Die Fleischhauer-Fraktion in meinem Facebook-Freundeskreis schießt sich (wieder mal?) auf Margot Käßmann und deren Pazifismus ein. Ich habe Käßmanns Vorstellungen nicht näher studiert, aber in der Kritik erscheint Pazifismus stets als Untätigkeit. Natürlich auch, um dann zu begründen, warum der Einsatz von Waffen und der Krieg alternativlos ist. Zumal es jetzt ja darum geht, verfolgten Christen zu helfen oder das Existenzrecht Israels zu verteidigen.
Vielleicht gibt es diesen theoretischen und feigen Pazifismus (weil er „andere für ich kämpfen lässt“) tatsächlich, doch freilich sitzen auch fast alle seine Kritiker am sicheren Schreibtisch, statt sich freiwillig mit der Waffe in Erbil einzufinden und gegen die IS-Kämpfer anzutreten. Denn wer jetzt noch den Einsatz von Gewalt ablehnt, kann ja nur ein Verräter sein – oder?
Walter Wink hat sich stets für einen biblisch begründeten dritten Weg zwischen Pazifismus und gerechtem Krieg eingesetzt, nämlich den des gewaltfreien Kampfes. Im sechsten Kapitel von Verwandlung der Mächte beschreibt er die wichtigsten Eckpunkte dieses Kampfes, der – da macht sich Wink nichts vor – mehr Mut und Leidensfähigkeit erfordert als der mit der Waffe, daher muss man wie Paulus sagen können, dass man für die Mächte dieser Welt gestorben ist.
Die Gewaltfreiheit Jesu richtet sich nicht an die bereits Vollkommenen, sondern an verängstigte, frustrierte und sogar gewalttätige Menschen, die dennoch offen sind für Veränderung. […]
Eines muss allerdings klar sein: Wenn unsere gewaltfreien Aktionen effektiv sein sollen, werden wir genauso bereit sein müssen, zu leiden und getötet zu werden wie Soldaten in der Schlacht. Die Gewaltfreiheit ist keine Methode, persönliche Opfer zu vermeiden. Sie verlangt im Gegenteil, dass wir eher Opfer bringen, als sie anderen aufzuerlegen. Sie verlangt ein Heldentum, das erstaunlich viele Leute bereit sind, auf sich zu nehmen.
Zum einen müssen die Mittel mit dem Zweck übereinstimmen: Wer eine demokratische Gesellschaft und stabilen Frieden will, wird das mit Gewalt nicht erreichen. Eine gewaltfreie Revolution ist auf eine Verwandlung der Beziehungen und einen friedlichen Machtwechsel aus, der die Tür für eine Heilung der Schäden offen hält. Zum anderen muss das Recht selbst da geachtet werden, wo man bewusst unfaire Gesetze und Vorschriften bricht oder sich über sie hinwegsetzt. Gott will die ungerechte politische Ordnung verändern, nicht aber zerstören. Manche Menschen müssen sich unter Umständen erst einmal mit Waffen oder Gewalt wehren, mindestens aber einmal dem eigenen Zorn und eventuell sogar Hass akzeptieren, um dann darauf verzichten zu können.
Gewaltfreiheit darf auch nicht als Konfliktvermeidungsstrategie missverstanden werden. Der „Frieden“ des Evangeliums bedeutet nie Konfliktfreiheit, sondern eine unaussprechliche, göttliche Stärkung im Zentrum des Konflikts: einen Frieden, der menschliches Begreifen übersteigt. Christen haben allzu oft nach „Gewaltfreiheit“ gerufen, als es ihnen in Wirklichkeit um Ruhe ging. Gewaltfreiheit sucht aber tatsächlich den Konflikt, bringt ihn ans Licht, provoziert sogar den Konflikt, um ihn offenzulegen und seine eitrigen Geschwüre aufzustechen. Die Gewaltfreiheit ist dem Bösen gegenüber nicht idealistisch oder sentimental; sie … geht aktiv, mit dem gleichen Eifer wie der schlimmste Militarist gegen eine wahrgenommene Ungerechtigkeit vor.
