Die Ferne zu den anderen

Die Ferne zu den anderen … wird noch einmal größer, wenn uns klar wird, dass unsere Gestalt den Anderen nicht so erscheint wie den eigenen Augen. Menschen sieht man nicht wie Häuser, Bäume und Steine. Man sieht sie in der Erwartung, ihnen auf bestimmte Weise begegnen zu können und sie dadurch zu einem Stück des eigenen Inneren zu machen. Die Einbildungskraft schneidet sie zurecht, damit sie zu den eigenen Wünschen und Hoffnungen passen, aber auch so, dass sie an ihnen die eigenen Ängste und Vorurteile bestätigen können. Wir gelangen nicht einmal sicher und unvoreingenommen bis zu den äußeren Konturen eines Anderen. Unterwegs wird der Blick abgelenkt und getrübt von all den Wünschen und Phantasmen, die uns zu dem besonderen, unverwechselbaren Menschen machen, der wir sind. Selbst die Außenwelt einer Innenwelt ist noch ein Stück unserer Innenwelt, ganz zu schweigen von dem Gedanken, die wir uns über die fremde Innenwelt machen und die so unsicher und ungefestigt sind, dass sie mehr über uns selbst als über den anderen aussagen.

Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon, S. 100

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Eine Antwort auf „Die Ferne zu den anderen“

  1. Schöner Textauszug…
    Diese unüberbrückbaren Ferne besteht aber ja nicht nur zum Anderen, sondern wir bleiben uns in diesem Sinn auch selbst immer zu einem gewissen Grad fern und können nicht eindeutig wahrnehmen, wie wir sind. Der Blick auf uns selbst ist getrübt.
    Der einzige Trost, den ich da persönlich empfinde, ist der, dass ich auf der Suche nach dem einzig Wahrhaftigen auch lerne mich selbst wahrer zu sehen, und hoffentlich auch den Anderen neben mir…

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