Die Freiheit des Zweifels

Ein Jahr vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, des letzten und verheerendsten Religionskrieges auf dem europäischen Kontinent, schrieb der Kroate Marko Gospodnetić, besser bekannt als Markantun de Dominis, damals Erzbischof von Split den Satz „Omnesque mutuam amplecteremur unitatem in necessariis, in non necessariis libertatem, in omnibus caritatem.“

Der zur griffigen Formel Satz ist als „In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas“ in die Kirchengeschichte eingegangen: „Im Notwendigen herrsche Einmütigkeit, im Zweifelhaften Freiheit, in allem aber Nächstenliebe“. Sein jesuitischer Autor legte das Bischofsamt im Streit nieder, lehrte zwischendurch in Oxford und Cambridge, bis er nach seiner Rückkehr von der Insel von der Inquisition verhaftet und bis zu seinem Lebensende in der Engelsburg eingesperrt wurde. Seine Bücher wurden nach seinem Tod 1624 verbrannt.

Das Schicksal ihres weisen Autors zeigt schon, dass eine solche Haltung keineswegs immer populär war. Vielmehr hat es zu allen Zeiten die Versuchung gegeben, die notwendige Einheit zu erzwingen und die Liebe dabei zu vergessen, beziehungsweise den Zwang als eine besonders „toughe“ Form der Liebe auszugeben. Wie der dreigliedrige Spruch auch schön zeigt, ist der Ausschluss jeglichen Zweifels (oder psychologisch ausgedrückt: aller Ambivalenz) dabei oft das entscheidende Motiv: Es hat in möglichst allen Bereichen maximale Eindeutigkeit zu herrschen. Also im Zweifel lieber doch keine Freiheit.

Doubt by Beshef, on Flickr
Doubt“ (CC BY 2.0) by Beshef

Funktionieren konnte als dies nur da, wo christliche Kirchen und Gemeinschaften entweder über äußere oder innere Druckmittel verfügten, mit denen sie ihre „Schäfchen“ bei der Stange halten konnten. Heute gelingt das nur noch über psychische Manipulation: Indem man Feindbilder errichtet, Ängste und Vorurteile schürt, das Vertrauen der Menschen in das eigene Urteil schwächt und aus dieser Wagenburg-Mentalität heraus blinde Loyalität beschwört.

Folglich sehen wir heute eben jene ambivalente Entwicklung: homogene Gruppen mit einem sehr „klaren“ Profil (dazu zählen neben chronisch und zwanghaft Ambivalenz-aversen Fundamentalismen unter anderem auch manche Gründungen in der aufregenden Pionierphase) wirken oft ungemein anziehend auf Menschen in einer verwirrend widersprüchlichen, komplexen Welt. Dietrich Bonhoeffer warnte einmal in einem etwas anderen Zusammenhang: „Es ist nun aber die Gefahr in aller starken Liebe, dass man über ihr – ich möchte sagen: die Polyphonie des Lebens verliert.“

Folglich fliehen viele spätestens dann aus der Enge, die anfangs so viel Geborgenheit vermittelte, wenn sie die „Klarheit“ in einen Konflikt stürzt, der nicht mehr aufzulösen ist. Auch hier spielen der Umgang mit Ambivalenzen (eben der „Polyphonie des Lebens“) eine Rolle. Das Scheitern einer Ehe zum Beispiel ist immer schlimm, aber wenn ein Pfarrer den Eindruck erweckt, „richtigen“ Christen könne so etwas ja nicht passieren, ist es eine doppelte Katastrophe für die Betroffenen. Es stellt die Echtheit des eigenen Glaubens und die Beziehungen zur Gemeinde automatisch mit in Frage und schneidet Menschen von der Hilfe ab, die sie dringend brauchen.

Der weise Parker Palmer hat die Alternative so beschrieben:

Authentische Spiritualität will uns öffnen für die Wahrheit – was auch immer die Wahrheit ist, wohin auch immer die Wahrheit uns führt. Eine solche Spiritualität diktiert nicht, wohin wir gehen müssen, sondern vertraut darauf, dass jeder Weg, den wir mit Integrität gehen, uns zur einem Ort der Erkenntnis führt. Eine solche Spiritualität macht uns Mut, Vielfalt und Konflikt zu begrüßen, Ambivalenz auszuhalten und das Paradoxe anzunehmen.

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Jeder Christ ein Fanatiker?

Das hier schon gelegentlich zitierte Buch von Schleichert ließ sich nach dem trockenen Beginn recht gut an, inzwischen jedoch quäle ich mich eher durch die Seiten. Nicht, weil es nicht verständlich wäre, sondern weil Schleicherts geballte Vorurteile nun richtig zu Buche schlagen.

