Manchmal kommt die Bibel ja ziemlich schwarz-weiß daher. Das Johannesevangelium etwa liebt die Kontraste: Licht/Finsternis, Wahrheit/Lüge und so weiter. In unserer alltäglichen Wirklichkeit ist es allerdings oft viel weniger klar. Daher tun wir uns auch oft schwer mit Zeitgenossen, die nur über eine solch binäre Wahrnehmung verfügen und alles auf ein allzu simples Entweder/Oder reduzieren.
Vielleicht wird ja so ein Schuh draus: Wer eine kompakte Digitalkamera hat, weiß vermutlich, dass der Autofokus auf Kontraste reagiert. Bei kontrastarmen Motiven ohne harte Kanten und Schattenwürfe versagt er daher hin und wieder. Kann es sein, dass solche Kontraste uns helfen, Szenen und Situationen richtig zu fokussieren? Und zwar nicht, um die Feinheiten, Farbnuancen und Schattierungen dann zu ignorieren, sondern um sie besser zu sehen?
Das würde dann aber auch heißen, dass man beim Kontrast nicht stehenbleiben darf. Zuspitzungen können manchmal helfen, aber eben in Maßen.
Ich wollte schon seit einiger Zeit Richard Rohrs Buch Ins Herz geschrieben wieder lesen. Jetzt endlich komme ich dazu. Und weil es fast unmöglich ist, seine Gedanken knapp und griffig zusammenzufassen, gibt es an dieser Stelle immer wieder einmal einzelne Zitate, die vielleicht den einen oder die andere dazu anregen, selbst hinein zu schauen. Los geht’s mit einem Gedanken zur Bibel – passend zur immer noch andauernden Diskussion in der Kommentarspalte:
Der Bibeltext selbst ist in einer Bewegung nach vorn und manchmal zurück, gerade so wie wir Menschen. Mit anderen Worten: Die Bibel gibt Ihnen keine Schlussfolgerungen und fertigen Antworten an die Hand, sondern öffnet einen Raum und lässt eine Richtung erkennen: Die Punkte nach vorn und hinten zu verbinden, ist unsere Aufgabe …
Das Leben selbst – und ebenso die Bibel – ist ein Prozess, der sich immer drei Schritte vorwärts und zwei Schritte zurück bewegt. Wir finden immer wieder einen Punkt, den wir dann wieder verlieren oder in Zweifel ziehen. Darin ist der Bibeltext ein Spiegel unseres menschlichen Bewusstseins und unserer Lebensreise. Unsere Aufgabe besteht darin, zu erkennen, in welche Richtung die Texte führen, die drei Schritte vorwärts gehen. Es sind die Texte, die unablässig in Richtung Erbarmen, Vergebung, Nicht-Augrenzen, Nicht-Gewalt, Vertrauen weisen.
Nach dem Post über Authentische Antworten hier noch ein weiterführender Gedanke zum Thema Predigen, der wieder die vier Beziehungsräume (öffentlich – sozial – persönlich – intim) voraussetzt.
Predigen spielt sich im mindestens sozialen, meist auch im öffentlichen Raum ab. Unverfängliche, zum Thema passende Anekdoten sind eine schöne Sache. Aktuelle „Wie gehts mir“-Erklärungen gehören da aber einfach nicht hin, vor allem, wenn es um Probleme geht (mit Erfolgen ist es jedoch nicht viel besser). Die aktuelle Befindlichkeit herauszuhalten bedeutet nicht, zu lügen oder zu heucheln. Denn ich kann ungelöste persönliche Dinge da nicht ausbreiten, ohne dass die Gemeinde anfängt, sich Sorgen um mich zu machen, anstatt über den Gegenstand meiner Predigt nachzudenken.
