Adam und der Tod

Dass der platonische Gedanke der Unsterblichkeit der Seele und die christliche Vorstellung einer leiblichen Auferstehung zwei verschiedene und letztlich unvereinbare Konzepte sind, spricht sich allmählich herum.

In der theologischen Tradition begegnet vielfach die Ansicht, dass der Mensch im „Urstand“ (da, wo dieser quasi-historisch gedacht wird) unsterblich gewesen sei. Grund dafür ist, dass im Römerbrief der Tod als Folge der Sünde bezeichnet wird (nicht aber – das ich wichtig – als Strafe Gottes).

Interessanterweise hat dieser Rückschluss kaum Anhalt an der biblischen Urgeschichte. Der erste Schöpfungsbericht erwähnt den Tod (und damit auch eine eventuelle Unsterblichkeit) mit keiner Silbe und im zweiten Schöpfungsbericht, zu dem auch die Geschichte vom Fall gehört, heißt es am Ende:

Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt! (Gen 3,22)

So, wie es da steht, heißt das wahrscheinlich, dass Gott den Menschen sterblich erschaffen hatte und ihm nun die Unsterblichkeit verwehrt durch den Ausschluss aus dem Garten Eden, wo der Baum des Lebens steht. Und so erscheint in der gesamten hebräischen Bibel der Mensch als ein endliches, sterbliches Wesen. Und da, wo sich die Hoffnung auf eine Auferweckung abzuzeichnen beginnt, da ist sie etwas anderes als die Rückgewinnung einer ursprünglich nicht nur als Möglichkeit, sondern als Wirklichkeit vorhandenen Unsterblichkeit. Gottes Tat in der Neuschöpfung ist also nicht nur restaurativ, sondern sie geht deutlich über die erste Schöpfung hinaus.

Auch interessant: Die Geschichte vom Fall wird im gesamten AT nicht wieder aufgegriffen (erst im deuterokanonischen Buch Sirach) und im Judentum scheint, wie Walter Klaiber in Schöpfung. Urgeschichte und Gegenwart schreibt, die Diskussion darüber, ob Adam die Menschheit ins Verderben gestürzt hat, erst nach der Katastrophe des Jahres 70 n.Chr. in Gang gekommen zu sein.

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Neues Übersetzungsprojekt

Nach dem ungemein spannenden Einstieg mit Von der Ausgrenzung zur Umarmung: Versöhnendes Handeln als Ausdruck christlicher Identität werde ich in den nächsten Monaten ein weiteres Buch von Miroslav Volf übersetzen, nämlich A Public Faith: How Followers of Christ Should Serve the Common Good. Es geht um die heiß diskutierte Frage, wie Christen in einer pluralistischen Gesellschaft leben können und sollen.

Für alle Interessierten, die gern Englisch lesen: In der Dezemberausgabe des Magazins Political Theology wurde das Buch jüngst besprochen und kommentiert. Es wird im Francke-Verlag erscheinen. Als Appetithappen werde ich immer mal wieder einen prägnanten Satz des geschätzten Autors hier posten.

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Gott und die Geschlechter

In der gegenwärtigen Auseinandersetzung um eine enge oder weite Interpretation von Ehe und Familie taucht immer wieder der Verweis auf die biblischen Schöpfungserzählungen auf. Die Vertreter der engen Auslegung gehen davon aus, dass

  1. diese Texte vor allem präskriptiv zu lesen sind, also Ordnungen darstellen, die keine Variationen zulassen
  2. „Mann“ und „Frau“ komplementär aufeinander bezogen sind, also die Verschiedenheit der Geschlechter eine gegenseitige Ergänzung bewirkt
  3. diese Polarität ihren Ursprung im Wesen Gottes hat und echte Gottebenbildlichkeit erst in der Ehe erreicht ist, während sie in gleichgeschlechtlichen Beziehungen entstellt, verfehlt oder pervertiert wäre.

Walter Klaiber, der frühere Bischof der Evangelisch-methodistischen Kirche und theologisch sicher kein Radikaler, hält das in Schöpfung. Urgeschichte und Gegenwart für eine Überinterpretation von Genesis 1:

Damit ist nicht eine ursprünglich androgyne Gottesvorstellung vorausgesetzt und auch nicht die Gottebenbildlichkeit in der Beziehung von Mann und Frau angesiedelt. Wohl aber wird damit ausdrücklich festgestellt, dass alle Menschen an der Würde, der Vollmacht und der Verantwortung teilhaben. (S. 29)

Nicht die Unterschiedlichkeit, sondern gerade die Gleichheit von Mann und Frau stehen hier im Zentrum. Ganz ähnlich erkennt in Genesis 2 der Mensch („Adam“ ist ja ein Gattungsbegriff, kein Vorname) in der Frau die Gleiche und damit endlich das Gegenüber, das er unter all den anderen Lebewesen vergeblich gesucht hatte.

Ich habe schon verschiedentlich auf das großartige Kapitel in Miroslav Volfs Von der Ausgrenzung zur Umarmung: Versöhnendes Handeln als Ausdruck christlicher Identität verwiesen. Dort kommt Volf zum gleichen Schluss wie Klaiber, dass der Mensch seine Geschlechtlichkeit mit den (allermeisten)Tieren teilt, dass man sie aber nicht zurückprojizieren kann auf Gott selbst:

Wir benutzen maskuline und feminine Metaphern für Gott nicht, weil Gott männlich oder/und weiblich wäre, sondern weil Gott „persönlich“ ist. Von Personen kann man nur in geschlechtlicher Begrifflichkeit reden. Da Menschen, die einzigen personalen Wesen, die wir kennen, nur in der Dualität von Mann und Frau existieren, müssen wir von einem persönlichen Gott in maskulinen und femininen Metaphern reden. (S. 223)

Da Gott jenseits des Unterschiedes der Geschlechter steht, gibt es in Gott keine Entsprechung zum eigentümlich väterlichen Verhältnis, das ein Mann zu seinem Nachwuchs hat. Ein menschlicher Vater kann seine Verantwortung als Vater nicht von Gott ablesen. Was ein Vater von Gott lernen kann, das ist seine Verantwortung als Mensch, der zufällig ein Vater ist und daher eine besondere Beziehung zu seinen Söhnen und Töchtern hat, wie auch zu deren Mutter. Mann kann von Gott, dem Vater, nicht mehr darüber lernen, was es bedeutet, ein menschlicher Vater zu sein, als darüber, was es bedeutet, eine menschliche Mutter zu sein; umgekehrt kann man von Gott, der Mutter, nicht mehr über menschliches Muttersein lernen als man über Vatersein lernen könnte. Ob wir maskuline oder feminine Metaphern für Gott verwenden – Gott ist das Vorbild unseres gemeinsamen Menschseins, nicht unserer geschlechtlichen Eigenheiten. (S. 224)

… Die Ontologisierung der Geschlechtlichkeit wäre ein Bärendienst am Gottesbegriff wie am Verständnis von Geschlechtlichkeit. Nichts an Gott ist spezifisch weiblich; nichts an Gott ist spezifisch männlich; daher hat keine unserer Gottesvorstellungen eine Auswirkung auf Pflichten und Erfordernisse, die ein bestimmtes Geschlecht betreffen. Darin liegt meines Erachtens die Bedeutung der Tatsache, dass, wie Phyllis Bird gezeigt hat, Geschlechterunterscheidungen nach Genesis 1 keinen Bezug zum Ebenbild Gottes haben (Bird 1981; Bird 1991). Männer und Frauen haben Männlich- und Weiblichsein nicht mit Gott gemeinsam, sondern mit den Tieren. Gottes Ebenbild sind sie im gemeinsamen Menschsein. Daher sollten wir uns gegen jegliche Konstruktion einer Beziehung von Gott und Frausein oder Mannsein sperren, die ein Geschlecht bevorzugt, etwa indem sie behauptet, dass Männer aufgrund ihres Mannseins Gott besser abbilden als Frauen (mit LaCugna 1993, 94ff) oder dass Frauen, da von Natur aus beziehungsorientierter, dem Göttlichen als der Kraft von Verbundensein und Liebe näher stünden. (S. 227)

Zum Schluss der Blick ins Neue Testament: Das vollkommene Ebenbild Gottes ist Jesus von Nazareth (Kol 1,15), ein einzelner Mensch. Aber eben kein Ehepaar! Jesus ist zudem nicht der Prototyp wahrer Männlichkeit, sondern wahrer Menschlichkeit. Frauen haben also in der Imitatio Christi keinen Rückstand zu überwinden.