Der kurze Abschnitt über subversives Argumentieren brachte wenig Neues. Dagegen verdichtet sich der Eindruck, dass jede Religion, die „heilige Texte“ hat (bei Ideologien, die Schleichert ursprünglich auch einbeziehen wollte, gibt es das genau genommen ja gar nicht), zu Fundamentalismus, Intoleranz und Gewalt neigt, weil die in diesen Texten (d.h. Bibel und Koran) ja enthalten und nicht zu tilgen sei. Folglich sind auch moderate Vertreter (er bezieht sich hier auf Christen und gelegentlich auch Juden) nur als inkonsequent zu betrachten, im Grund haben die Fanatiker den eigentlichen Glauben besser verstanden. Nun gehe es darum, Fanatikern wie Gemäßigten vor Augen zu führen, was sie da eigentlich Verrücktes und Schlimmes glauben.

Subversiv gedacht müsste man nun fragen, wo wir hinkämen, wenn – was leider nicht ausgeschlossen scheint – zum Beispiel die Kontrahenten in Sachen Stuttgart 21 nun nach folgender Maxime von Schleichert handelten (S. 118):

Den Gegner ernst nehmen, heißt vor allem, sein intolerantesten, bösartigsten, extremsten Sentenzen und Programm ernst nehmen, und niemals zu sagen, dass es „so schlimm schon nicht kommen wird“.

Es folgt der unvermeidliche Hinweis auf „Mein Kampf“. Im Prinzip macht Schleichert hier mit Christen nichts anderes, als was Alice Schwarzer und andere momentan mit dem Islam machen: Er unterstellt, dass der Extremist die eigentliche Norm sei und man daher immer mit dem Schlimmsten zu rechnen habe. Für Schwarzer ist jemand wie Tariq Ramadan nur der raffinierteste Verführer von allen – Christopher Hitchens lässt grüßen (hier ein lesenswerter Beitrag von William T. Cavanaugh zur Problematik). Auch Schwarzer verweist natürlich auf „Mein Kampf“. Das Gute an dieser Logik ist, dass man sich so mit den vielen Beispielen gar nicht mehr beschäftigen muss, die die eigene These gefährden könnten.

Nun kann man als Christ weder leugnen, dass es in der Vergangenheit kirchlich sanktionierte Gewalt gab, noch dass es heute militante Christen gibt. Man kann höchstens versuchen, letztere als Randerscheinung abzutun. Oder als Verirrung: Die eigentliche Aufgabe wäre dann der Nachweis, dass religiöser Gewalt aus christlicher Sicht immer ein Missverständnis der Bibel in ihrer Gesamtheit zugrunde liegt. Der wiederum scheint mir nur gelingen zu können, wenn man die unterschiedlichen biblischen Texte nicht pauschal und eindimensional als wörtlich eingegeben und unfehlbar betrachtet, sondern begründen kann, dass manche Texte (z.B. die Bergpredigt) ein höheres Gewicht haben als andere (z.B. Texte über den Bann und den Heiligen Krieg im AT). Oder anders gesagt: dass es (im krassen Unterschied zu „Mein Kampf“) durchaus eine innerbiblische Bibel- und Sachkritik gibt. Wo das versäumt oder unterlassen wird, da wird man weiter mit dem Verdacht leben müssen, ein ambivalentes Verhältnis zu Zwang und Gewalt zu pflegen, das nur aus taktischen Gründen Zurückhaltung übt, solange die Mehrheitsverhältnisse ungünstig sind. Hier bei uns fragt man sich das momentan im Blick auf dem Islam, in den USA muss man jedoch diese Sorge eher beim Christentum eines Glenn Beck und der Teaparty-Bewegung (und deren Verklärung von Krieg, Todesstrafe und Waffenbesitz) haben – oder manche fragwürdige Synthese von Orthodoxem Christentum und Staatsmacht in (Süd-)Osteueropa.

Man kann nun natürlich den Spieß umdrehen und fragen, ob nicht auch die säkularistische Position ganz ohne Heilige Schriften dieselbe Ambivalenz aufweist und nun ihrerseits vor dem Dilemma steht, ohne Rekurs auf einen Kanon nachweisen zu müssen, dass solche Auswüchse nicht in der Konsequenz der Anschauung liegen, sondern ihrem Wesen zuwiderlaufen – ein ebenso unmögliches Unterfangen; ob wir also mit einer Erziehungsdiktatur zu rechnen haben, deren Konsequenzen aus Angst vor dem Islamismus auch von Christen unterschätzt werden.

So gesehen ist es interessant, Schleichert aus dieser doppelten Perspektive zu lesen: Wie geht er hier mit Christen um – und warum sollte es erlaubt sein, als Christ Muslimen gegenüber dieselbe Logik anzuwenden? An den Islam gerichtet stellt sich aber auch die Frage, ob es (wie in weiten Teilen des westlichen Christentums) in der Koranauslegung plausible Ansätze gibt, die zu einer im umfassenden Sinn gewaltfreien Praxis führen, und das verlässlich und dauerhaft. John Milbank, der das Dreieicksverhältnis von Christentum, Islam und Aufklärung untersucht, sieht in den mystischen Strömungen des Islam eine größere Offenheit in dieser Richtung.

Viele interessante Fragestellungen also…

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