Der Verzicht auf Gewalt setzt innere Stärke voraus – und Realismus im Blick auf eine wesentliche „Gesetz“ menschlicher Erfahrung: Der Kampf gegen das Böse kann böse machen. Wink zitiert Nietzsche, der sagte: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er dabei nicht zum Ungeheuer wird.“ Ähnlich schrieb C.G. Jung: „Man wird immer zu dem, was man am stärksten bekämpft.“ Und Martin Luther King stellte fest: „Die größte Schwäche der Gewalt ist, dass sie in eine Abwärtsspirale führt, die genau das, was sie zerstören will, erzeugt.“
Von daher ist es auch nicht ganz so überraschend, wenn Wink davon berichtet, wie manche Friedensaktivisten den größten Hass und den schmerzlichsten Verrat aus den eigenen Reihen erlebt haben. Wenn man den eigenen „Schatten“ nicht im Auge behält, projiziert man ihn irgendwann auf die, die es am wenigsten verdient haben. Also kann gewaltfreier Widerstand nicht auf eine spirituelle Komponente verzichten. Wink bedauert den Widerwillen mancher Aktivisten gegenüber dem Gebet und der Meditation, er erinnert sogar an die „Waffenrüstung“ aus dem Epheserbrief, die die eigene Seele vor der Infektion durch das Böse schützt. Aber für Wink sind es die äußeren Kämpfe, die uns in die spirituelle Auseinandersetzung führen. Er schließt das Kapitel mit der Bemerkung:
Selbstmörderisch erscheint denen die Gewaltfreiheit, die in der Falle des Mythos von der erlösenden Gewalt sitzen; denen allerdings, die unerschrocken die Bandbreite der Gewalt in unserer Alltagswelt wahrnehmen, wird die Gewaltfreiheit als einzig verbleibende Möglichkeit erscheinen. Und das gilt nicht nur für Christen, sondern für die ganze Welt.
Kleiner Nachtrag meinerseits:
Im Jahr 1095 rief Papst Urban II die Christenheit zum Kampf an der Seite der durch die Türken bedrohten orthodoxen Christen und für die Sicherheit der Pilgerwege ins Heilige Land auf. Viele, vor allem westfränkische Adlige folgten seinem Aufruf und hofften, die eigene Neigung zur Brutalität in diesem Kampf zu besiegen und für die eigenen, zuhause verübten Verbrechen Sühne zu leisten. Doch der Kampf für den „Gottesfrieden“ wurde – je länger, je mehr – zum Debakel. Urbans Argumente jedoch sind nicht so weit entfernt von manchem, was ich in den letzten Wochen auf Facebook und in Kommentarspalten gelesen habe. Wer mag, kann seine Rede von Clermont hier auf Deutsch nachlesen.
Guter Artikel, welcher zum Weiterdenken anregt.
Ein „dritter Weg“ zwischen den Schwarz-Weiß Extremen von „Pazifismus“ und „gerechtem Krieg“ erfordert von erwachsenen Menschen, dass sie die Mechanismen und Muster ihres eskalierenden „(Konflikt-)Spiels“ beenden, um ein anderes, neues Spiel auf einer anderen Ebene zu wagen.
Kriegs-„Spiele“ haben mit dem Kampf um „Gerechtigkeit“ zu tun. Sie ändern sich, wenn eine der Konfliktparteien erkennt, grundsätzlich zu verlieren und niemals gewinnen zu können, durch den Einsatz von noch mehr(!) derselben(!) Gewalt, als sie selbst erfahren hat. Die Einsicht folgt auf dem Fuß, sich dadurch in jedem Fall „schuldig“ zu machen und noch mehr, derselben Gegengewalt erwarten zu dürfen. Auf dem Boden der Einsicht vom „Unsinn“ solcher „Minusspiele“ (Loose-Loose-Spiele), wächst die Erkenntnis von „Sinn“.
Sich selbst (unbeweglich und ausschließlich) als „Opfer“ zu positionieren und zu definieren, führt dazu, dass jemand zwangsläufig die Rolle des Täters einnehmen muss. Letztlich wird ein solches Selbstverständnis als „Opfer“, die Vernichtung(!) des „Täters“ fordern, um künftig jeden Möglichkeit von Übergriffigkeiten zu verhindern.