Sehr eindeutig ist die „Schöpfungsordnung“ übrigens im Blick auf die Ernährung, die war nämlich strikt vegan (vgl. Genesis 1,29-30). Fleisch kam erst nach dem Sündenfall und nach der Sintflut auf den Tisch – sonst hätten sich Noahs Passagiere nämlich gegenseitig verspeist (Genesis 9,3). All die Frommen, die gegen den Veggie-Day polemisiert haben, sollten also schleunigst Buße tun…

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Das „Wir“ entscheidet

Kürzlich nahm ich an einem theologischen Gespräch teil über die christliche Lehre vom Heil und der Versöhnung (Soteriologie). Die meisten Teilnehmer kamen aus der evangelikalen Tradition, die seit jeher die persönliche und individuelle Seite des Erlösungsgeschehens in den Mittelpunkt stellt. Uneins waren wir uns an dem Punkt, ob diese Akzentuierung sich zu Recht auf das Neue Testament berufen kann oder nicht. Eine These, die im Raum stand, war nämlich die, dass im Unterschied zu den Heilserwartungen der hebräischen Bibel (dort geht es um Gott und sein Volk, die Individuen sind dem deutlich nachgeordnet) im Neuen Testament eben diese Dimension des Einzelnen ins Zentrum rückt.

Je länger ich das Neue Testament lese, desto weniger kann ich das noch so sehen. Freilich muss man sich von einer bestimmten Auslegungstradition freischwimmen, die etwa mit Augustinus einsetzt, sich in der Reformation verstärkt und die im Pietismus wie Aufklärung noch weiter zunimmt, nämlich die Konzentration auf den einzelnen Menschen. Das fällt vielen schon deshalb nicht mehr auf, weil der moderne Hyperindividualismus das längst noch in den Schatten stellt. Legt man die Brille mal beiseite, die schon mehr oder weniger unbewusst jeden Plural in einen Singular verwandelt und jede Gemeinschaft nur als Ansammlung von Individuen missversteht (in Wirklichkeit ist sie etwas anderes und Größeres), dann ergibt sich ein anderes Bild.

Ein paar Schlaglichter:

  1. Der zentrale Begriff in der Verkündigung Jesu ist die Herrschaft Gottes. Sie erscheint schon im Danielbuch als Gegenbild zu den antiken Imperien, unter denen Israel zu leiden hatte. Sie ist nicht etwa nur eine religiöse Variante derselben, sondern deren fundamentale Infragestellung – daher ist sie auch „nicht von dieser Welt“: Kein Teil dieses Systems, das Menschen unterwirft und Ordnung bzw. Frieden gewaltsam erzwingt, sondern, wie Walter Wink es nennt, „Gottes herrschaftsfreie Ordnung“ mit kosmischen Konsequenzen (vgl. Jesaja 25,6ff, Ezechiel 47,1ff) . In der Herrschaft Gottes bricht der „Himmel“ auf der Erde an, das Kommende wirft in Jesu Zeichen und Wundern seine Schatten voraus, aber die Geburtswehen dauern noch so lange an, wie das Alte fortbesteht.
  2. Auch Jesu Verkündigung richtet sich nicht primär an einzelne Menschen, sondern an sein Volk (Matthäus 1,21-23). Jesus definiert Israel explizit als seinen Wirkungsbereich (Matthäus 10,6), und im Stil der großen Propheten (N.T. Wright zeigt das sehr gründlich in Jesus und der Sieg Gottes) ruft er, wie schon der Täufer vor ihm, Israel als Ganzes zur Umkehr.
  3. Wenn er dabei einzelne in seine Nachfolge ruft, steht das in diesem Kontext: Der Zwölferkreis symbolisiert die endzeitliche Sammlung des seit Jahrhunderten zerstreuten Gottesvolkes, und die zahlreichen anderen NachfolgerInnen bilden (ähnlich wie die Gemeinschaft von Qumran das von sich auch glaubte) das „wahre Israel“.
  4. Dessen Grenzen freilich weicht Jesus auch gleich wieder etwas auf, wenn er Heiden wie dem Hauptmann und der Syrophönizierin Anteil am Heil schenkt. Aber auch das darf man nicht individualistisch missverstehen, schließlich ist es Israels Berufung seit Abraham, ein Segen für die Völker-/Heidenwelt zu sein (vgl. Gen 12,1ff.). Christus ist, so heißt es in Apg 26,23 „dem Volk (!) und den Heiden ein Licht“.
  5. Das Passah als das zentrale Symbol des Neuen Bundes (1.Korinther 11,25) greift auf die Exodustradition zurück, Jesus wird wie damals Mose zum Mittler zwischen Gott und dem Volk, das nun aus Juden und Heiden besteht. Ebenso wie das Passah steht auch die Taufe in der Exodustradition (1.Korinther 10,1f.) des Bundesschlusses zwischen Gott und seinem Volk. Beides kann nur in Gemeinschaft begangen werden, nicht im stillen Kämmerlein oder der reinen, für alle andere unzugänglichen Innerlichkeit des eigenen „Herzens“. In der alten Kirche und in der lutherischen und katholischen Tradition ist nicht von ungefähr das Sakrament der Angelpunkt der Zueignung und Aktualisierung des Heils. Franckes Bekehrung, stilprägend für den Pietismus und Evangelikalismus, fand dagegen in der Abgeschiedenheit der Kammer statt. Interessanterweise hatte ich für das Gespräch eine These vorbereitet, in der die Eucharistie vorkam, und die Arbeitsgruppe zu diesem Punkt war offenbar der Auffassung, dass der Verweis auf das Sakrament für die evangelikale Soteriologie verzichtbar ist…
  6. Schaut man genau hin, dann wird im Neuen Testament meines Wissens so gut wie nie davon geredet, dass Jesus für den einzelnen Menschen gestorben sei. Die einzige Ausnahme ist Galater 2,20 (und da nennt Paulus sich eben auch exemplarisch für die Gemeinde, um die er ringt); abgesehen davon steht immer der Plural „für uns“ oder es erscheint gar die ganze Welt als Adressatin des Heils. Demgegenüber ist es schon auffallend, wie das „für mich“ und „für dich“ in Liedgut und Verkündigung seit Pietismus und Aufklärung als der sprachliche Regelfall erscheint, und nicht mehr als die Ausnahme.
  7. Während die biblische Geschichte in einem Garten mit zwei Menschen beginnt, endet sie in einer Stadt, einer Polis. In diese Stadt bringen nicht einzelne Menschen, sondern ganze Völker und Kulturen ihre Schätze. Gottes universales Heil kann in einem einzelnen, isolierten Menschen also gar nicht anschaulich werden, es überschreitet in seiner Gemeinschaft stiftenden Ausbreitung die Grenzen von Familien, Sippen, Kulturen und politischen Strukturen.

