Das Prophetentum aller Glaubenden

Seit der Reformation ist das Wort vom „Priestertum aller Glaubenden“ weit verbreitet. Oft jedoch nur als Floskel mit begrenzter Aussagekraft in der Praxis. In den letzten Jahren wurde das vielerorts stillschweigend zum „Priestertum aller Getauften“ umdeklariert. Ein ganz unglücklicher Zug, wie ich finde, weil es eine hinderliche Formalisierung darstellt, nicht auf den Akt des Glaubens in der Gegenwart (Partizip Präsens), sondern mit einem Partizip Perfekt Passiv auf das zurückliegende Geschehen der Taufe zu verweisen – ohne dass dabei klar wird, wie der einzelne heute zu Gott, Taufe und Kirche steht. Nicht wenige Getaufte haben die Kirche ja längst verlassen – sind sie auch gemeint (das wäre eine bedenkliche Vereinnahmung) und wie sollte man sich deren tätiges „Priestertum“ eigentlich konkret vorstellen?

In diesen Tagen saß ich über Numeri 11, wo Mose in kritischer Lage seufzt: „Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu Propheten würde, wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte!“ Der Vers hat ein neutestamentliches Echo in 1.Korinther 14,5, wenn Paulus schreibt: „Ich wünschte, ihr alle […] würdet prophetisch reden.“ Wahrscheinlich hat er auch die Verheißung des Joel noch im Ohr, dass die Alten Träume und die Jungen Visionen haben würden – hier nimmt das Volk von Propheten schon erste Konturen an.

Ein interessanter Zug in Num 11 ist, dass der Geist der Prophetie nicht nur die im Heiligtum Versammelten, sondern auch auf zwei im Lager Zurückgebliebene erfüllt und damit die Grenze zwischen dem Sakralen und dem Alltäglichen sprengt. Wenn wir also vom Prophetentum aller Glaubenden reden – und ich denke, das müssten wir – dann geht es nicht nur um das Geschehen im Gottesdienst, sondern auch darum, wie jede(r) von uns in seiner alltäglichen Umgebung Prophet sein kann.

Interessanterweise geht es bei Mose weniger um das Mitteilen höherer Einsichten, sondern erst einmal um das Mittragen von Lasten und das Teilen von Leid und Mühen. Das ist eine ganz andere Interpretation der Prophetenrolle als die des erhobenen Zeigefingers. Von der Sorte gibt es vermutlich schon genug, und nicht alle, die ihrer Umwelt ständig die Leviten lesen müssen, sind dazu von Gott inspiriert und gesandt.

Aber das einfühlsame und aufrichtende Wort (vgl. Jes 50,4), die tröstende Geste, das Ausmalen von Bildern in Farben der Hoffnung, die Stimme der unterdrückten Klage, die Poesie der Sehnsucht und des Neubeginns, davon kann man eigentlich nicht genug hören. Oder?

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2 Antworten auf „Das Prophetentum aller Glaubenden“

  1. Darüber, ob beim Priestertum alle Glaubenden oder alle Getauften sinnvoller sind, kann man sicher streiten. Dass es erst in den letzten Jahren zum „Priestertum aller Getauften“ gemacht wurde, kann ich aber nicht erkennen. Auch Luther sprach schon davon, dass „was aus der Taufe gekrochen ist“, ein Priester, Bischof, Papst etc sei. Mit dem „Priestertum aller Getauften“ wurde also etwas wiederentdeckt, was in der Reformation schon angelegt war. Sicher schon dort nicht unproblematisch. Aber wenn ich die Freiheitsschrift richtig verstehe, meinte Luther mit „Priester“ keine bestimmte Aufgabe für andere, sondern dass ich selber keinen Priester mehr benötige, der für mich vor Gott tritt, sondern das selbst machen kann. Diese Möglichkeit jeden Getauften zu lehren, ist dann ja auch nicht abwegig – auch wenn der Priesterbegriff mglw. dafür missverständlich ist. Die Taufe hat den Vorteil, dass sie „messbar“ ist, getauft bin ich oder nicht (mal die Säuglingstaufdiskussion außenvor gelassen), während „Glaube ich denn auch wirklich (genug)?“ zwar ein Missverständnis von Glaube ist, aber ein mögliches.

    Wie Du Prophetentum beschreibst, gefällt mir. Es verbindet Glauben mit Liebe. Und (morgen ist ja ein Jeremiatext dran) vielen der alttestamentlichen Propheten merkt man auch an, wie sehr sie mit leiden. Den heutigen Levitenlesern will ich gern glauben, dass es ihnen auch so geht, das Anmerken gelingt mir da nicht immer.

  2. @Andreas: Freilich besteht ein enger Zusammenhang zwischen Glaube und Taufe. Bei Luther ist das durch das nachdrückliche „Wasser allein tut’s freilich nicht…“ gesichert, um so unglücklicher finde ich es, wenn das moderne Luthertum immer einseitiger (bei der Einschätzung bleibe ich erst einmal) die objektivierbare Seite betont. Damit entledigt man sich m.E. der Mühe und potenziellen Verlegenheit, über die Dimension des Glaubens zu reden, die sich nicht objektivieren lässt, sondern es uns abverlangt, uns mit der vieldeutigen Lebensgeschichte, den Erfahrungen, der Sprache und Begrifflichkeit und den Beziehungen konkreter Menschen zu befassen und so eine dialogische (und immer auch nur vorläufige) Standortbestimmung in Sachen Glauben und Unglauben zu erreichen. „Getauft“ oder „Ungetauft“ – da reicht der Blick ins Kirchenbuch. Für alles andere braucht man Zeit, Mühe, und man riskiert Irrtümer und Missverständnisse. So ist das eben.

    Was die Levitenleser angeht, bin ich skeptischer. Ich denke, viele von ihnen leiden nicht mit den anderen, sondern definieren sich selbst über diese Differenz der „höheren“ Einsicht und des „besseren“ Glaubens, daher rührt dann auch die Schärfe ihres Urteils und die Enge ihrer Grenzen, denn wenn ersichtlich würde, dass der Unterschied kein kategorischer ist, sondern nur ein gradueller, wäre ihr Selbstbild akut gefährdet.

    Für die Alltagspropheten finde ich Jes 50,4 ein wunderbares Motto: „Gott, der Herr, gab mir die Zunge eines Jüngers, damit ich verstehe, die Müden zu stärken durch ein aufmunterndes Wort. Jeden Morgen weckt er mein Ohr, damit ich auf ihn höre wie ein Jünger.“

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