Die Lizenz zum Dissens

Der Gnadauer Gemeinschaftsverband hat kürzlich eine Erklärung zum konfliktbeladenen Thema des Umgangs mit Homosexualität veröffentlicht. Es ist, wie könnte es anders sein, ein Kompromisstext herausgekommen, der allen Seiten (außer vielleicht den Unentschlossenen) einiges zumutet.

Die einen dürften enttäuscht sein von der halbherzigen Ankündigung, man wolle mit Homosexuellen in den Gemeinschaften liebevoller umgehen, ihnen aber keine Leitungsaufgaben anvertrauen, weil dies der Schriftauslegung der Mehrheit nicht entspreche. Kann ich gut verstehen, denn der Vorbehalt trifft dann ja doch wieder alle, ob sie nun ein Amt anstreben oder nicht.

Die anderen dürften besorgt sein, dass von Verbandsseite (erstmals, wenn ich das richtig sehe) offen und öffentlich gesagt wird, dass es eine abweichende Minderheitsmeinung gibt und dass diese Minderheit nicht sofort als geistlich und theologisch defizitär qualifiziert wird, wie es das Netzwerk Bibel und Bekenntnis fordert. Vielmehr räumt die Mehrheit ein, auch sie könnte sich womöglich irren.

Es ist der typische Kompromiss, der die Einheit und damit den Fortbestand der Organisation ermöglicht, indem er eine Spannung ungelöst stehen lässt. Es ist sicher mehr Kirchenpolitik als Theologie. Theologisch kann keines der beiden Lager das andere von seiner Auffassung überzeugen, und die Gründe dafür dürften im Glaubens- und Schriftverständnis liegen. Die einen hängen stärker am biblizistischen (und gelegentlich auch antiliberalen) Erbe des Neupietismus, die anderen wünschen sich mehr Offenheit für eine Welt, die sich verändert hat und immer weiter verändert, und die sich wundert, worüber die Frommen da streiten.

Der entscheidende Punkt dieser Erklärung ist für mich der: Sie öffnet die Tür, um über ein Tabuthema offen und öffentlich zu reden. Und zwar kontrovers. Man darf jetzt sagen, dass man anderer Meinung ist, ohne dass einem die Treue zum christlichen Glauben insgesamt und zur konkreten Gemeinschaft im Besonderen deswegen abgesprochen wird. Diese Möglichkeit sollten möglichst viele Gemeinschaften nutzen. Vielleicht kann der Verband sogar Hilfestellungen dazu erarbeiten oder Moderator*innen bereitstellen. Dann wird sich vielleicht herausstellen, dass die Psychologie eine ebenso große Rolle spielt wie die Theologie, dass neben der Hermeneutik auch Ängste und Aversionen ein Thema sind, über das geredet werden muss.

Und wer weiß, vielleicht könnten sich ja gerade im ehrlichen Gespräch über diese unscharfen und subjektiven Aspekte so viel Verständnis und verbindende Gemeinsamkeiten offenbaren, dass man die einheitliche theologische Position als verbindende Klammer, die den Zusammenhalt sichert (denn das ist ja vielfach die Funktion), gar nicht mehr braucht?

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Für einen Perspektivwechsel ist man nie zu alt

Diese Woche hat Tony Campolo, der große alte Vorkämpfer der Linksevangelikalen, eine kurze Erklärung veröffentlicht, in der es um die Akzeptanz Homosexueller in den christlichen Gemeinden geht. Nun war Tony schon immer jemand, der den traditionell konservativen Standpunkt (wenn du dich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlst, bleib enthaltsam) mit maximaler Fairness gegenüber der inklusiven Gegenposition vertrat, was nicht zuletzt daran lag, dass er mit der wunderbaren Peggy verheiratet ist, die das schon immer anders sah. Tony seinerseits war eine Art Brückenbauer, der einen völligen Bruch zwischen den verschiedenen Lagern zu verhindern suchte.

Er war aber wohl auch sehr unsicher im Blick auf seine Position. Nun hat er sie, nach langem und intensivem Ringen, revidiert. Tony gibt keine Gründe an, die in der Diskussion nicht schon vorgekommen wären. Er ist sich auch der Möglichkeit bewusst, dass er sich irren könnte. Den Ausschlag gaben schließlich die Beziehungen zu ganz konkreten Menschen:

I have come to know so many gay Christian couples whose relationships work in much the same way as our own. Our friendships with these couples have helped me understand how important it is for the exclusion and disapproval of their unions by the Christian community to end. We in the Church should actively support such families. Furthermore, we should be doing all we can to reach, comfort and include all those precious children of God who have been wrongly led to believe that they are mistakes or just not good enough for God, simply because they are not straight.

