Der Schmerz der anderen

Seit einer Weile lese ich „Den Schmerz der anderen begreifen“ von Charlotte Wiedemann. Ich bin Anfang Dezember über einen Artikel in der taz auf sie aufmerksam geworden. Einiges, womit ich mich im vergangenen Jahr befasst habe, passt dazu.

Zum einen waren das Judith Butlers Gedanken über Gewaltlosigkeit, in denen sie das Kriterium der „Betrauerbarkeit“ eingeführt hat. Manche Opfer von Gewalt und Zerstörung werden betrauert, andere sind anscheinend unsichtbar oder bedeutungslos. Ihnen kann folglich Gewalt angetan werden, ohne dass man dafür zur Rechenschaft gezogen wird.

Die andere große Lernerfahrung war die Vorlesungsreihe von Timothy Snyder über die Geschichte der Ukraine. Sie ist in 23 Teilen auf Youtube zu sehen, und er nimmt darin ständig Bezug auf den Krieg, der dort gerade tobt, und dessen ideologische Rechtfertigung durch die russische Seite: Die Ukraine sei kein richtiges Land und sei es nie gewesen, sie habe nur unter russischer Führung eine Daseinsberechtigung, sie sei korrupt und/oder faschistisch, Teil einer jüdischen/liberalen/westlichen Weltverschwörung gegen das heilige Russland, das seinerseits Erbin des Byzantinischen Weltreichs und Bewahrerin des wahren Christentums sei.

Deutschland, sagt Snyder, hat zwar bei der Aufarbeitung der Shoah viel geleistet, aber die imperialen und kolonialen Aspekte beider Weltkriege im Blick auf Osteuropa und ganz besonders die Ukraine blieben unterbelichtet. Ebenso wie die Tatsache, dass sehr viel mehr osteuropäische als deutsche Juden ermordet wurden. Und die Aussöhnung mit der UdSSR ließ das Unrecht, das Deutsche und Russen den anderen Osteuropäern (Polen, Ukrainer, Balten…) gemeinsam oder je für sich zugefügt haben, weitgehend unerwähnt. In dem Video unten fasst Snyder das alles griffig und nachvollziehbar zusammen.

Diese Woche ist Holocaustgedenktag, da kommt dieser Schmerz (und seine jahrzehntelange Verdrängung) wieder in den Blick. Nicht betrauertes, verschwiegenes und vertuschtes Leid begünstigt offenbar neue Katastrophen. Wiedemann skizziert zu Beginn des Buches die Verwicklungen und Verbindungen für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Den hatten die Siegermächte England und Frankreich auch deshalb gewonnen, weil sie Truppen aus ihren Kolonien in Afrika und Asien einsetzten.

Omar Sy, den meisten von uns eher durch Action und Komödien bekannt, hat sich des Themas in seinem aktuellen Film Tirailleurs angenommen:

Als diese Kämpfer in ihre Heimat zurückkehrten, hofften sie mit Recht, dass das erstrittene Selbstbestimmungsrecht der Völker demnächst auch für sie gelten würde. Aber ihre Unabhängigkeitsbestrebungen wurden brutal unterdrückt. Frankreich etwa setzte dafür die Fremdenlegion ein. Einen Großteil der Legionäre hatte man nach Kriegsende aus deutschen Kriegsgefangenen rekrutiert. So kam es dazu, dass viele Menschen aus den Kolonien, die Frankreich von Hitlers Truppen befreit hatten, von deutschen Söldnern im Auftrag ihrer Kolonialherren mit Kriegsverbrechen überzogen wurden. Sie erlebten genau das, was sie in Europa bekämpft hatten. Kein Wunder also, dass damals immer wieder Parallelen zwischen dem Algerienkrieg und dem Zweiten Weltkrieg gezogen wurden.

Um solche Verkettungen bewusst zu machen und hoffentlich auch zu unterbrechen, ist es wichtig, sich Rechenschaft zu geben über die „Ökonomie der Empathie“, wie Wiedemann es nennt. Da existieren vielfach blinde Flecken. Im Nachkriegsdeutschland haben wir so lange das eigene Leid in den Vordergund gerückt, dass die Aufarbeitung des Holocausts und deutscher Kriegsverbrechen erst nach Jahrzehnten in Gang kam. Nicht eingeschlossen waren lange Zeit russische Kriegsgefangene, noch etwas länger Sinti und Roma. Und mit den Verbrechen der Kolonialzeit haben wir Deutsche uns sehr viel mehr Zeit gelassen.

Das Gemeinsame all dieser Taten liegt für Wiedemann darin, „den Anderen … aus dem gemeinsamen Menschsein auszuschließen“. Wiedemann erinnert daran, dass es im Blick auf die Shoah eine innerjüdische Debatte zwischen Simon Wiesenthal und Elie Wiesel gab. Wiesenthal wollte die Erinnerung an das eigene Leid in dem Zusammenhang des Leidens anderer Gruppen und Ethnien stellen, Wiesel lehnte das ab und setzte seine Position durch, dass jeder Vergleich eine inakzeptable Relativierung dieses singulären Verbrechens darstellt. Aber Vergleiche werden ständig angestellt und nicht alle sind so empörend und unangemessen wie die Judensterne auf Querdenker-Demos.

Zur Mitte des Buches zieht Wiedemann eine Art Zwischenfazit mit einem Zitat von Fabian Wolff:

Nur wenn die Shoah nicht als hermetisch versiegelter Fakt außerhalb jeder Geschichte verstanden wird, sondern als radikalste Konsequenz einer gewalttätigen Aussonderung und Unterwerfung, als Teil von historischen Prozessen, die nicht 1933 begonnen und nicht 1945 aufgehört haben und in denen es nicht nur um Jüdinnen/Juden und Deutsche geht, kann die Erinnerung an sie die Grundlage dafür sein, dass Auschwitz nie wieder sein wird, egal für wen."

Der Bundestag erinnert diese Woche, 27 Jahre nach Einführung des Holocaust-Gedenktages, in seiner Feierstunde erstmals an die Gräueltaten gegenüber queeren Menschen. In der Aufarbeitung von Völkermord, Staatsterror und Totalitarismus muss die Anerkennung des Leids der unterschiedlichen Gruppen Betroffener jedes einzelne Mal mühsam erkämpft werden, schreibt Wiedemann. Sie erzählt dazu reichlich Beispiele. Wenn es aber einmal geschafft ist, wenn das Gedenken einen Ort und eine Gestalt bekommen hat, dann wundern sich alle, warum es so lange gedauert hat.

Ich bin gespannt, was die zweite Hälfte des Buches noch an Einsichten bringt.

(Foto von Louis Galvez auf Unsplash)

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