Ein konkretes Beispiel: Als ich mit Gipsarm ankam, musste ich den Unfall in drei Sätzen erklären – nicht während, sondern vor Beginn der Predigt. Und ich fing nicht an, zu beschreiben, wie mich das beim Schlafen stört, wann ich noch Schmerzen habe, ob ich wütend bin auf den Verursacher und so weiter. Ich kann auch mit genügend innerem und zeitlichem Abstand von bewältigen Problemen berichten, aber es muss klar werden, dass das abgeschlossen und vergangen ist, und auch nur dann, wenn es die eigene Person nicht ungebührlich in Szene setzt.
Authentisch predigen bedeutet also, nicht dem Irrtum zu erliegen, man müsse jede Aussage durch den Verweis auf eigenes Erleben untermauern. Persönliche Geschichten, vor allem sehr persönliche Geschichten, erzeugen immer eine größere Resonanz. Die Versuchung ist also durchaus gegeben, möglichst viel Persönliches zu erzählen, weil das von den Hörern belohnt wird. Doch es lauern hier mehrere Gefahren:
Die Abnutzung: Wenn Persönliches zum Standardrepertoire wird und nicht etwas Besonderes bleibt, verliert es seine Wirkung. Woche für Woche kann kaum jemand bewegende persönliche Erlebnisse erzählen, ohne am Ende um des Effekts willen Banalitäten aufzubauschen. Das ist natürlich ein Vorteil für Gast- und Wanderprediger – man kommt mit drei bis fünf guten (oder schlimmstenfalls rührseligen) Storys über die Runden und erzeugt zumindest die Illusion, es gehe hier sehr persönlich zu.
Die Verselbstständigung: Es mag eine Nebenwirkung der Klatschpresse sein, aber viele Predigthörer erinnern sich an nebensächliche persönliche Details und haben die – eigentlich beabsichtigte? – Aussage der Predigt längst vergessen.
Die Verengung: Wenn ich nur „persönlich“ predigen kann, dann wird mein persönliches Erleben zum Nadelöhr. Die Palette der Themen, die ich in der Bibel finde und die mit den Fragen und Erfahrungen in meiner Gemeinde korrespondiert, ist jedoch viel breiter. Es findet aber unter der Hand auch eine Verengung des Evangeliums auf den persönlichen und intimen Bereich statt. Das wird nie explizit gesagt, aber die soziale und öffentliche Dimension des Glaubens rückt in den Hintergrund.
Die Verflachung: Persönliche Geschichten können durchaus eine beachtliche Wirkung haben, aber wenn wir darüber vergessen, die Bezüge zum Ganzen der christlichen Botschaft herauszustellen und neben einem schönen Beispiel auch gute Gründe für ein bestimmtes Handeln zu vermitteln, verpufft sie auch ganz schnell wieder.
Sicher sagen mir nach diesem Post viele, dass ich nicht in der Gefahr stehe, auf der persönlichen Seite vom Pferd zu fallen. Ich finde das auch gar nicht schlimm. Ab und zu passt alles und ich kann tatsächlich persönlicher predigen als sonst. Authentisch ist es aber in jedem Fall.
Ich hatte mich neulich beklagt, auf welch dürftigem Niveau die Debatte um religiöse Symbole und die Rolle von Glaube und Religion im öffentlichen Leben in weiten Teilen der Medienlandschaft geführt wird. Da darf ich es nun nicht versäumen auf eine rühmliche Ausnahme aufmerksam zu machen. Auf Zeit Online schreibt Jan Ross über neue Koalitionen: Ein jüdischer Jurist aus den USA vertritt das katholische Italien, das seine Kruzifixe behalten möchte, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Klage einer Migrantin, die nicht etwa aus einem islamischen Land stammt, sondern aus dem modernistisch-areligiösen Finnland.
Ross findet erfrischend klare Worte zur aktuellen Islamdebatte zwischen verkapptem westlichem Rassismus und radikalem Islam, um dabei festzustellen:
… für den Umgang mit einer religiösen Herausforderung sind die Europäer des Jahres 2010 nicht gut gerüstet. Dies ist die glaubensfernste Region der Welt, eine kühle Zone der Säkularisierung auf einem Globus, der sonst vor frommen Leidenschaften nur so dampft. Das Christentum, die historische Religion Europas, wird weiter millionenfach gelebt, ist aber in der herrschenden Kultur in eine Außenseiterposition geraten. Es wird keineswegs mehr selbstverständlich als die »eigene« Religion Europas akzeptiert oder gar privilegiert.