Nach Steve Chalke im vorletzten und Vicky Beeching wie auch dem Ethik-Professor David Gushee im letzten Jahr ist mit Tony Campolo ein weiterer profilierter Evangelikaler zu einer Neubewertung seine Position gekommen. In Deutschland hat dieser Worthaus-Vortrag von Siegfried Zimmer für Diskussionen gesorgt. Für die EKD hat sich der Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm deutlich zu einer inklusiven Auffassung von Ehe bekannt.

Christian Piatt hat den entscheidenden Impuls für diesen Wandel der Auffassungen gestern treffsicher beschrieben:

Ultimately, marriage equality and being both open and affirming of people of all sexual/gender identities and orientations in our larger Christian community are not issues: they are people. They’re human beings, stories, families, relationships, children, struggles and joyful discoveries. They are school lunches, utility bills, career moves, birthdays weddings and funerals. They’re self doubt, a search for meaning, belonging and, often times, a desire to be connected with something bigger and more enduring than ourselves.

They’re like anyone else in these ways, and many more. They are us. All it usually takes is a willingness to sit down, listen, share and change in whatever ways love and compassion may work within us. It worked for Jesus. It worked for Tony. It’s good enough for me. What about you?

Annahme ist dann möglich, wenn ich sehe, wie viel größer die Gemeinsamkeiten sind als die Unterschiede. Doch das funktioniert nur, wenn ich keine Kardinaldifferenz zwischen Homo- und Heterosexuellen behaupte, sondern diesen Unterschied als nur einen von vielen möglichen sehe. Aber denken wir noch ein bisschen weiter:

Mich persönlich hat gestern eine Meldung aus Gambia beschäftigt. Der diktatorisch regierende Präsident Yahya Jamme hat die französische EU-Vertreterin aus Gambia ausgewiesen, weil sie den Umgang mit Homosexuellen kritisierte. Frage: Ist es denn wirklich nur ein dummer Zufall, dass so viele Diktatoren den Hass auf Schwule (es geht ja meistens um Männer…) schüren? Wenn nicht, wo genau liegt die innere Verbindung, der gemeinsame Nenner, der rücksichtslose Macht und rigide Ordnungsideologien bzw. die Ausgrenzung abweichender Orientierungen und Lebenskonzepte verbindet?

Ich unterstelle damit nicht, dass alle Konservativen verkappte Gewaltherrscher sind. Ich frage mich nur, ob da Denkstrukturen vorhanden sind, die auch dazu taugen, derartige Repression zu legitimieren oder die zumindest dafür sorgten, dass sie nicht schon längst entschlossen genug verurteilt und bekämpft wurde. Meine Vermutung: Die Wurzel liegt im Weltbild des Patriarchats (und damit verbunden der Heteronormativität). Ein strikt binäres und komplementäres Geschlechterverhältnis mit dem Mann als „Haupt“, das für Christen mit wenigen Ausnahmen seit der Römerzeit „normal“ war und das noch bei Max Weber als „naturgewachsen“ galt – das entspricht der Rede von der Schöpfungsordnung in manchen Theologien. Ein homosexuelles Paar bedroht nicht nur die traditionelle Vorstellung von Männlichkeit und damit die symbolische Ordnung, sondern auch die von Macht, weil in dieser Welt beides untrennbar zusammengehört.

Hier geht es um Privilegien, die für die Menschen unsichtbar sind, die sie genießen. Wunderbar dargestellt hat dies Susan Cotrell in diesem Blogpost zu einem Statement von Franklin Graham, der ebenso naiv wie zynisch behauptet hatte, Schwarze könnten es doch ganz einfach vermeiden von weißen Polizisten erschossen zu werden, sie müssten einfach immer nur uneingeschränkt allen Befehlen Folge leisten und Respekt vor der Autorität des Beamten zeigen. Graham gelingt es, zumindest vor sich selbst, den offensichtlichen Rassismus der Cops in ein Autoritätsproblem der schwarzen Minderheit umzudefinieren. Erst wenn man sich mit den Unterlegenen identifiziert (indem man sie, wie Cotrell, kennt, achtet und ihnen zuhört), wird die allgegenwärtige Unterdrückung sichtbar.

Tony Campolo hat diesen Schritt getan. Er hat dafür Jahre gebraucht, andere haben ihn noch vor sich. Hoffen wir, dass sein Beispiel Schule macht.

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Homosexualität und das moralische Verstummen unter Christen

Die Iren haben sich deutlich für die gleichgeschlechtliche Ehe ausgesprochen, ein Vertreter des Vatikan hat dies als Niederlage für die Menschheit bezeichnet, die Bundesregierung hat ein Mini-Reförmchen vor, das ein paar Verbesserungen bringt und noch weniger Aufregung bei den Unions-Wählern (mit hohem Katholiken-Anteil) verursacht. Es wird viel geredet und geschrieben, es scheint eigentlich auch schon alles gesagt (nur noch nicht von jedem, dafür von anderen mehrfach). Oft jedoch ist die Verständigung zwischen den unterschiedlichen Positionen sehr schwierig, darum dreht sich viel im Kreis.

