Väter, Freunde, Wohltäter – und was das mit „Glauben“ zu tun hat

Vergleichspunkte zwischen der Welt der Evangelien und der heutigen Gesellschaft sind ein wichtiges Thema, wenn es um das Verstehen der Bibel geht und vor allem die Frage, was christlicher Glaube in der Gegenwart bedeutet und welche Konsequenzen das hat. Richard Horsley hat die Machtverhältnisse im römischen Reich, also den gesellschaftlichen Hintergrund der neutestamentlichen Texte, dazu genauer analysiert. Fangen wir also mit dem Damals an und kommen dann zum Heute.

Rom war ein expansives Imperium, das sich unter dem Vorwand, sich schützen zu müssen, aller Konkurrenz (Karthago, Korinth, etc.) entledigt hatte. Weil die Truppenstärke im Riesenreich begrenzt war, setzte man auf Einschüchterung durch kalkulierte Brutalität. Wie westliche Kolonialherren der Neuzeit war man der Auffassung, Barbaren verstünden nur die Sprache der Gewalt. Und man glaubte, von den Göttern bevorzugt und mit der Weltherrschaft belohnt worden zu sein – die religiöse Dimension war also immer präsent, wenn andere unterworfen und „zivilisiert“ wurden.

Zu Religion und Militär gehörte auch die Ökonomie. Reichtum war in vorindustrieller Zeit praktisch nur über Grundbesitz zu erwirtschaften und zu sichern. Weil die Römer ursprünglich eine Volksarmee waren, und weil im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. durchgehend jeweils rund 10% der Männer beim Militär waren, verarmten viele Familien während der Monate und Jahre dauernden Eroberungskriege. Sie mussten sich bei den Patriziern verschulden (aus deren Reihen die Offiziere stammten!), schließlich wurde ihr Land gepfändet, sie wurden zu Tagelöhnern oder ganz aus der Heimat vertrieben. Sie zogen zu Hunderttausenden in die Städte, während die immer reicher werdenden Großgrundbesitzer Sklaven aus den eroberten Gebieten als Landarbeiter auf ihren Gütern einsetzten. Horsley nennt das den „militärisch-agrarischen Komplex“. Kriege machten die Reichen reicher und die Armen ärmer.

In den Städten entwickelte sich daraufhin ein Sozialsystem aus reichen Patriziern und armer Unterschicht. Die Terminologie war dabei familiär gewählt – der „Patron“ sorgte für seine Leute wie ein Vater. Damit war nicht ein Verhältnis von Liebe und Nähe beschrieben, sondern eines der Abhängigkeit, des sozialen Gefälles und undurchlässiger Barrieren zwischen den Ständen, das die Spirale der Verarmung, Landflucht und prekären Existenz verstetigte. Die berühmte Formel „Brot und Spiele“ charakterisiert das Verhältnis beider Seiten insofern treffend, als sich etwa die Hälfte der römischen Plebs von den Patronen „durchfüttern“ ließ – dazu wurde tonnenweise Getreide in die Stadt geschafft. Für die Provinzen bedeutete das eine immense Abgabenlast. In Judäa etwa mussten die Bauern den Römern, ihrem Vasallenkönig Herodes und den geldgierigen Tempelpriestern in Jerusalem große Anteile ihrer Ernte abtreten. Die Spiele (rund 4 Monate im Jahr wurde gefeiert!) wiederum waren zugleich religiöse Feste, das Opferfleisch war für viele Armen die einzige Möglichkeit, Fleisch zu essen. Die Magnaten verteilten einen Teil ihrer Beute aus Feldzügen, Steuerpacht und Grundbesitz wieder im Volk.

Augustus und seine Nachfolger setzten sich an die Spitze der Pyramide als „Patrone der Patrone“. Hohe Ämter in Militär und Verwaltung der Provinzen wurden nach Loyalität und Nähe zur kaiserlichen Familie vergeben, und das System setze sich nach unten fort. Lokale Eliten konnten sich als Freunde der Freunde des (Gott-)Kaisers fühlen. Horsley erläutert:

Die Pyramiden persönlich-ökonomischer Machtverhältnisse hatten auch politisch eine einigende Wirkung, zumindest an der Spitze unter den Reichen und Mächtigen, die in ihren Städten, Provinzen und Möchtegern-Königreichen den Ton angaben. Viele jener Inschriften, die Prominente aus der Provinz ihrem imperialen Patron widmeten brachten die imperiale Ideologie zum Ausdruck: die Römer erwiesen ihre fides (griech.: pistis), Loyalität im Sinne von Schutz, währen die Freunde Roms ihre fides zeigten, das heißt, ihre Loyalität Rom gegenüber. Viele werden diese Sprache in den Paulusbriefen wiederfinden, wo pistis in der Regel als „Glaube“ übersetzt wird, was nur auf die Dominanz des imperialen Kontext hindeutet, in dem Paulus arbeitete.