Der Islam macht doppelt Angst, weil er erstens fremd ist und zweitens eine Religion. Weil in Europa die Mehrheit kein persönliches Verhältnis zu einer Religion hat, gedeiht der Generalverdacht, dass Glaube generell eine Brutstätte von Vorurteilen, Unterdrückung und Gewalt sei. Da ist es verlockend, sich am französischen Laizismus zu orientieren und Religion jedweder Art ins Private zu verbannen:
Religion wird für ein verunsichertes, verständnisloses Publikum gleichbedeutend mit Fanatismus, der Irrsin scheint jetzt auch unseren Kontinent zu überschwemmen, man will sich dagegen verteidigen und wehren.
Demgegenüber plädiert Ross für einen fairen Pluralismus der Religionen im öffentlichen Raum, und wie er diesen begründet, finde ich überzeugend:
Kluge Politik ist sich bewusst, dass ihr die Herausforderung durch den Glauben und die Gläubigen guttut, als Widerlager gegen Bequemlichkeit und Hybris – das ist das entscheidende Argument für die Präsenz der Religion im öffentlichen Raum. Dass die bestehenden Verhältnisse nicht die einzig vorstellbare Realität sind und der Mensch mit Brot allein nicht satt zu machen ist, daran erinnert jedes Kreuz auf einem Kirchturm in einer europäischen Stadt. Es kann auch ein Halbmond auf einer Moschee sein.
Wer eine Beschreibung des „Himmels“ möchte, die ohne Gold, Flügelchen und anderen Kitsch auskommt, kann sich vertrauensvoll an Van Morrison wenden. Der hat in Days Like This wirklich motivierende Bilder einer heilen Welt gefunden, in der es neben dem Ende von Frust und Schmerz auch keine pappsüßen Peinlichkeiten mehr gibt:
When it’s not always raining there’ll be days like this
When there’s no one complaining there’ll be days like this
When everything falls into place like the flick of a switch
Well my mama told me there’ll be days like this
…
When no one steps on my dreams there’ll be days like this
When people understand what I mean there’ll be days like this
When you ring out the changes of how everything is
Well my mama told me there’ll be days like this
Und wenn Van Morrison – wovon ich fest überzeugt bin – im Himmel ab und zu ein Konzert gibt, dann will ich unbedingt dabeisein…
Für alle, die schon neugierig waren, hier aus der Satzdatei des Verlags das ausführliche Inhaltsverzeichnis von Kaum zu fassen. Wie gesagt, Anfang September ist es dann da. Aber vielleicht reicht es schon mal für einen ersten Eindruck 🙂
Eben sehe ich: die Überschrift von Kapitel 11 („Bewegte Bilder“) ist leider nicht hervorgehoben, das wird natürlich noch ausgebessert. Dafür hier noch Umschlaggrafik und Klappentext:
Immer wieder hört und liest man, dass man Werte verändern müsse, damit sich im persönlichen und gesellschaftlichen Leben etwas verändert. Ganze Kongresse drehen sich darum, mit Werten in Führung zu gehen. Und das ist ja auch nicht ganz falsch.
Aber vielleicht auch nicht ganz richtig…?
Ein Gespräch über die komplexen Tücken von Entwicklungshilfe hat mich diese Woche ins Zweifeln gebracht, wie erfolgsversprechend der Werte-Ansatz ist. In vielen primitiven Kulturen sind es nicht die Werte, sondern feste Praktiken und Traditionen, die Menschen Halt geben, auch wenn sie deren Sinn nicht immer verstehen oder die mittel- und langfristigen Wirkungen gar nicht abschätzen können. Werte sind also schon eher europäisch-abstrakt gedacht. Aber bestimmte Praktiken und Gewohnheiten haben das Leben mancher Stämme und Völker so geregelt, dass sie langfristig und nachhaltig lebten. Manches davon funktioniert heute nicht mehr, und nun müssen extrem mühsam alte Gewohnheiten verlernt und neue Praktiken eingeübt werden.
