solche Konflikte untersucht und sind dabei auf fünf Gründe gestoßen, warum Menschen etwas als moralisch falsch einstufen:
1. Harm/Care: Anderen Schaden zuzufügen oder ihn nicht zu verhindern
2. Fairness/Reciprocity: Menschen ungleich oder unfair zu behandeln oder Gutes nicht zu erwidern
3. Ingroup/Loyalty: sich nicht für das Wohl und den Schutz der Gruppe einzusetzen, der man angehört
4. Authority/Respect: Die Missachtung von (Rang-)ordnungen und Autoritäten und die Verletzung von Pflichten
5. Purity/Sanctity: Wo Würde, Reinheit, religiöse Gefühle in den Schmutz gezogen werden
Beck kommentiert, dass für „Liberale“ (ich weiß, die Terminologie ist grob gestrickt, man kann vielleicht auch „Traditionalisten“ und „Modernisierer“ sagen) die beiden letzten Kriterien in der Regel keine große Rolle spielen, während sie bei Konservativen hoch im Kurs stehen und dazu führen können, dass die Gleichheit auf der Strecke bleibt oder (etwa in Uganda) beträchtlicher Schaden für die Betroffenen billigend bzw. stillschweigend in Kauf genommen wird. Daher prangern die einen die Ausgrenzung Homosexueller vehement an, während die anderen vor allem um die Integrität der „Schöpfungsordnung“ fürchten, die Reinheit der Kirche und den Gehorsam gegenüber der Schrift betonen. Aus ihrer Perspektive erscheint auch eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Menschen gleichen Geschlechts als „Perversion“ menschlicher Sexualität und ein Absinken auf der vertikalen Skala (statt des gewünschten Aufstiegs zu Gott hin). Derselbe Grundkonflikt zeigt sich aber auch in der Diskussion um Mohammed-Karikaturen und Blasphemiegesetze.
Das Moral Dumfounding entsteht oft da, wo es um die Dimension von Heiligkeit und Reinheit geht. Während Erfahrungen von Ungerechtigkeit und erlittener Schaden eher von Empörung und Zorn begleitet werden, ist hier ein unterschwelliger Ekel die beherrschende Emotion, die sich immer wieder gut beobachten lässt.
Die Frage, der Beck im weiteren Verlauf des Buches nachgeht, ist die nach der Wirkung von „sozialem Ekel“ und inwiefern das Evangelium, das Jesus gepredigt hat, klar erkennbar und nachvollziehbar auf dessen Überwindung hin angelegt ist. Ich würde sagen, Jesus hat das Reinheitskriterium dem Gerechtigkeitskriterium weitestgehend untergeordnet. Und das hat vielfältige Konsequenzen, bis heute.
Die Diskussion über Regelungen und Gesetze in einem säkularen Staat und einer multireligiösen Gesellschaft lässt sich um so leichter führen, je mehr der (unter Gäubigen kontroverse, bei nichtreligiösen Menschen weitgehend irrelevante) Heiligkeitsaspekt ausgeklammert werden kann.
Sehr nette Übersicht, danke.
Wie siehst du selbst denn das mit dem Hund? Du schreibst, eine stringente Begründung sei „gar nicht so einfach“, und sie wäre sicherlich auch situationsabhängig, aber zumindest implizierst du ja, es gäbe eine, und mich würds jedenfalls interessieren.
Nun, in der Regel kommen wir ja gar nicht auf die Idee, einen toten Hund zu essen. Freilich lassen sich Umstände (in der Gestalt krasser Notlagen) postulieren, unter denen man das überdenken könnte. Oder jemand hat lange in einem Land gelebt, wo man Hunde verspeist. Dann wäre das etwas Alltägliches. Moralisch schwer zu begründen ist in jedem Fall, warum wir Kühe und Hühner essen, aber keine Hunde oder Katzen. Die erstgenannten sind ja auch lebend nützlich, wenn wir Milch oder Eier essen. Katzen dagegen…
@Peter: Ja gut, danke schon mal für die Antwort, aber was denkst du denn nun? Auch du schreibst „schwer zu begründen“. Heißt das, du hältst es für begründbar, oder eben gerade nicht? Oder wie?
Wie schon gesagt, die Entscheidung, einen Hund zu essen, lässt sich problemlos begründen. Und zugleich wird schon die Vorstellung bei den meisten von uns intensiven Ekel auslösen. Sollte ich das jemals praktisch entscheiden müssen, kann ich das ja hier nachtragen.