Die Gründe dafür liegen in Einstellungen, die bei jeder ethischen Urteilsbildung eine entscheidende Rolle spielen, selbst aber kaum oder gar nicht zum Thema werden. Der Religionspsychologe Richard Beck hat das in seinem Buch Unclean: Meditations on Purity, Hospitality, and Mortality beleuchtet. Zum einen behandelt er dort die Psychologie des Ekels (das wäre einen weiteren Blogpost wert), die gerade bei Thema Sex eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Zum anderen nennt er zwei Studien, die sich mit den Prämissen und Grundhaltungen moralischer Urteile befassen.

Beck berichtet vom Phänomen des Moral Dumbfounding („moralischen Verstummens“): Ab einem bestimmten Punkt versagen rationalen Argumente, aber es bleibt eine tiefe innere Überzeugung, dass eine bestimmte Handlung nicht richtig ist. Der Affekt reicht weiter als die Vernunft – schon David Hume wusste das. Unverfängliches Beispiel von Beck: Der Hund einer Familie wird vor dem Haus überfahren. Jemand erinnert sich daran, dass Hundefleisch gut schmecken soll, also wird er zerlegt und kommt als Braten auf den Tisch. Unvorstellbar für die meisten von uns, aber eine stringente Begründung dafür zu liefern, ist gar nicht so einfach.

Wie Richard Shewder zeigt, gibt es Unterschiede in der „moralischen Grammatik“, die kulturell bedingt sind. Da ist die Grammatik der Autonomie, die empfindlich auf jede Verletzung der Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung einer Person reagiert. Die Ethik der Gemeinschaft dreht sich um Pflicht und Loyalität, die Achtung von Autorität und Einhaltung von Normen. Gemeinschaft und Autonomie zusammen bilden das Koordinatensystem für die meisten sozialen und politischen Entscheidungen, in den unterschiedlichen Kulturen wird dieses Verhältnis unterschiedlich bestimmt.

Doch es gibt noch eine dritte Dimension, Shewder nennt sie „divinity ethic“. Da geht es um das Heilige. Und zwar nicht nur im klassisch religiösen Sinn, und keineswegs nur in bestimmten Kulturen: Es geht um Würde und Integrität, um Ehrfurcht und Reinheit. Zwei Metaphern dominieren dieses Feld: Reinheit und Verschmutzung auf der einen Seite (das gilt für Kindesmissbrauch ebenso wie für die Verwüstung unberührter Natur), und den Unterschied zwischen Hohem und Tiefem bzw. Oben und Unten. Oben ist dann Gott und das Gute angesiedelt, unten das Chaos, die „niederen“ Instinkte und Beweggründe, das Animalische und Unheimliche. Als Mensch sollte ich mich, der Logik des Heilgen folgend, nach oben orientieren. In vielen Kulturen sind das Heilige und das Profane säuberlich getrennt, um eine Verunreinigung zu vermeiden. Die Vorstellungen davon, was genau eine Verletzung des Heiligen darstellt, können im Einzelfall aber weit auseinander liegen.

Jonathan Haidt und Jesse Graham haben, wie Beck ausführt, solche Konflikte untersucht und sind dabei auf fünf Gründe gestoßen, warum Menschen etwas als moralisch falsch einstufen:

1. Harm/Care: Anderen Schaden zuzufügen oder ihn nicht zu verhindern
2. Fairness/Reciprocity: Menschen ungleich oder unfair zu behandeln oder Gutes nicht zu erwidern
3. Ingroup/Loyalty: sich nicht für das Wohl und den Schutz der Gruppe einzusetzen, der man angehört
4. Authority/Respect: Die Missachtung von (Rang-)ordnungen und Autoritäten und die Verletzung von Pflichten
5. Purity/Sanctity: Wo Würde, Reinheit, religiöse Gefühle in den Schmutz gezogen werden

Beck kommentiert, dass für „Liberale“ (ich weiß, die Terminologie ist grob gestrickt, man kann vielleicht auch „Traditionalisten“ und „Modernisierer“ sagen) die beiden letzten Kriterien in der Regel keine große Rolle spielen, während sie bei Konservativen hoch im Kurs stehen und dazu führen können, dass die Gleichheit auf der Strecke bleibt oder (etwa in Uganda) beträchtlicher Schaden für die Betroffenen billigend bzw. stillschweigend in Kauf genommen wird. Daher prangern die einen die Ausgrenzung Homosexueller vehement an, während die anderen vor allem um die Integrität der „Schöpfungsordnung“ fürchten, die Reinheit der Kirche und den Gehorsam gegenüber der Schrift betonen. Aus ihrer Perspektive erscheint auch eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Menschen gleichen Geschlechts als „Perversion“ menschlicher Sexualität und ein Absinken auf der vertikalen Skala (statt des gewünschten Aufstiegs zu Gott hin). Derselbe Grundkonflikt zeigt sich aber auch in der Diskussion um Mohammed-Karikaturen und Blasphemiegesetze.