Und bei uns ist es im Grunde gar nicht so viel anders. Wir haben alle möglichen Werte und können die auch aufsagen, aber nicht immer bewegt uns das automatisch in die richtige Richtung. Der Grund ist gar nicht der, dass hier Heuchler in bloßen Lippenbekenntnissen einem bestimmten Wert pro forma huldigen, in Wahrheit aber andere Dinge im Schilde führen. Sondern schlicht der, dass ein Wert ohne korrespondierende Praxis und Gewohnheit bedeutungslos ist.
Ein banales Beispiel: Für viele ist Fitness oder ein passables Aussehen (wir reden nicht von Hungermodels) durchaus ein Wert. Dennoch leiden auch viele unter Übergewicht. Der Grund ist neben einer gewissen Veranlagung nicht bei den Werten, sondern den Gewohnheiten zu suchen. Wir essen zu viel, zu unregelmäßig, zu schlecht, zu oft in Eile oder vor dem Fernseher. Früher hat sich einiges davon von selbst geregelt: Es gab kaum Süßigkeiten und Fertigzeugs, Fleisch bestenfalls sonntags, man aß mit der Großfamilie zu festen Zeiten um einen gemeinsamen Tisch herum. Es gab keine Autos und weniger Bürojobs. Ulkigerweise war schlank Sein damals gar kein wichtiger Wert.
Heute haben sich die Bedingungen geändert, unter denen wir leben und arbeiten, aber wir haben keine neuen Gewohnheiten entwickelt, die jeder von klein auf lernt (an dieser Stelle kann man nun fragen, ob wir da nicht unter unerwünschten Nebenwirkungen eines anderen Wertes leiden, nämlich der uneingeschränkten Autonomie des Individuums). Vielleicht brauchen wir also mehr gesunde Gewohnheiten. Vielleicht muss man sich in sogar erst in bestimmte Praktiken einüben, um bestimmte Werte schätzen zu lernen. Klar kann ein plumpes „das macht man so“ auch als Einschränkung empfunden werden, das ist es wohl auch ab und zu, aber es waren eben nicht alle Bräuche bloß eine Form von Freiheitsberaubung. Vielleicht brauchen wir auch neue, denn allein aus den richtigen Werten ergibt sich offenbar nicht von selbst die richtige Praxis.
Liebe, Treue und Familie sind für die Mehrheit der Menschen immer noch die höchsten Werte, wenn man Umfragen glauben darf. Dennoch scheitern viele Ehen und viele Familien zerbrechen. Vielleicht scheitern sie gar nicht an irgendwelchen konkurrierenden Werten, sondern an dem, was uns die alltägliche Praxis in unserer Gesellschaft als „normal“ verkauft, angefangen bei einem ungesunden Lebensrhythmus und den allgegenwärtigen Konsumzwängen, die naiv als „Lebensstandard“ bezeichnet (und mit Lebensqualität verwechselt) werden? Vielleicht scheitern viele Menschen sogar genau daran, dass diese intimen Beziehungen ein solch hoher Wert sind und es nichts anderes gibt, was noch irgendeine Form von Sinn und Erfüllung verspricht – so wie (davon hatten wir es ja die letzten Tage auf diesem Blog) mache christliche Gemeinschaften daran scheitern, dass die Erwartungen zu hoch sind. Also nicht fehlende Werte, sondern ein Mangel an gelebten und erprobten Alternativen?
Jüngst habe ich spontan einen – wie ich fand: hilfreichen – Gedanken von Martin Seligman getwittert, dass Vergebung nicht das Auslöschen schmerzhafter Erinnerungen ist, sondern deren Umetikettierung. Ich kann nicht ändern, was geschehen ist, ich kann es auch nicht auf Kommando vergessen, aber ich kann es anders bewerten. Wie neulich ein Freund zu mir sagte: „Wer mich beleidigt, das bestimme immer noch ich.“
bild: photocase
Ich wurde jedoch umgehend von bibelfesten Facebook-Freunden aufgeklärt, dass das unzureichend sei. Schließlich sage Jesaja, Gott werfe unsere Sünden ins äußerste Meer – er vergesse sie also tatsächlich.