Allein dadurch wird erkennbar, dass „Opferhaltungen“ keineswegs „gewaltfrei“ sind. Die Auto-Aggression des Opfers wird als legitimer „Selbstschutz“ vor dem Bösen im Anderen ausgelegt. Unbewusst wird das eigene Böse in den anderen hineininterpretiert.
Auch unbewusste Projektionen wollen legitimiert werden, um nicht hinterfragt werden zu können.
Kommen sie als „Auftrag von Gott“ daher, wird ihnen höchste Weihe verliehen.
Ihre Apolegeten verstehen es anschließend sehr wohl, daraus eine fundamentale (zweiwertlogische, Schwar-weiß-) Ideologie zu formulieren.
Offene Dialoge dagegen streben Win-Win-Situationen für alle Beteiligten an, fördern Handel und kulturellen Austausch.
Wer offen ist für einen Dialog hört zu, rechnet mit Missverständnissen, fragt nach, will lernen, und ist bereit sich Konflikten und unbequemen Fragen zu stellen.
Dialogfähigkeit setzt voraus, sich seiner eigenen „Gewalt“ (Macht) im Klaren zu sein – um sie situativ so wohl dosiert einzusetzen, dass weder ein „gerechter Krieg“ noch ein „Pazifismus“ angestrebt wird, sondern vielmehr ein „gerechter Friede“.
Basis dafür scheint mir die grundsätzliche Empathiefähigkeit des Menschen mit sich und anderen zu sein. Solange Menschen den eigenen und den Schmerz eines Anderen fähig sind zu spüren, spielen sie m.E. lieber Deeskalations- und Kooperationsspiele. Daraus entsteht ein Klima wachsender Spiritualität. Sie führt zu immer mehr und guter Verbundenheit mit allem Lebendigen.
„Gewaltfreiheit“ hat nichts mit dem Fehlen jeglicher Gewalt (d.h. Ohnmacht, bzw. Machtlosigkeit) zu tun. Gewaltfrei leben heißt, sich seiner „Gewalt“ sicher zu sein und diese situativ so einzusetzen, dass sie konfliktlösend, versöhnlich, deeskalierend, vertrauensbildend, beziehungsheilend wirkt.
„Wenn ihr also in der Gefahr steht, müde zu werden, dann denkt an Jesus!
Wie sehr wurde er von sündigen Menschen angefeindet,
und wie geduldig hat er alles ertragen!
Wenn ihr euch das vor Augen haltet, werdet ihr nicht den Mut verlieren.“
Hebr. 12,3
Danke fürs Weiterdenken. Ich zögere nur bei der Verwendung des Begriffs „Gewalt“ im vorletzten Absatz noch etwas. Da wäre mir wohler, wenn wir in neutralen Sinn von „Macht“ reden könnten und „Gewalt“ (das ist im Deutschen aber tatsächlich weniger eindeutig als im Englischen) negativ konnotiert bliebe.
Hallo Peter,
sehr cooler Artikel. Das Buch von Walter Wink hat mich -auf Englisch- vor Jahren auf eine lange Reise geschickt.
Ich habe da im selben Zusammenhang auch nachgedacht. Aber ich frage mich, ob dieses Prinzip der Gewaltfreiheit auch bei denen funktioniert, die die Gewalt lieben und suchen.
Der Ansatz Jesu und Winks ist ja, durch Übersteigerung das schreckliche Gesicht der Gewalt offenzulegen, die sich ja gerne auch religiös tarnt (Girard). Wenn ich die andere Wange hinhält und der Andere mich dann so schlägt, dass es die anderen empört, weil es das übliche Maß übersteigt.
Aber funktioniert das auch bei denen, die die Gewalt lieben und die die Empörung der anderen sogar lieben?
Also mir das Konzept der Gewaltlosigkeit nach Wink schon klar und ich habe das intensiv studiert, etwa bei Martin Luther King, und ich stimme dem auch zu. Aber ich frage mich, ob es auch bei denen funktioniert, die nur noch die Gewalt suchen.
Ehrliche Frage.
Alles Gute,
André Springhut