Paternalistische „Vaterschaft“ als Ausdruck der sozialen Spaltung würde erklären, warum Jesus sich in der Pharisäerrede des Matthäusevangeliums so vehement gegen den Titel „Vater“ wendet. Konservative Theologien jedoch neigen bis heute mehrheitlich dazu, ein autoritäres Machtverständnis in dem Sinne zu transportieren, dass sie Gott als himmlischen Souverän eine Etage über den jeweilgen Machtpyramiden platzieren, deren Struktur indes weithin unverändert bleibt.

Und „Glaube“ in der unterwürfigen Form des Klienten, das ist etwas, was unter veränderten Bedingungen (aber, anders als im Mittelalter, ähnlich freiwillig) heute wieder entwickelt. Letzte Woche sagte der Berliner Philosoph Byung-Chul Han in der Zeit im Blick auf „Big Data“ und die digitale Überwachungsgesellschaft:

… von der Struktur unterscheidet sich diese Gesellschaft nicht vom Feudalismus des Mittelalters. Wir befinden uns in einer Leibeigenschaft. Die digitalen Feudalherren wie Facebook geben uns Land, sagen: Beackert es, ihr bekommt es kostenlos. Und wir beackern es wie verrückt, dieses Land. Am Ende kommen die Lehnsherren und holen die Ernte. Das ist eine Ausbeutung der Kommunikation. Wir kommunizieren miteinander, und wir fühlen uns dabei frei. Die Lehnsherren schlagen Kapital aus dieser Kommunikation. Und Geheimdienste überwachen sie. Dieses System ist extrem effizient. Es gibt keinen Protest dagegen, weil wir in einem System leben, das die Freiheit ausbeutet.

Wohltäter und Abhängige in einem System, das den Wohlstand der Wohltäter und die Ohnmacht der Abhängigen fördert, Heilsversprechen (im Sinne einer Perfektionierung der Welt) und gesponsertes Entertainment, Freunde und „Amigos“ – hier liegen die Parallelen. Das römische Imperium hat die junge Kirche als Bedrohung verstanden, und auch wenn an der Begründung vieles falsch war, war diese Ahnung goldrichtig. Heute ist es der Bundesinnenminister, der politische Exponent des Sicherheitsapparats, der in den Christen Gegner dieser Ordnung erkennt. Keine Staatsfeinde, die das Gemeinwesen zerstören, aber Menschen, die Gesellschaft, Regierung und Behörden daran erinnern, welche Verantwortung sie tragen – nämlich auch für die Menschen, die zu uns kommen.

Das ist doch wenigstens schon mal ein guter Anfang, dass wir den „Glauben“ an Staat und Konzerne verlieren. Und zwar nicht im Sinne einer dümmlichen „Pseudoskepsis“, die an allem zweifelt außer an sich selbst, wie Sascha Lobo schreibt, sondern weil uns die Jesustradition immer wieder aus unserer Trägheit herausreißt, indem sie uns auf den leidenden Nächsten verweist.

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Jeder Christ ein Fanatiker?

Das hier schon gelegentlich zitierte Buch von Schleichert ließ sich nach dem trockenen Beginn recht gut an, inzwischen jedoch quäle ich mich eher durch die Seiten. Nicht, weil es nicht verständlich wäre, sondern weil Schleicherts geballte Vorurteile nun richtig zu Buche schlagen.

Der kurze Abschnitt über subversives Argumentieren brachte wenig Neues. Dagegen verdichtet sich der Eindruck, dass jede Religion, die „heilige Texte“ hat (bei Ideologien, die Schleichert ursprünglich auch einbeziehen wollte, gibt es das genau genommen ja gar nicht), zu Fundamentalismus, Intoleranz und Gewalt neigt, weil die in diesen Texten (d.h. Bibel und Koran) ja enthalten und nicht zu tilgen sei. Folglich sind auch moderate Vertreter (er bezieht sich hier auf Christen und gelegentlich auch Juden) nur als inkonsequent zu betrachten, im Grund haben die Fanatiker den eigentlichen Glauben besser verstanden. Nun gehe es darum, Fanatikern wie Gemäßigten vor Augen zu führen, was sie da eigentlich Verrücktes und Schlimmes glauben.