Also bin ich der Frage noch etwas nachgegangen, da tut sich nämlich ein beachtliches Spannungsfeld auf. Zum einen ist die Metapher bei Jesaja auf judäische Landratten zugeschnitten. Wir wissen heute, dass „äußerstes Meer“ geographisch ein sehr relativer Begriff ist und dass zweitens tödlicher Dreck selbst aus der Tiefsee wieder zurückkommt oder langfristig sehr unerwünschte Wirkungen entfaltet. Dass Gott Sünden ins äußerste Meer wirft, bedeutet meines Erachtens erst einmal nur, dass er sie unserem Zugriff entzieht. Für ihn selbst sind sie damit nicht zwingend außer Reichweite. Freilich, ob eigene oder fremde Schuld, er erinnert uns nicht mehr ständig daran.
Paulus erinnert in einigen Passagen aber sehr wohl an seine Vergangenheit als Christenverfolger, obwohl (oder vielleicht ja auch gerade weil) er weiß, dass ihm vergeben wurde. Vergessen ist also bestenfalls eine Spätfolge von Vergebung. Wer vergibt, verzichtet darauf, das Fehlverhalten des anderen als Trennungsgrund anzusehen. Das ist – um die Metapher wieder zu wechseln – eben die Umetikettierung. In manchen Registraturen reicht es ja, etwas falsch abzulegen, und es verschwindet tatsächlich auf Nimmerwiedersehen.
Wer aber vergibt, muss wenigstens bereit sein, sagt Miroslav Volf, irgendwann auch zu vergessen. Er sagt dies im Blick auf die Opfer von Folter, Missbrauch, Krieg und Hass. Zugleich ist es nötig, lange genug an diese Gräuel zu erinnern, damit sie sich nicht wiederholen und um den Opfern gerecht zu werden, deren Qualen nur verdoppelt würden, wenn vorschnell der Mantel des Schweigens und Vergessens über die erlittenen Verbrechen gebreitet würde. Erinnerung – wer wüsste das besser als wir Deutschen? – hat auch einen notwendigen präventiven Charakter: Sie verhindert eine falsche Umetikettierung, die aus Verbrechern Helden machen will, ob die nun Hitler, Mugabe oder Karadzic heißen. Die aber haben ihre brutalen Maßnahmen mit der Erinnerung an Untaten ihrer Gegner und dem Herumstochern in alten Wunden gerechtfertigt und damit immer neuen Hass geschürt.
So lange ein Rückfall droht und so lange die Wunden der Opfer noch nicht geheilt sind, vergisst Gott auch nicht. Selbst da, wo er vergeben hat. Das vollkommene Vergessen kommt erst ganz am Ende der Geschichte. Dann aber muss es kommen. Volf schreibt:
Wo es keine Schwerter mehr gibt, wird auch kein Schild mehr nötig sein … (aber) so lange der Messias noch nicht in Herrlichkeit gekommen ist, müssen wir um der Opfer willen das Gedenken an ihr Leiden am Leben halten.
Gelungene Versöhnung beginnt mit Vergebung. Und sie führt dazu, dass die traumatische Vergangenheit irgendwann, hoffentlich bald einmal kein Thema mehr ist. Die Erwartung, dass etwas nicht mehr weh tun dürfe oder die Erinnerung verklärt oder getilgt sein müsse, wenn ich dem anderen vergebe, ist jedoch problematisch und stürzt viele in unnötige Grübeleien. Vergebung bedeutet erst einmal nur, dass trotz allem darauf verzichte, dem anderen Schmerz zuzufügen oder ihn zu verurteilen.