Schließlich ist die umfassende Wiederherstellung der Beziehung, Verbindung und Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, Mensch und Mitmensch, Menschheit und Schöpfung ja die Essenz aller christlicher Heilsvorstellungen. Eben deshalb sind Gottes- und Nächstenliebe bei Jesus gleichrangig, ist die Bruderliebe im ersten Johannesbrief das Echtheitskriterium der Gottesliebe. Auch von daher denke ich, man muss dem Zeitgeist zum Trotz – wunderbar, dass ich diesen Satz hier auch mal verwenden kann 🙂 – darauf beharren, dass die Dimension des einzelnen auch im Neuen Testament zwar nicht ausgeblendet und vernachlässigt wird, aber deutlich hinter der gemeinschaftlichen und damit eben auch der sozialen Dimension von Glauben und Heil anzusiedeln ist.

Die Zumutung des Evangeliums in einer zunehmend narzisstischen Gesellschaft ist die Einsicht, dass sich die Welt (und erst recht Gott) nicht um mich dreht, auch nicht um meinen „geistlichen“ Zustand, sondern dass Gottes Geist gerade auf ein dezentriertes Selbst hinwirkt. Ironischerweise sind gerade solche Menschen individueller und unverwechselbarer „sie selbst“ als die meisten anderen. Dem würden nun auch viele Vertreter des Heilsindividualismus zustimmen, für die sich erst einmal alles um die persönliche Gottesbeziehung dreht. Sie würden sich und anderen den Weg dahin (es geht ja um nichts weniger als die oft beschworene „Heiligung“) eventuell erleichtern, wenn sie in der missionarischen Verkündigung gleich auf dem richtigen Fuß beginnen würden.

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Weisheit der Woche: Feuer lebt im Brennen

Die Beziehung zwischen Kirche und Mission ist sehr eng, weil derselbe Geist Christi, der der Kirche Kraft in der Mission gibt, auch das Leben der Kirche ist. Als Jesus Christus die Kirche in die Welt gesandt hat, hat er ihr gleichzeitig auch den Heiligen Geist eingehaucht (Johannes 20,19-23). Daher lebt die Kirche durch die Mission, genau wie Feuer durch Brennen. Wenn sie keine Mission betreibt, hört sie auf, Kirche zu sein.

Gemeinsam für das Leben, § 57

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Von der Genugtuung zur Versöhnung

LeRon Shults geht in The Faces of Forgiveness: Searching for Wholeness and Salvation der Frage nach, wie die Versöhnung zwischen Gott und Menschen in Christus richtig zu deuten ist, und stellt dabei fest, dass viele Sühnetheorien darin ihre Grenzen haben, dass sie technisch und abstrakt sind:

Viele Erörterungen über Vergebung in der frühen Neuzeit beschränkten sich auf eine objektive rechtliche Transaktion, die am Kreuz stattfand. […] Wenn Vergebung auf eine formale juridische Erklärung beschränkt wird, dann wirkt sie sich nicht unmittelbar aus auf die Qual der Schmach und des Zorns, die menschliches Leben in Gemeinschaft erdrücken. (S. 125)

Liest man dagegen in der Bibel nach, dann entsteht ein anderes Bild: Gott schließt (nach den unterschiedlichen Strafaktionen der biblischen Urgeschichte angesichts menschlicher Gewalttätigkeit und Größenwahns) einen Bund mit Abraham, in dem er sich als barmherzig und gerecht zu erkennen gibt. Ersteres rückt in Exodus 34,6-7 (vgl. Num 14,17-18) ins Zentrum:

Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue: Er bewahrt Tausenden Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg, lässt aber (den Sünder) nicht ungestraft; er verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation.

Die Parallelität von Segen und Strafe wird aber schon in Dtn 24,16 eingeschränkt und in Jona 4,2 gewinnt die Gnade endgültig das Übergewicht: „denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Huld und dass deine Drohungen dich reuen.“ Barmherzigkeit beschreibt das Wesen Gottes also zutreffender als Vergeltung. Bei den Schriftpropheten begegnen wir dann auch der Einsicht, dass Vergebung keine rein kultische Angelegenheit in einem technischen Sinne ist (Gott kann auch „einfach so“ vergeben), sondern dass es vor allem um eine Veränderung des Herzens und Verhaltens geht. Diese Verbindung göttlicher Gnade und menschlicher Veränderung wird in der Erwartung des neuen Bundes bei Ezechiel und Jeremia besonders deutlich.

Die Linie setzt sich im Neuen Testament fort. Besonders interessant ist, dass der kultisch-juridische Begriff der Vergebung (griech.: aphiemi) bei Paulus zurücktritt hinter das „in Christus“ sein und die Wirkung der göttlichen Gnade (griech.: charizomai), auch wenn unsere Bibelübersetzungen in beiden Fällen von „vergeben“ sprechen. Shults stellt fest:

Im Verständnis des Paulus ist Vergebung nicht in erster Linie eine Entscheidung, die auf einem rechtlichen oder finanziellen Bilanzbogen vermerkt wird; sie ist die reale Gegenwart göttlicher Gnade, die menschliche Beziehungen heilt. Sowohl in göttlicher als auch menschlicher Vergebung haben wir es mit der versöhnenden Absicht der Gnade zu tun. Deshalb beschreibt Paulus das Heil im Allgemeinen mit dem weiteren Begriff der Versöhnung. (S. 138)

Diese Verschiebung weg von unpersönlichen Kategorien hin zu Kategorien der Beziehung lässt sich auch – freilich nicht ungebrochen – in der Theologiegeschichte nachweisen. Luther etwa hatte eine ausgesprochene Abneigung gegen den Begriff „Satisfaktion“, für ihn stand nach Ansicht vieler Forscher die Vereinigung mit Christus durch den Gemeinschaft stiftenden Geist Gottes im Zentrum, die auch in Calvins Institutio eine wichtige Rolle spielt, im Altprotestantismus jedoch bald wieder hinter eher mechanistischen Sühnetheorien verschwindet.

Die unpersönlichen Metaphern bringen unter anderem die Schwierigkeit mit sich, dass sie einer Logik folgen, die Vergebung für Täter an den jeweiligen Opfern vorbei denkbar macht, diese also auf das Verhältnis zu Gott beschränkt und die soziale Dimension sündhaften Verhaltens unberührt lässt – ein Gedanke, der dem prophetischen Ruf zur Umkehr wie auch dem priesterlichen Sühnegeschehen fremd ist.

Für uns heute ist diese Verschiebung insofern von größter Bedeutung, als wir nicht mehr wie das Mittelalter und die Antike in einer Ontologie der Substanz denken (in der etwa die Seele von Flecken gereinigt werden muss). In den letzten 100 Jahren ist (wieder näher am hebräischen Denken) die Relation zur entscheidenden Kategorie geworden. Statt metaphysischer Transaktionen ist für uns das Thema relationaler (und damit auch personaler) Transformationen das entscheidende Kriterium, also der ganzheitlichen Heilung und Wiederherstellung von Beziehungen.   

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Sühne – ein frischer Zugang

Mein Vorschlag, vorübergehend (!!) auf die Sühnemetapher im klassischen Gewand zu verzichten, ist bei manchen Lesern auf empörte Ablehnung gestoßen (Zustimmung gab es freilich auch), andere haben Zweifel geäußert, ob das erstens möglich und zweitens sinnvoll sei. Ich würde nach wie vor beides mit einem nachdrücklichen „ja“ beantworten, aber vielleicht hilft es ja, noch einmal einen Schritt zurück zu gehen.