Subversiv gedacht müsste man nun fragen, wo wir hinkämen, wenn – was leider nicht ausgeschlossen scheint – zum Beispiel die Kontrahenten in Sachen Stuttgart 21 nun nach folgender Maxime von Schleichert handelten (S. 118):

Den Gegner ernst nehmen, heißt vor allem, sein intolerantesten, bösartigsten, extremsten Sentenzen und Programm ernst nehmen, und niemals zu sagen, dass es „so schlimm schon nicht kommen wird“.

Es folgt der unvermeidliche Hinweis auf „Mein Kampf“. Im Prinzip macht Schleichert hier mit Christen nichts anderes, als was Alice Schwarzer und andere momentan mit dem Islam machen: Er unterstellt, dass der Extremist die eigentliche Norm sei und man daher immer mit dem Schlimmsten zu rechnen habe. Für Schwarzer ist jemand wie Tariq Ramadan nur der raffinierteste Verführer von allen – Christopher Hitchens lässt grüßen (hier ein lesenswerter Beitrag von William T. Cavanaugh zur Problematik). Auch Schwarzer verweist natürlich auf „Mein Kampf“. Das Gute an dieser Logik ist, dass man sich so mit den vielen Beispielen gar nicht mehr beschäftigen muss, die die eigene These gefährden könnten.

Nun kann man als Christ weder leugnen, dass es in der Vergangenheit kirchlich sanktionierte Gewalt gab, noch dass es heute militante Christen gibt. Man kann höchstens versuchen, letztere als Randerscheinung abzutun. Oder als Verirrung: Die eigentliche Aufgabe wäre dann der Nachweis, dass religiöser Gewalt aus christlicher Sicht immer ein Missverständnis der Bibel in ihrer Gesamtheit zugrunde liegt. Der wiederum scheint mir nur gelingen zu können, wenn man die unterschiedlichen biblischen Texte nicht pauschal und eindimensional als wörtlich eingegeben und unfehlbar betrachtet, sondern begründen kann, dass manche Texte (z.B. die Bergpredigt) ein höheres Gewicht haben als andere (z.B. Texte über den Bann und den Heiligen Krieg im AT). Oder anders gesagt: dass es (im krassen Unterschied zu „Mein Kampf“) durchaus eine innerbiblische Bibel- und Sachkritik gibt. Wo das versäumt oder unterlassen wird, da wird man weiter mit dem Verdacht leben müssen, ein ambivalentes Verhältnis zu Zwang und Gewalt zu pflegen, das nur aus taktischen Gründen Zurückhaltung übt, solange die Mehrheitsverhältnisse ungünstig sind. Hier bei uns fragt man sich das momentan im Blick auf dem Islam, in den USA muss man jedoch diese Sorge eher beim Christentum eines Glenn Beck und der Teaparty-Bewegung (und deren Verklärung von Krieg, Todesstrafe und Waffenbesitz) haben – oder manche fragwürdige Synthese von Orthodoxem Christentum und Staatsmacht in (Süd-)Osteueropa.

Man kann nun natürlich den Spieß umdrehen und fragen, ob nicht auch die säkularistische Position ganz ohne Heilige Schriften dieselbe Ambivalenz aufweist und nun ihrerseits vor dem Dilemma steht, ohne Rekurs auf einen Kanon nachweisen zu müssen, dass solche Auswüchse nicht in der Konsequenz der Anschauung liegen, sondern ihrem Wesen zuwiderlaufen – ein ebenso unmögliches Unterfangen; ob wir also mit einer Erziehungsdiktatur zu rechnen haben, deren Konsequenzen aus Angst vor dem Islamismus auch von Christen unterschätzt werden.

So gesehen ist es interessant, Schleichert aus dieser doppelten Perspektive zu lesen: Wie geht er hier mit Christen um – und warum sollte es erlaubt sein, als Christ Muslimen gegenüber dieselbe Logik anzuwenden? An den Islam gerichtet stellt sich aber auch die Frage, ob es (wie in weiten Teilen des westlichen Christentums) in der Koranauslegung plausible Ansätze gibt, die zu einer im umfassenden Sinn gewaltfreien Praxis führen, und das verlässlich und dauerhaft. John Milbank, der das Dreieicksverhältnis von Christentum, Islam und Aufklärung untersucht, sieht in den mystischen Strömungen des Islam eine größere Offenheit in dieser Richtung.

Viele interessante Fragestellungen also…

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