Der Gewinner bin ich selbst: Rachegefühle und Lebenszufriedenheit, schreibt Seligman, verhalten sich umgekehrt proportional. Eine praktische Hilfe ist dabei das REACH Modell von Everett Worthington. Oder, um es theologisch zu beschließen, noch einmal Miroslav Volf, der redet von Sphären statt Etiketten:
Vergebung kommt ins Straucheln, weil ich den Feind aus der menschlichen Gemeinschaft ausschließe, während ich mich aus der Gemeinschaft der Sünder herausnehme. Aber niemand kann lange in der Gegenwart des Gottes des gekreuzigten Messias sein, ohne diese doppelten Ausschluss zu überwinden – ohne den Feind von der Sphäre monströser Unmenschlichkeit in die Sphäre gemeinsame Menschseins und sich selbst von der Sphäre stolzer Unschuld in die Sphäre gemeinsamer Sündhaftigkeit zu versetzen.
Der Sinn des Lebens besteht darin, sich mit etwas Größerem zu verbünden – und je größer das ist, woran Sie sich halten, desto sinnvoller ist Ihr Leben. Viele Menschen, die Sinn und Zweck in ihrem Leben gesucht haben, haben sich dem New-Age-Denken zugewandt oder sind zurückgekehrt zu den etablierten Religionen. Sie spüren regelrecht einen Hunger nach Wundern und nach dem Eingreifen Gottes. Eine der verdeckten Folgekosten der zwanghaften Besessenheit heutiger Psychologie mit allem Pathologischen ist, dass sie diese Pilger hat verhungern lassen.
Zuerst fand ich das merkwürdig: In manchen Psalmen fordert der jeweilige Beter sich auf, bestimmte Haltungen einzunehmen: „Lobe den Herrn, meine Seele“ (Ps 103,1ff) oder „warum bist du betrübt, meine Seele?“. Diese Selbstgespräche sind interessant, weil dann immer auch Gründe angeführt werden, die eigene Situation anders – positiver – zu bewerten, als bisher. Leider geht das Dialogische in Übersetzungen wie der Guten Nachricht verloren, wenn da zu Ps 42,6 nur noch steht „Warum bin ich so mutlos?“.
Mit sich selber so zu „disputieren“ ist eine Möglichkeit, Pessimismus und Niedergeschlagenheit zu überwinden, sagt auch Martin Seligman: „Erlernter Optimismus erfordert Genauigkeit“. Im Unterschied zur leeren Selbstsuggestion besteht die Aufgabe darin, wirkliche Gründe zu finden, das negative Urteil über sich selbst und die eigene Situation zurückzunehmen. In den Psalmen hat viel mit Gottes Verheißungen und seinen bisherigen guten Taten zu tun, die es in den Mittelpunkt unserer Lebensperspektive zu stellen gilt.
Es geht also um Argumente, nicht um Beschwichtigungen. In manchen unangenehmen Situationen muss ich genauer hinsehen und schärfer denken, damit eine Kritik weniger verletzend, ein Verlust weniger tragisch, ein Rückschlag weniger entmutigend und ein Versagen weniger endgültig ausfällt. Die spontanen Gedanken, die sich in solchen Situationen einstellen, sind eben nicht immer angemessen (z.B. wenn die Fußballmannschaft einen Gegentreffer kassiert und man sich schon am Rande einer Niederlage sieht). Eine bessere Einschätzung versetzt uns in die Lage, Frust zu überwinden („wir haben noch Zeit, und bisher haben wir fast immer ein Tor geschossen“) und vorhandene Möglichkeiten zu nutzen (Taktik ändern, frische Spieler einwechseln, Tempo erhöhen).
Wir hatten diese Woche ein interessantes Gespräch rund um das Thema Gebet – mit all den schwierigen Fragen. Etwa die, warum wir Gott überhaupt um etwas bitten sollten, wenn er doch viel besser weiß was gut ist als wir, oder warum Gott nicht sowieso das Beste für alle tun sollte. Manche denken ja auch, dass Gott einen vollkommenen Plan hat, der seit Ewigkeiten fest steht, so dass man eigentlich nur beten kann „mach doch, was du willst“. Leider fühlt sich das Leben nur in seltenen Fällen so perfekt an.