… womit ich immer noch nicht genau deine Meinung erkennen kann. Findest du es moralisch verwerflich, einen Hund zu essen? Vielleicht nicht immer, sondern nur unter bestimmten Umständen? Nach welchem Maßstab entscheidest du das?
Ekel ist ja was anderes. Ich finde zum Beispiel Weberknechte eklig, käme deshalb aber nie auf die Idee, ihre Existenz als unmoralisch zu bezeichnen. Obwohl, wenn ich noch mal drüber nachdenke…
Von meiner Seite gibt’s zum Thema Hund nichts mehr zu sagen.
Und zum Thema Moral?
Das Beispiel mit dem Hund hatte eine ganz bestimmte Funktion in meinem Post, nämlich das Verhältnis von Vernunft und Emotion bei ethischen Entscheidungen zu beleuchten. Ich denke, diesen Sinn hat es erfüllt und damit ist die Sache für mich auch erledigt. Hätte ich einen Post über Hundeethik schreiben wollen, dann hätte ich das auch so deklariert. War das jetzt deutlich genug?
Eigentlich nicht, aber dass du keinen Bock hast, mit mir zu reden, kommt jedenfalls rüber. Schade, aber natürlich deine Entscheidung. Dann machs mal gut.
Ich halte die Schlussfolgerung im letzten Absatz für gefährlich. Ich verstehe den Gedanken dahinter, denn – eigentlich hätte man die Überlegungen vorher nicht gebraucht – wenn wir in einer heterogenen Gesellschaft die Dinge ausklammern, die bestimmten Menschengruppen wichtig sind, während sie anderen Gruppen unwichtig sind, konstruieren wir ein homogeneres Gesellschaftsbild, was Demokratiefähigkeit ermöglicht.
Viele meiner Freunde (meistens Atheisten) verlangen dies. Ja, sie begründen die Funktionsbasis von Demokratie genau so. D.h. im Klartext, bei politischen Fragen verlangen sie von mir, dass ich als konservativer Christ meine Überzeugungen ausklammer, um einen schnelleren, tragfähigeren und besseren (in ihrer Sicht) Konsens zu ermöglichen.
Aber ist genau das dann noch Demokratie: Wenn ich an die Wahlurne gehe, und ein künstliches Abbild entscheiden lasse?
Dabei gehen die Gedanken meiner Kumpels im Umgang mit Religion noch weiter: Sie würden am liebsten jede religiöse Einmischung, Haltung usw. in politisches Geschehen unter Strafe stellen. Und ihre Begründung ist im Grunde gedankengleich, zu der Schlussfolgerung in diesem Artikel.
Die Frage ist dann aber auch zugleich Folgende: Wenn wir die Interessen einer Masse ausklammern bzw. nur in geringen Masse zulassen, wird der Konsens dann wirklich nachhaltig in der Gesellschaft umgesetzt? Letztlich ist der Punkt eine Kritik am Konzept von Demokratie, die ab einem gewissen Grad von Heterogenität versagt.
@Schmall: Ich denke, da müsste ich dir aber sogar zustimmen, obwohl ich auch Atheist bin. Was ist denn das für eine alberne Idee, jemand möge seine bzw. ihre eigenen Überzeugungen ignorieren, wenn es um Entscheidungsfindung geht? Wie begründen die das denn?
Ich bin erst mal mit Masse und Masse durcheinandergekommen… Mit der Differenzierung oben habe ich ja nur eine von mehreren Dimensionen (die der Heiligkeit) als schwierig für den Diskurs benannt. Das soll auf gar keinen Fall heißen, dass religiöse Überzeugungen in Politik und Öffentlichkeit keine Rolle spielen dürften. Man kann sich nur als religiöser Mensch nicht darauf verlassen, dass man verstanden wird oder auf Zustimmung trifft. Und darum tut man gut daran, wenn es um Konsensfindung geht, diese Dimension nicht in den Vordergrund zu stellen, weil die Diskussion hier schnell abbricht. Ich werde also immer als Christ argumentieren, aber wenn irgend möglich eben so, dass auch Atheisten meine Logik nachvollziehen können. Dann muss ich eben erklären, warum ich ein bestimmtes Verhalten für ungerecht oder schädlich halte und kann nicht einfach nur sagen, dass Gott es verboten hat, Punkt. Leider tun das viele, und dann kann ich durchaus verstehen, dass andere damit ihre Mühe haben.