Kürzlich bin ich in meinen Überlegungen zur Soteriologie auf einen Text gestoßen, den der katholische Theologe James Alison vor fast zehn Jahren geschrieben hat. Alison gelingt es darin, das Motiv der Sühne so zu interpretieren, dass er ihn von den Entstellungen befreit, die sich im Laufe der Auslegungsgeschichte angelagert haben.

Alison setzt ein mit einer wichtigen Unterscheidung. Eigentlich ist das Sühnegeschehen keine Theorie (des Schuldausgleichs zwischen Gott und Menschen), sondern eine Liturgie. Sie ist keine Erklärung, mit der man sich eines „Sachverhalts“ bemächtigt, sondern ein Widerfahrnis. Die Anweisung für den großen Versöhnungstag in Levitikus 16 bringt das deutlich zum Ausdruck. Ich kann Alisons höchst lesenswerte Darstellung hier nicht ausführlich wiedergeben, aber in diesem liturgischen Drama nimmt der Hohepriester die Rolle Gottes ein und vergießt das Blut Gottes, der aus seiner Liebe und Barmherzigkeit heraus das Volk mit sich versöhnt. Das ist in vieler Hinsicht die Umkehr heidnischer Opferkulte, in denen eine zornige Gottheit besänftigt werden muss. Im jüdischen Verständnis, das Paulus später aufgreifen wird, sind wir diese zornige Gottheit, und die Sühne dient dazu, uns von diesem Hang zur Gewalt zu befreien und einen neuen Weg ins Leben zu bahnen.

Das Neue Testament nimmt Sühnemotive an vielen Stellen auf, wie Alison zeigt. Die beiden Engel im leeren Grab an Ostern etwa kennzeichnen den Ort als den neuen Gnadenthron, der Hohepriester brachte sich selbst als „Opfer“ (Alison sagt hier „victim“, nicht „sacrifice“), und er schafft damit nicht etwas Schlechtes ab, sondern er erfüllt etwas Gutes. Jesus tritt an die Stelle einer Serie von Stellvertretungen. Und damit bewirkt er, sagt Alison, einen anthropologischen Durchbruch: Denn auch die rituelle Tötung ist ein Gewaltakt, der auf die menschliche Neigung verweist, ihre Probleme gewaltsam zu lösen – und sei es nur indirekt über einen eigentlich unbeteiligten Sündenbock, der zum Gewaltopfer wird, damit das Leben anderer weitergehen kann.

Im Abendmahl wird das alles liturgisch vergegenwärtigt und wir sind eingeladen, daran teilzunehmen und selbst zum „neuen Tempel“ zu werden. Der Unterschied zwischen dieser Liturgie und den populären Sühnetheorien liegt dabei auch in der ethischen Konsequenz. Eine Theorie kann man zum Kriterium von Rechtgläubigkeit machen und zu einer Linie, die schon wieder sauber trennt, wer nun „drin“ ist im neuen Bund und wer unversöhnt „draußen“ steht. Dagegen stellt uns die Liturgie der Begegnung mit dem Opfer unserer Aggression und Gewalt nicht in die Rolle des Richters, sondern des potenziellen Täters, des „Anderen“, der Gott und seinem Nächsten gegenüber erst noch zum „wir“ finden muss. Diese Begegnung wirft all unsere Vorstellungen von Ordnung und alle Strukturen von Vergeltung über den Haufen. Zugleich erkennen wir – auch das hat Alison wunderschön herausgearbeitet – die eigene Sünde erst richtig, indem wir Gottes Vergebung annehmen:

Someone was approaching you even when you didn’t realize there was a problem, so that you begin to discover, “Oh! So that’s what I’ve been involved in.” Now, this is vital for us: it means that in this picture “sin”, rather than being a block that has to be dealt with, is discovered in its being forgiven. The definition of sin becomes: that which can be forgiven.

… What we are given is a sign of something that has happened and been given to us. What is difficult for us is not grasping the theory, but starting to try and imagine the love that is behind that. Why on earth should someone bother to do that for us? That’s St Paul’s issue. “What then shall we say to this? If God is for us, who is against us? He who did not spare his own Son but gave him up for us all, will he not also give us all things with him?” (Rom 8:31-32)

 

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Pretty Woman: Erlösung auf die charmante Art

Ein wunderschönes Beispiel dafür, dass auch die Reformatoren andere, frische Metaphern in der Erlösungslehre kannten, findet sich in Luthers Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Luther spricht im Rückgriff auf mittelalterliche Brautmystik (die findet sich schon bei Bernhard von Clairvaux und bei Franziskus von Assisi) von einer Hochzeit der Seele mit Christus, und so, wie er die Rechtfertigung dann beschreibt, denkt man unwillkürlich an Julia Roberts’ Lachen, bevor sie im Badeschaum versinkt:

Hier beginnt nun der fröhliche Tausch und Streit: weil Christus Gott und Mensch ist, der noch nie gesündigt hat, und seine Rechtschaffenheit unüberwindlich, ewig und allmächtig ist, so müssen die Sünden in ihm verschlungen und ersäuft werden, wenn er die Sünden der gläubigen Seele durch ihren Brautring, d. h. den Glauben, sich selbst zu eigen macht und so handelt, wie er gehandelt hat. Denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark; so wird die Seele von all ihren Sünden einzig durch ihr Brautgeschenk, d. h. um des Glaubens willen, frei und los und mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christus beschenkt. Ist das nun nicht ein fröhlicher Hausstand, wo der reiche, edle, rechtschaffene Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie von allem Übel befreit, mit allem Guten schmückt?

Aus theologischer Perspektive interessant: Es ist hier wohl nicht der passive Gehorsam, nicht das „Strafleiden“ Christi, sondern seine aktive Gerechtigkeit, deren Kraft und Gewicht jeden Makel seiner Braut augenblicklich verschwinden lässt. Vergebung als „Brautgeschenk“ ist doch eine schöne Vorstellung, und im Gegensatz zu den strengen juristischen oder kühlen ökonomischen Metaphern des Schuldausgleichs ist dieses Bild auch noch etwas fürs Herz, wenn Christus als Prince Charming auftritt und das Herz der Menschheit erobert.

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Missionarische Spiritualität – so wird ein Schuh draus

Ich habe letzte Woche die Einleitung des ökumenischen Missionsdokuments Gemeinsam für das Leben betrachtet. Die eigentliche Darstellung setzt ein beim Wirken des Heiligen Geistes: Geist der Mission: Atem des Lebens, heißt die Überschrift. Die Missiologie aus der Pneumatologie zu entwickeln ist ein cooler Move, und der Einstieg hat es auch gleich in sich. In einem kurzen Abriss wird beschrieben, wo und wie der Geist in der Bibel erscheint, und dann gefolgert:

Die Universalität der Wirksamkeit (Ökonomie) des Geistes in der Schöpfung und die Partikularität des Wirksamkeit des Geistes in der Erlösung müssen zusammen als Mission des Geistes für den neuen Himmel und die neue Erde verstanden werden, wenn Gott am Ende „alles in allem“ ist (§15)

In der Pneumatologie gelingt es, die Partikularität der Erlösung in Christus und Universalität – sie gilt der ganzen Schöpfung – zusammenzuhalten, so dass Mission einerseits als das „Hinausgehen“ der Christen in die Welt erscheinen kann, andererseits ist ihnen der Geist Gottes aber auch dorthin schon voraus gegangen. Mission ist daher nicht erst eine Reaktion Gottes auf den Sündenfall, sondern sie wurzelt schon in der Schöpfung:

Mission ist das Überfließen der unendlichen Liebe des dreieinigen Gottes. Gottes Mission beginnt mit dem Schöpfungsakt. Das Leben der Schöpfung und das göttliche Leben sind miteinander verflochten. […] Wir sind daher aufgerufen, eine enge anthropozentrische Sichtweise zu überwinden und uns auf Formen der Mission einzulassen, die unsere versöhnte Beziehung mit allem geschaffenen Leben zum Ausdruck bringen. (§19)

Unmissverständlich daher auch die Absage an eine Eschatologie der Vernichtung und das Bekenntnis zu einer Eschatologie der Vollendung:

Die Menschheit kann nicht allein gerettet werden, während die übrige geschaffene Welt untergeht. (§23)

Es geht also gerade nicht um Seelenrettung plus Weltverschrottung, sondern um ein versöhntes Miteinander der Menschen mit Gott, mit einander und mit der ganzen Natur. Mission ist daher mehr als nur eine (womöglich mühsame und aufreibende) menschliche Aktivität, von der man sich dann dadurch wieder erholen und regenerieren muss, indem man sich von ihr zurückzieht und sich (statt nach „außen“) nun nach innen oder oben kehrt, sondern sie schließt, richtig verstanden, auch die eigene Heilung und Regeneration schon ein:

Wir neigen dazu, Mission als etwas zu verstehen und zu praktizieren, das die Menschen für andere tun. Stattdessen können die Menschen in Gemeinschaft mit der ganzen Schöpfung daran teilhaben, das Werk des Schöpfers zu feiern. In vielerlei Hinsicht hat die Schöpfung selbst eine Mission im Blick auf die Menschheit; so hat die Natur zum Beispiel eine Kraft, die Herz und Leib des Menschen heilen kann. (§22)

Die häufig anzutreffende Diastase von Mission als einer rein nach außen gerichteten Aktivität („ich tue etwas für andere“) und Spiritualität als einer nach innen gerichteten, strikt rezeptiven Angelegenheit zwischen Gott und Seele („ich empfange etwas für mich selbst“ – die beliebte Metapher des „Auftankens“) ist ein großer Gewinn. Indem wir erfahren, dass wir verbunden sind mit allem, was lebt, werden wir in das lebensstiftende und -rettende Wirken des Geistes in der Welt hineingezogen.

Auf die Frage, wo und wie der Geist denn nun im Besonderen und Konkreten wirkt, kommt das Dokument auf die Gabe der Unterscheidung der Geister zu sprechen und stellt fest,

Wir erkennen den Geist Gottes dort, wo Menschen für das Leben in seiner ganzen Fülle und in all seinen Dimensionen eintreten, einschließlich der Befreiung der Unterdrückten, der Heilung und Versöhnung zerbrochener Gemeinschaften und der Wiederherstellung der Schöpfung. Wir erkennen dort böse Geister, wo die Mächte des Todes und der Zerstörung des Lebens vorherrschen. (§24)

Diese Spannung zwischen lebensfördernden und lebensfeindlichen Mächten ist auch ein Grundzug der Botschaft vom Reich Gottes, die Jesus verkündet hat, und sie stellt auch seine Nachfolger mitten in alle möglichen Konfliktsituationen:

Die Kirchen sind aufgerufen, das Werk des in die Welt gesandten und Leben spendenden Geistes zu erkennen und gemeinsam mit dem Heiligen Geist daran zu arbeiten, Gottes Reich der Gerechtigkeit herbeizuführen (Apostelgeschichte 1,6-8). Wenn wir die Gegenwart des Heiligen Geistes erkannt haben, sind wir aufgerufen, uns ihm zu öffnen, und werden dabei erfahren, dass Gottes Geist oft subversiv ist, uns über Grenzen hinauswachsen lässt und uns überrascht. (§25)

Diese Unterscheidung und Würdigung des Guten gilt auch im Blick auf die unterschiedlichen Kulturen, denn in auch in deren Traditionen und Weisheit begegnen wir dem Geist Gottes. Um als Christen erkannt zu werden, geht es also nicht zuerst um eine möglichst saubere kulturelle Abgrenzung, sondern um ein Leben aus dem Geist und mit seinen Früchten in der jeweiligen Kultur. Und auch das ist eine spirituelle Aufgabe, die aus einer „Spiritualität der Verwandlung“ heraus geschehen muss. Dazu heißt es weiter:

Authentisches christliches Zeugnis findet nicht nur in dem statt, was wir in der Mission tun, sondern auch darin, wie wir unsere Mission leben. Die missionarische Kirche kann nur durch eine Spiritualität gestärkt werden, die in der trinitarischen Gemeinschaft der Liebe verwurzelt ist. Spiritualität verleiht unserem Leben seine tiefste Bedeutung. Auf unserem Weg des Lebens treibt sie uns an, motiviert und aktiviert uns. Sie ist Energie für ein Leben in Fülle und fordert Engagement im Widerstand gegen alle Kräfte, Mächte und Systeme, die Leben verweigern, zerstören und einschränken.

Missionarische Spiritualität ist immer verwandelnd. Sie leistet Widerstand gegen alle Leben zerstörenden Werte und Systeme, wo immer sie in unserer Wirtschaft, unserer Politik und selbst in unseren Kirchen am Werk sind, und versucht, diese zu verwandeln. (§29.30)

Spiritualität wird so verstanden, dass sie nicht etwa der Gegensatz zum Engagement ist, sondern dessen Wurzel und Tiefendimension, daher ist auch keine Spiritualität mehr denkbar, die im Blick auf gefährdetes und beschädigtes Leben gleichgültig bleiben kann. Und mit diesem Gedanken geht es in die Auseinandersetzung mit dem „Mammon“, dem Kapitalismus, den ja auch Papst Franziskus jüngst scharf attackiert hat. Hier findet also gerade ein ökumenisch-ökonomischer Schulterschluss statt:

Die Politik des grenzenlosen Wachstums durch die Herrschaft des globalen freien Marktes ist eine Ideologie, die von sich behauptet, dass es zu ihr keine Alternative gibt, und die den Armen und der Natur eine unendliche Folge von Opfern abverlangt. Sie „verspricht fälschlicherweise, die Welt durch die Schaffung von Reichtum und Wohlstand retten zu können. Sie tritt mit dem Anspruch auf, alle Lebenssphären beherrschen zu wollen, und verlangt absolute Gefolgschaft, was einem Götzendienst gleichkommt“.

Es ist ein globales vom Mammon bestimmtes System, das durch endlose Ausbeutung allein das grenzenlose Wachstum des Reichtums der Reichen und Mächtigen schützt. Dieser Turmbau der Habgier bedroht mittlerweile den gesamten Öko-Haushalt Gottes. Das Reich Gottes steht der Herrschaft des Mammons diametral entgegen. (§31)

So sehr das Papier die verbindende Wirkung des Geistes betont hat, hier wird in aller Deutlichkeit ein Gegensatz benannt, der uns vor eine Entscheidung stellt. Der Kapitalismus ist nicht nur eines von vielen möglichen, geistlich weitgehend neutralen Wirtschaftssystemen, sondern eine Ideologie und Form der Spiritualität, die Leben vernichtet und die Welt spaltet in Besitzende und Mächtige auf der einen, Arme und Ohnmächtige auf der anderen Seite. Hier gilt es, sich zu den Armen zu stellen und dem Geist zu vertrauen, dass er auch ganz überraschend wirkt.

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Rechte Tasche, linke Tasche: Soteriologische Nullsummenspiele?

Ich habe kürzlich ein paar Gedanken zur sprachlichen und bildlichen Verarmung christlicher Erlösungslehre durch die ungesunde Reduktion der metaphorischen Vielfalt auf die Theorie eines stellvertretenden Strafleidens des Messias geschrieben.

