Ich knüpfe an das gestrige Zitat von Richard Sennett an. Er bezieht seine Beobachtungen nicht explizit auf Gemeindeleben und Spiritualität, aber manche Parallelen liegen doch auf der Hand:
Narzisstische Charakterstörungen haben deshalb so zugenommen, weil die heutige Gesellschaft ihre inneren Ausdrucksprozesse psychologisch organisiert und den Sinn für sinnvolle soziale Interaktionen außerhalb der Grenzen des einzelnen Selbst unterminiert. (S. 22)
Das klingt jetzt noch relativ abstrakt, aber es wird gleich deutlicher, wenn er schreibt:
Technorati Tags: Evangelium, Gefühle, Geschichte, Gesellschaft, Narzissmus
Am häufigsten erlebt der Betroffene den Narzissmus als einen Verkehrungsprozess: Wenn ich bloß mehr empfinden könnte, oder wenn ich bloß wirklich empfinden könnte, dann könnte ich eine Beziehung zum anderen aufnehmen oder eine »wirkliche« Beziehung zu ihm unterhalten. Aber im Augenblick der Begegnung habe ich jedesmal das Gefühl, nicht genug zu empfinden. Der manifeste Gehalt dieser Verkehrung ist eine Selbstanschuldigung, aber dahinter verbirgt sich das Gefühl, von der Welt im Stich gelassen zu sein.
Unwillkürlich hat mich das nicht nur an Gordon Lightfoots Klage in “If you could read my mind”, sondern auch an den Ruf nach »leidenschaftlicher Spiritualität« erinnert und an die vielen (guten und weniger guten, aber stets tiefe Betroffenheit auslösenden) Zurück-zur-ersten-Liebe-Predigten, die ich im Laufe der Zeit gehört habe. Und auch an viele Gespräche mit Leuten, die darüber ihren geistlichen Frust geschoben haben und sich entweder selber dafür fertig oder deshalb anderen (oder, wenn sie ehrlich genug waren: Gott) Vorwürfe machen. Aber setzt nicht manches davon exakt bei diesem Mangel an Empfindung und den damit verknüpften Gefühlen von Schuld und Verlassenheit ein?
Könnten wir das Gefühl nicht von diesem irrsinnigen Druck befreien, indem wir uns daran erinnern, dass Gott sich nicht im Gefühl und der Innerlichkeit offenbart, sondern in Christus – und das heißt eben auch und vor allem: in der Geschichte (eben: sinnvolle soziale Interaktionen außerhalb der Grenzen des einzelnen Selbst)? Und wie können wir diese daher als eine Größe mit eigenem Gewicht zur Kenntnis nehmen – auch indem wir geistliche Übungen entwickeln oder wieder entdecken, die dem Evangelium diese Priorität vor dem Gefühl wieder geben und das “extra nos” des Glaubens herausstellen?
Sehr spannend, wie Du Sennett mit Überlegungen zum Glaubensleben verknüpfst. Danke!