Das Moral Dumfounding entsteht oft da, wo es um die Dimension von Heiligkeit und Reinheit geht. Während Erfahrungen von Ungerechtigkeit und erlittener Schaden eher von Empörung und Zorn begleitet werden, ist hier ein unterschwelliger Ekel die beherrschende Emotion, die sich immer wieder gut beobachten lässt.

Die Frage, der Beck im weiteren Verlauf des Buches nachgeht, ist die nach der Wirkung von „sozialem Ekel“ und inwiefern das Evangelium, das Jesus gepredigt hat, klar erkennbar und nachvollziehbar auf dessen Überwindung hin angelegt ist. Ich würde sagen, Jesus hat das Reinheitskriterium dem Gerechtigkeitskriterium weitestgehend untergeordnet. Und das hat vielfältige Konsequenzen, bis heute.

Die Diskussion über Regelungen und Gesetze in einem säkularen Staat und einer multireligiösen Gesellschaft lässt sich um so leichter führen, je mehr der (unter Gäubigen kontroverse, bei nichtreligiösen Menschen weitgehend irrelevante) Heiligkeitsaspekt ausgeklammert werden kann.

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Torn (2) – Der lange Weg zum offenen Wort

Justin Lee erzählt in Torn. Rescuing the Gospel from the Gays-vs.-Christians Debate seine Lebensgeschichte: Er wächst in einem liebevollen Elternhaus und in einer lebendigen, konservativen Gemeinde auf. Er hat Erfolg in der Schule und ist überall beliebt. Sein Lebenstraum ist es unter anderem auch, einmal zu heiraten und seinerseits eine Familie zu gründen. Doch dann stellt er fest, dass er homosexuell ist.

Lange kann er sich gar nicht eingestehen, wie er tatsächlich empfindet. Er freundet sich mit einem Mädchen an und die beiden gehen miteinander aus. Als ihm ein Freund offenbart, er sei bisexuell, versucht er es eine Weile mit dieser Selbstbeschreibung; aber je länger, desto deutlicher wird ihm klar, dass er sich definitiv nicht zu Frauen hingezogen fühlt. Er spricht mit der Freundin darüber, irgendwann nach langem Zögern auch mit seinen Eltern.

Die nächsten Jahre sind geprägt von der Hoffnung, dass sich alles noch ändert, und der Suche nach Mitteln und Wegen dazu. Er berichtet von Seelsorgegesprächen, Selbsthilfegruppen und allen möglichen Büchern. Seine Eltern stehen zu ihm, teilen und unterstützen den Wunsch nach Veränderung und haben die Sorge, dass ihr Sohn massiv abgelehnt werden könnte, ganz besonders im Umfeld der Gemeinde.

Am Ende des vierten Kapitels zählt Lee unterschiedliche Aussagen auf, mit denen Eltern besser nicht auf die Offenbarung reagieren sollten, dass ihr Kind homosexuell ist:

  • „Sag das bloß niemand“ wäre ein Satz, der Mensch in Angst und Isolation treibt und verhindert, dass sie lernen, offen über sich zu reden.
  • „Du bist nicht so wie diese Leute“ bezieht sich oft auf negative Klischees, die Eltern mit dem Begriff „homosexuell“ assoziieren, oft kann das bei dem Betroffenen die Sorge auslösen, dass es all die negativen Urteile auch zu erwarten hat, falls es seine Orientierung nicht unterdrückt oder verleugnet.
  • „Wie kannst du uns so etwas antun?“ ist ein Satz, mit dem die Familie dem Kind den schwarzen Peter zuschiebt und sich selbst als Opfer betrachtet, statt die in einem solchen Moment nötige Hilfe und Unterstützung zu bieten. Eltern machen statt ihres Kindes sich selbst zum Mittelpunkt.
  • „Was haben wir nur falsch gemacht?“ tappt auch in die Schuld-Falle, nur umgekehrt. Und wieder schwächt es die Beziehung zum eigenen Kind, die in diesem kritischen Moment doch gestärkt werden müsste.

Die letzte Reaktion hat mit der Frage nach den Ursachen von Homosexualität zu tun. Diesem Thema widmet sich Lee im nächsten Kapitel.

 

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