Man kann die Problematik wunderschön zeigen, wenn man Texte vergleicht, zum Beispiel den Christus-Hymnus aus Phil 2,5ff und dessen Umsetzung in Rick Founds’ bekanntem „Lord I lift your name on high“. Im vorpaulinischen Hymnus ist weder von Sühne noch von Tilgung irgendeiner Schuld die Rede, sondern von der Selbstentäußerung Christi und seinem aktiven Gehorsam, auf den Gott mit der Auferweckung und Erhöhung antwortet. Bei Fonds wird daraus

You came from heaven to earth to show the way

from the earth to the cross my debt to pay

from the cross to the grave from the grave to the sky, Lord I lift Your name on high

Während es für die frühen Christen durchaus möglich ist, den Weg Christi zu beschreiben, ohne auf derartige Theologoumena zurückzugreifen, füllt Founds, der das eigenständige soteriologische Motiv offenbar nicht also solches erkennt, die gefühlte Lücke mit dem reichlich abgeschmackten Hinweis auf eine noch zu begleichende Rechnung. Derartige Übermalungen sind in vielen geistlichen Liedern aus den letzten beiden Jahrhunderten leider nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Sie sind ein deutliches Symptom für den Verlust, der hier stattgefunden hat.

Da heute kaum noch jemand die Logik der Satisfaktion versteht, ist das längst zum Standardmodell unter den Erlösungstheorien avanciert. Dabei liegt die Problematik der ökonomischen Vorstellung von bezahlter Schuld offen zu Tage, wie diese Frage von LeRon Shults zeigt:

Wenn eine rechtliche oder finanzielle Schuld erlassen wird, dann muss sie nicht beglichen werden. Wenn Gott (oder Gott, der Sohn) die Schuld tatsächlich bezahlt hat (volle Genugtuung geleistet hat), dann braucht Gott nicht mehr zu vergeben. Wenn eine Zahlung geleistet wurde, sollten wir nicht besser von “Ausgleich” reden als von Vergebung?

Wenn Gott von den Menschen eine Zahlung fordert, die diese nicht leisten können, und sie dann am Ende selbst bezahlt, dann ist das in der zugrundeliegenden Logik der Ökonomie ein Spiel mit der linken und rechten Tasche, das man sich auch gleich schenken könnte. Entweder ist die Ausgleichszahlung eine Luftbuchung, weil Geber und Empfänger identisch sind, oder man kann fortan nicht mehr von Vergebung reden – freilich will auf diesen Begriff dann doch niemand, den ich kenne, wirklich verzichten. Wenn mein Sohn mir 50 Euro schuldet, kann ich das Geld zurückfordern oder auf die Forderung verzichten (das wäre Vergebung). Aber wenn meine Frau sie mir ersetzt, habe ich sie meinem Sohn nicht erlassen. Wenn nun meine Frau das Geld von unserem gemeinsamen Konto nimmt, dann wird das Ganze noch etwas verzwickter, ohne dass ich jedoch selbst den Großmut dessen aufbringe, der verzeiht. Dann ist sie an meiner Stelle großzügig und ich bin noch genauso kleinlich oder stur wie immer.

Das Bild vom bezahlten Preis hat zudem – wie auch das vom Sühnopfer – den Nachteil, dass man bestens das Kreuz ohne Auferstehung predigen kann, und so klappert das Osterevangelium allzu oft ganz merkwürdig nach; zumindest für die Soteriologie scheint es ohne Bedeutung zu sein, dass Jesus von den Toten auferstanden ist. Auch das zeigt sich in Founds’ Adaption des Philippertextes, der Menschwerdung und Kreuzigung noch interpretieren kann, und dann etwas hastig mit dem zeitlichen Nacheinander von Grab und Himmel schließt, ohne dem noch irgendeinen inneren Zusammenhang abzugewinnen.

Ohne solche „Verbesserungen“ hingegen ist bei Paulus der Zusammenhang zwischen Tod und Auferweckung, Erniedrigung und Erhöhung wunderschön zu sehen, und nicht nur das, er wird auch sofort zum Grundmuster für das Verhalten der Christen erklärt. Auch diese ethische Dimension fehlt in der Bezahllogik, die die Erlösten bestenfalls zum Dank verpflichtet, aber eben nicht zur Imitatio Christi.

Derzeit wird an vielen Punkten sehr deutlich, dass Ökonomie zu einem großen Teil auch Psychologie ist. Zu fragen wäre also an dieser Stelle, ob das ökonomische Erlösungsmodell der Schuldentilgung nicht eigentlich ein psychologisches Erlösungsmodell ist. Die Absurdität, dass ein unendlich reicher Gott gegenüber uns armen Sündern hier womöglich mit linker und rechter Tasche trickst, wäre dann zweitrangig, in Wirklichkeit ginge es darum, dass er darin seine Zuneigung und sein Interesse an uns zeigt. Ich vermute, im schlichten Glauben vieler, die mit solchen Formulierungen wie denen von Founds großgeworden sind, funktioniert das im Grunde genau so.

Theologisch betrachtet hieße das, dass Abaelard sich durch die Hintertür gegen Anselm durchgesetzt hätte…

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Soteriologisches Fasten: Gedanken zum Sühnestreit

Presbytery Mosaic: SacrificeIn einem Gespräch zum aktuellen Thema Missionsverständnis kamen mein Gesprächspartner und ich kürzlich auf die Diskussion um das Sühnemotiv in der Verkündigung zu sprechen. Da scheinen sich an manchen Stelle die Fronten unglücklich zu verhärten.

Mein Eindruck ist der: An manchen Orten war über Generationen, wenn nicht über Jahrhunderte, die Sühne, der Opfertod, die Satisfaktion oder das stellvertretende Strafleiden Christi die einzige gängige Metapher für das Geschehen am Kreuz und die Versöhnung von Gott und Menschheit.

Weil heute vieles, was daran früher vielleicht noch selbstverständlich und unmittelbar einleuchtend war, nicht mehr ohne weiteres plausibel ist, und weil die soteriologische Monokultur bei anderen verständlicherweise zu heftigen Allergien geführt hat, ist die klassische Sühnetheorie heute zum Teil heftiger Kritik ausgesetzt. Zumal sie in vielen Ausprägungen ein problematisches, weil beispielsweise gewalttätiges Gottesbild transportiert hat.

Weil die Christen, für die die alten Selbstverständlichkeiten noch bestehen, bisher keinen Anlass hatten, intensiv über alternative Metaphern und Erklärungsmuster nachzudenken, missverstehen sie die Kritik an der gewählten Metapher (Opfer, Sühne, Satisfaktion…) als Forderung nach der Auflösung der Erlösungslehre überhaupt (was sie in den seltensten Fällen ist) und die Forderung nach einer anderen Sprache als Zwang und Verbot des Vertrauten und Gewohnten (hier wird dann leider oft die übliche Political-Correctness-Polemik abgefahren: „… wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ – und Kritik mit Zensur verwechselt).

Freilich „darf“ man in den traditionellen Begrifflichkeiten über den Tod Christi und die Erlösung der Welt sprechen. Wer es verantwortlich tun will, sollte sich allerdings der Probleme und Grenzen der damit verbundenen Vorstellungskreise bewusst sein. Mein Gesprächspartner sprach beispielsweise eher beiläufig davon, dass „Gott seinen Sohn opfert“. Interessanterweise findet sich im Neuen Testament diese Aussage so gerade nicht; da ist bestenfalls die Rede davon, dass Christus sich selbst opfert (z.B. in Eph 5,2, Hebr. 5,3). Hier zeigt sich schon, dass sich unsere binnenchristliche Umgangssprache, ohne dass es uns noch auffällt, im Vergleich zu den biblischen Aussagen schon verselbständigt hat (und wenn es in Joh 3,16 heißt, dass Gott seinen Sohn gab, dann ist da nicht von Opfer die Rede und vermutlich nicht einmal von Kreuz und Leiden allein, sondern von der gesamten Sendung des Sohnes, wie der folgende Vers zeigt).

