Die falsche Identifikation mit den Opfern

Die Terroranschläge der letzten Woche von Beirut und Paris haben eine Welle der Solidarisierung ausgelöst. Wobei Paris es deutlich öfter in den Facebook-Status schafft als Beirut, was auch schon viel aussagt. Richtig verstanden heißt so eine Geste trotzdem erst einmal: Ich fühle mich mit den Opfern dieser Gewaltakte verbunden und teile ihren Schmerz.

Es gibt offenbar aber auch eine andere Seite: Über die Identifikation mit den Opfern stilisiere ich mich selbst zum Opfer und beginne dann im Namen der Opfer auf Vergeltung zu sinnen. Das ist doppelt raffiniert: als freiwillige Geste wahrt es den Anschein der Selbstlosigkeit, der Opferstatus immunisiert gegen Kritik daran, dass man die Gelegenheit ausnutzt, um alte Rechnungen zu begleichen.

So wie all jene, die bei jeder erstbesten Gelegenheit ihre Vorurteile gegen Muslime und Flüchtlinge als notwendigen Realismus ausgeben und jedem, der anders denkt, Unverantwortlichkeit oder „Gutmenschenkitsch“ unterstellen. Das Tolle am geborgten Opferdasein ist nämlich, dass man relativ ungestraft um sich schlagen und treten darf, obwohl man doch eigentlich unversehrt ist. Je mehr einer austeilen will, desto mehr muss er erst einmal beschwören, wie übel ihm ständig mitgespielt wird.

Zu den absurden Entwicklungen nicht erst dieser Tage gehört, dass protestantische Kirchenkampfrhetorik ständig von jenen bemüht wird, die im theologisch-politischen Spektrum weit rechts stehen. Und nicht von ungefähr war im Postillon kürzlich süffisant, aber treffend zu lesen: „Die eigene Meinung steht unter dem Schutz der Meinungsfreiheit. Die Meinung der Anderen ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit.“ Auch das ist eine Art präventive Täter-Opfer-Umkehr.

Wunderbar beobachten lässt sich das derzeit am Verhalten Russlands: Nach dem Absturz des Passagierflugs über dem Sinai ließ die Regierung bisher kaum etwas über die Hintergründe verlauten. Nun, seit weltweit Empörung herrscht über das Morden in Paris, ist urplötzlich alles geklärt, der IS ist schuld und Putin bietet den Franzosen seine Hilfe bei der Bombardierung des IS in Syrien an, den Russland bisher kaum angetastet hatte, weil es lieber die gemäßigteren Gegner seines Vasallen Assad aufs Korn nahm. Vielleicht glaubt dann ja auch irgendwer, dass Russland im Ukraine-Konflikt das eigentliche Opfer war…?

Neben den handfest und unmittelbar Betroffenen sind nicht ihre falschen Sympathisanten, die Opfer in Zeiten des Terrors, sondern der Frieden. Wie wäre es, wird würden uns mit ihm solidarisch erklären und identifizieren? Etwa mit den Worten von Antoine Leiris, dessen Frau am Freitag in Paris ums Leben kam, und der in einer Art offenem Brief an die Attentäter schrieb:

Wenn dieser Gott, für den ihr blind tötet, uns nach seinem Bild geschaffen hat, dann muss jede Kugel, die meine Frau getroffen hat, eine Wunde in sein Herz gerissen haben. Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen.

Diese Entschlossenheit, sich nicht im Opferdasein einzurichten, ist der einzige Weg zu verhindern, dass es immer noch mehr Opfer gibt in dieser Welt, weil die erlittene Gewalt aus bislang friedlichen Opfern neue Gewalttäter macht. Und dass (wie vor nicht ganz hundert Jahren) ein kollektiver Opfermythos gedeihen kann, der uns in den nächsten verheerenden Krieg stürzt. Oder auch nur in den nächsten überflüssigen „Kirchenkrampf“.

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2 Antworten auf „Die falsche Identifikation mit den Opfern“

  1. In Zeiten wachsender Gewalt und Gewaltbereitschaft siegt allenfalls Entschlossenheit sich weder im Opferdasein noch im Täterdasein einzurichten. Bleibt als Ausweg eben jener „dritte Weg“: ein „Sohn des Friedens“ – oder ein „Narr“ – zu werden, welche sich in mancher Hinsicht in ihrem „Impact“ überschneiden, bzw. Ähnlichkeiten aufweisen:
    https://www.youtube.com/watch?v=lOZ2VLSccds

  2. Als ich bei „Angriff auf die Meinungsfreiheit“ das Zitat las, hab ich gestutzt. Pegida hat ja vergleichsweise gemäßigt angefangen, da war so ein Ausspruch verständlich. Nur dann hab ich das Datum gelesen, an dem das Zitat online gestellt wurde …

    Übel.

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