Wenn es also innerhalb gewisser Parameter legitim ist, so zu reden, dann bleibt für alle, denen diese Begriffe ans Herz gewachsen sind, noch das Problem, dass sie damit für viele Adressaten ihrer Verkündigung eine konzeptionelle und möglicherweise auch emotionale Hürde errichten. Es wäre also nicht falsch, aber eben auch nicht in jedem Fall zielführend, weil es der Kultur und Vorstellungswelt der Menschen nicht entspricht, die es hören, und weil es selbst bei denen, die es einleuchtend und plausibel finden, zu problematischen Folgen kommt (etwa, was die Verbindung von Gott und Gewalt oder das Verhältnis von Gottes Liebe und strafender „Gerechtigkeit“ betrifft). Mein Vorschlag, um dieser Verlegenheit zu entgehen, sieht nun so aus:

Wenn wir uns einig werden darin, dass das Sühneopfer nicht die einzige „biblische“ und theologisch angemessene Metapher ist – das gesteht der eine oder andere ja durchaus ein – warum verzichten wir nicht freiwillig auf ihren Gebrauch, und zwar so lange, bis uns andere Bilder, Erzählweisen und Formulierungen genauso locker und unkompliziert über die Lippen kommen oder aus der Feder fließen? Dieses soteriologische Fasten könnte statt zu einem verflachten Verstehen von Kreuz und Auferstehung zu einer Vertiefung der theologischen Einsicht und einer Erweiterung unserer Sprachfähigkeit führen. Das wäre deutlich mehr, als man bei einer bloßen Verteidigung der herkömmlichen Redeweisen gewinnen würde.

Oder, um es mal ganz schlicht und fromm zu formulieren: Jesus hat es verdient, dass wir so frisch, einfallsreich, sensibel und klug wie möglich über das reden, was er für diese Welt bewirkt hat und noch wirkt. Darüber lohnt sich jeder Streit.

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Gemeinsam für das Leben: ein befreiendes Verständnis von Mission

Die Kommission für Mission und Evangelisation des Weltkirchenrates hat im vergangenen Jahr ein Papier erarbeitet, das einen breiten Konsens in dieser Frage widerspiegelt und zeigt, wie viel sich gerade in der Missionstheologie und -praxis getan hat. Der Titel lautet Together Towards Life: Mission and Evangelism in Changing Landscapes oder Gemeinsam für das Leben: Mission und Evangelisation in sich wandelnden Kontexten.

Dieses Missionsverständnis könnte, wenn sich alle darauf einließen, den Konflikt zwischen den „Frommen“ und den „Politischen“ beilegen, wie Landesbischof Bedford-Strohm in seinem Facebook-Feed vom 4.11. schrieb. Noch sind dazu nicht alle bereit: Für Rolf Hille, den Direktor für ökumenische Angelegenheiten der Weltweiten Evangelischen Allianz, ist das Papier eine glatte „Katastrophe“, wie idea jüngst berichtete. Dagegen stellte Thomas Schirrmacher, der Vorsitzende der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz, das Papier in Busan mit vor und äußerte sich positiv zu dem Gesprächsprozess zwischen Evangelikalen und Ökumenikern.

Während also in der WEA – die hat sich inzwischen in einem offenen Brief von Hilles Aussagen distanziert und sie als dessen Privatmeinung bezeichnet – noch um eine gemeinsame Position gerungen wird, kann sich jeder selbst ein Bild vom aktuellen Missionsverständnis machen, zumal in der Zwischenzeit ja auch in der katholischen Kirche durch das Dokument Evangelium Gaudii deutliche Akzentverschiebungen stattgefunden haben. Entstehen durch solche Paradigmenwechsel nun neue Gemeinsamkeiten?

Die Erklärung des ÖRK (ich verwende im weiteren das Kürzel TTL) beschreibt Mission so:

Der dreieinige Gott lädt uns zur Teilnahme an seiner Leben spendenden Mission ein und schenkt uns die Kraft, Zeugnis von der Vision eines Lebens in Fülle für alle angesichts des neuen Himmels und der neuen Erde abzulegen. (aus TTL 1)

Mission ist die Bewegung der sich trinitarisch entfaltenden Liebe Gottes durch die Welt und ihre Geschichte:

Mission beginnt im Herzen des dreieinigen Gottes. Die Liebe, die die Personen der heiligen Dreieinigkeit zusammenhält, durchströmt die gesamte Menschheit und Schöpfung. Der missionarische Gott, der den Sohn in die Welt sandte, beruft das ganze Volk Gottes (Johannes 20,21) und gibt ihm die Kraft, eine Gemeinschaft der Hoffnung zu sein. Die Kirche erhält den Auftrag, das Leben zu feiern und in der Kraft des Heiligen Geistes Widerstand gegen alle Leben zerstörenden Kräfte zu leisten und sie zu verwandeln. (aus TTL 2)

Mission ist ohne Spiritualität undenkbar, und Spiritualität bedeutet immer Umgestaltung, Veränderung und Erneuerung. Insofern geht es bei Mission immer schon um eine umfassende Transformation des einzelnen, der Kirche und der Welt:

Leben im Heiligen Geist ist das Wesen der Mission, der eigentliche Grund, warum wir tun, was wir tun, und wie wir unser Leben leben. Diese Spiritualität verleiht unserem Leben eine tiefe Bedeutung und treibt uns zum Handeln an. Sie ist eine heilige Gabe des Schöpfers, die Energie, die uns Kraft gibt, für das Leben einzutreten und es zu schützen. Missionarische Spiritualität hat eine dynamische Transformationskraft, die durch das geistliche Engagement von Menschen in der Lage ist, die Welt durch die Gnade Gottes zu verwandeln (TTL 3).

Das Evangelium und mit ihm die Sendung Christi gilt nicht nur dem individuellen Sünder, der vor dem Gericht Gottes gerettet werden muss, sondern der ganzen Schöpfung, die vor Tod und Zerstörung gerettet werden soll. Hier wittert Hille den Verrat an der lutherischen Gnaden- und Rechtfertigungslehre – aber war die vielleicht eine kontextuell bedingte Engführung des Spätmittelalters, die manche inzwischen lebenswichtig gewordenen Aspekte der biblischen Botschaft ausblendete? Hier jedenfalls geht es um mehr als das sprichwörtliche „Seelenheil“:

Gott sandte den Sohn, um nicht nur die Menschheit zu erlösen oder eine partielle Erlösung zu bringen. Das Evangelium ist vielmehr eine gute Nachricht für jeden Teil der Schöpfung und jeden Aspekt unseres Lebens und unserer Gesellschaft. Es ist daher entscheidend, Gottes Mission in einem kosmischen Sinne zu verstehen und zu bekräftigen, dass alles Leben, die ganze oikoumene, in Gottes Netzwerk des Lebens miteinander verbunden ist. (TTL 4)

Es folgen Gedanken zur Verlagerung des Schwerpunkts der Weltchristenheit in den globalen Süden und der stärker pfingstlich/charismatischen Prägung dort. Die Richtung der Mission kehrt sich um, aber nicht nur geographisch, sondern auch sozial – Mission von den Rändern hin zum Zentrum. Und dann folgt ein kämpferischer, theopolitischer Satz: Mit den Armen zusammen geht es darum, „den Geist des Marktes zu besiegen“ (vgl. TTL 5-7). Bei allem Engagement führt das aber nicht zu einem verbissenen Missionsansatz:

Evangelisation bedeutet, unseren Glauben und unsere Überzeugungen mit anderen Menschen vertrauensvoll, aber in Demut zu teilen. (TTL 8)

Die Kirche ist eine Gabe Gottes an die Welt, um die Welt zu verwandeln und dem Reich Gottes näherzubringen. Ihre Mission ist es, neues Leben zu bringen und die Gegenwart des Gottes der Liebe in unserer Welt zu verkünden. … Die Kirche als Gemeinschaft der Jünger Christi muss eine inklusive Gemeinschaft werden; ihr Daseinszweck ist es, der Welt Heilung und Versöhnung zu bringen. (TTL 10)

So weit der einführende Teil des Papiers. Mir scheint: Jede Menge missionale Theologie ist hier eingeflossen. Nun bin ich gespannt auf die Einzelheiten. Mission wird im Folgenden unter vier Überschriften konkretisiert:

  1. Geist der Mission: Atem des Lebens
  2. Geist der Befreiung: Mission von den Rändern her
  3. Geist der Gemeinschaft: Kirche unterwegs
  4. Geist von Pfingsten: Gute Nachricht für alle.

Reichlich Stoff für weitere Blogposts also.

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Weisheit der Woche: Wohlfühl-Spiritualität und die missio dei

Unsere Teilnahme an Gottes Mission, unsere Existenz im Schoß der Schöpfung und unser Leben aus dem Geist müssen miteinander verwoben werden, denn sie verändern sich gegenseitig. Wir sollten nicht das eine ohne das andere anstreben. Sonst verfallen wir in eine individualistische Spiritualität, die uns zu dem falschen Glauben verführt, dass wir zu Gott gehören können, ohne zu unserem Nachbarn zu gehören, und zu einer Spiritualität, durch die wir uns einfach wohlfühlen, während andere Teile der Schöpfung leiden und sich in Sehnsucht nach Heil verzehren.

… In vielerlei Hinsicht hat die Schöpfung selbst eine Mission im Blick auf die Menschheit; so hat die Natur zum Beispiel eine Kraft, die Herz und Leib des Menschen heilen kann.

aus: Gemeinsam für das Leben: Mission und Evangelisation in sich wandelnden Kontexten (§ 21.22)

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Qualvolle Alternative

Die Frage, was Erlösung und Evangelium bedeuten, wie das mit dem Leben und der Verkündigung, dem Tod und der Auferweckung Jesu zu tun hat und was als Folge all dieser Ereignisse die Rolle der Christen in der Welt ist, ist ein Dauerbrenner. Immer wieder kommen in den Gesprächen auch widersprüchliche Gottesbilder vor. Diese Woche kam rund um das Thema Himmel und Hölle die Frage auf, ob man letztere zwar nicht als Rache oder Vergeltung verstehen müsse, sondern als Gottes Rückzug aus der Beziehung zu einem Menschen, der ihn ablehnt.

Die Schwierigkeit bei dieser Vorstellung ist eine doppelte. Einerseits wäre ein vollständiger Rückzug Gottes nach biblischer Auffassung mit dem Tod gleichzusetzen, in diesem Fall gäbe es nicht Himmel oder Hölle, sondern ewiges Leben und endgültigen Tod. So etwa stellte es sich der große evangelikale Denker John Stott vor, doch schon der wurde für seine humane Abwandlung jener Eschatologie der transzendentalen Folterkammer von Kritikern verketzert.

Gut, das muss uns ja nicht stören, dass sich jemand aufregt – leidenschaftslos lässt sich das Thema wohl schwerlich behandeln. Manche scheinen seltsamerweise der Ansicht zu sein, ein gewaltfreier Gott könne unmöglich „Gott“ sein.

Die andere Schwierigkeit besteht darin, dass wir – das Todesproblem einmal ausgeklammert – auch mit dieser Variante (hier wäre die Formulierung „Hölle light“ tatsächlich mal angebracht!) bei einem recht zwiespältigen Gottesbild landen. Nicht von ungefähr gilt bei uns Vernachlässigung und Liebesentzug als seelische Gewalt und Grausamkeit, vor allem Kindern gegenüber; aber Dunkel- oder Isolationshaft werden ja auch ganz zu Recht als Folter bezeichnet. Gottes heißer und sein kalter Zorn unterscheiden sich an diesem Punkt nicht, dass beide in dem Moment, wo sie Gottes Liebe und Barmherzigkeit nicht mehr nach- und untergeordnet werden (etwa, indem man sie als vorübergehend versteht), sondern ihr gleichwertig an die Seite gestellt werden (etwa indem man sie als „ewig“ definiert), Gott in ein bedenkliches Licht rücken.

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Das Prophetentum aller Glaubenden

Seit der Reformation ist das Wort vom „Priestertum aller Glaubenden“ weit verbreitet. Oft jedoch nur als Floskel mit begrenzter Aussagekraft in der Praxis. In den letzten Jahren wurde das vielerorts stillschweigend zum „Priestertum aller Getauften“ umdeklariert. Ein ganz unglücklicher Zug, wie ich finde, weil es eine hinderliche Formalisierung darstellt, nicht auf den Akt des Glaubens in der Gegenwart (Partizip Präsens), sondern mit einem Partizip Perfekt Passiv auf das zurückliegende Geschehen der Taufe zu verweisen – ohne dass dabei klar wird, wie der einzelne heute zu Gott, Taufe und Kirche steht. Nicht wenige Getaufte haben die Kirche ja längst verlassen – sind sie auch gemeint (das wäre eine bedenkliche Vereinnahmung) und wie sollte man sich deren tätiges „Priestertum“ eigentlich konkret vorstellen?

In diesen Tagen saß ich über Numeri 11, wo Mose in kritischer Lage seufzt: „Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu Propheten würde, wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte!“ Der Vers hat ein neutestamentliches Echo in 1.Korinther 14,5, wenn Paulus schreibt: „Ich wünschte, ihr alle […] würdet prophetisch reden.“ Wahrscheinlich hat er auch die Verheißung des Joel noch im Ohr, dass die Alten Träume und die Jungen Visionen haben würden – hier nimmt das Volk von Propheten schon erste Konturen an.

Ein interessanter Zug in Num 11 ist, dass der Geist der Prophetie nicht nur die im Heiligtum Versammelten, sondern auch auf zwei im Lager Zurückgebliebene erfüllt und damit die Grenze zwischen dem Sakralen und dem Alltäglichen sprengt. Wenn wir also vom Prophetentum aller Glaubenden reden – und ich denke, das müssten wir – dann geht es nicht nur um das Geschehen im Gottesdienst, sondern auch darum, wie jede(r) von uns in seiner alltäglichen Umgebung Prophet sein kann.

Interessanterweise geht es bei Mose weniger um das Mitteilen höherer Einsichten, sondern erst einmal um das Mittragen von Lasten und das Teilen von Leid und Mühen. Das ist eine ganz andere Interpretation der Prophetenrolle als die des erhobenen Zeigefingers. Von der Sorte gibt es vermutlich schon genug, und nicht alle, die ihrer Umwelt ständig die Leviten lesen müssen, sind dazu von Gott inspiriert und gesandt.

Aber das einfühlsame und aufrichtende Wort (vgl. Jes 50,4), die tröstende Geste, das Ausmalen von Bildern in Farben der Hoffnung, die Stimme der unterdrückten Klage, die Poesie der Sehnsucht und des Neubeginns, davon kann man eigentlich nicht genug hören. Oder?

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