Mir fiel dabei wieder ein, dass sich für mich eine Sache wie ein roter Faden durch die Bibel hindurch zieht: Gott handelt grundsätzlich nicht allein in der Geschichte. Er legt – nimmt man die biblischen Texte ernst – großen Wert darauf, menschliche Partner zu haben. Und das sind zu allererst Menschen, die beten. Nicht einfach nur für ihre persönlichen Bedürfnisse, sondern dafür, dass Gottes Wille geschieht, dass Gerechtigkeit kommt und Leid ein Ende hat. An eben diesem Punkt – seinen Willen durchzusetzen – hält sich Gott erstaunlich zurück. Ab und zu verzweifeln wir fast daran, dass er zögert. Wartet er auf uns? Mag er, anders als so manche Regierenden, keine Alleingänge?
Vorgezeichnet ist das bei Abraham, deutlich bei Mose und von da ab geht es über die Propheten zu Jesus und von Jesus zu allen Christen, die Gottes „Agenten“ auf Erden sind. Die feilschen auch mal mit Gott wie Abraham um Sodom und die bittende Witwe in Lukas 18, die den korrupten Richter belästigt. Gott ist sicher nicht korrupt, aber er lässt sich – so lese ich das – beeinflussen. Offenbar gar nicht so ungern.
Nicht, dass Gott nicht anders könnte. Vielleicht findet er auch hier und da niemanden und greift trotzdem ein, um wenigstens das Schlimmste zu verhindern. Und sicher geht es hier nicht darum, sich mit einer privilegierten Partnerschaft zu brüsten. Allein die Tatsache, dass wir auf die Idee kommen, zu beten, und den Wunsch entwickeln, dass sich etwas verändert, ist dem Wirken des Heiligen Geistes zu verdanken. Beten ist schließlich auch keine Alternative zum Handeln, sondern eine Ausweitung unseres Handelns auf Bereiche, die wir nicht direkt beeinflussen können.
Also doch alles vorhergeplant? Nein, das gerade nicht – es ist vieles offen. Die Initiative geht von Gott aus. Aber wir spielen mit im Team. Und Geschichte entsteht im Zusammenspiel von Gott und Menschen. Er braucht von seinen Agenten keine Informationen, die hat er längst. Aber ab und zu schleust er irgendwo jemanden ein, der ihm eine Tür oder ein Fenster öffnet.
Neulich erklärte mir jemand in einem Gespräch seine Abneigung gegen vorformulierte Gebete. Eine Weile später fiel mir auf, dass dieselbe Person mit Begeisterung Lobpreislieder singt. Die allerdings bestehen – nimmt man mal die Musik weg – aus … vorformulierten Gebeten! Also singen ja, sprechen nein?
Das ist der Punkt: Man kann Gebete nur gemeinsam sprechen, wenn sie vorformuliert sind. Frei können immer nur einzelne beten, schon auch irgendwie „miteinander“, nur eben nicht unisono. Vorformulierte Gebete machen aber genau das möglich. Ich denke, sie sind ein Schatz: Wir lernen für das persönliche Gebet daraus, aber sie verbinden uns auch mit einander.
Meinetwegen singen wir sie auch, wenn’s hilft. Nur drauf verzichten sollten wir auf keinen Fall.
Vor ein paar Monaten hörte ich eine Stimme neben mir sagen: „Nanu, eben hatte ich doch noch ein Leben.“ Die Worte stammten vom meinem Sohn und bezogen sich auf ein Computerspiel, da hat man in der Regel mehr als ein Leben. Ich hingegen habe mich damals gefragt, wie viele Leute das auf ihre persönliche Biografie auch so sagen würden.
Einen kennen wir nun: BP-Chef Tony Hayward will „sein Leben zurück„. Da gibt es außer ihm natürlich ein paar Menschen mehr im Zusammenhang mit der beispiellosen Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Und nachdem viele deutlich schlimmer betroffen sind als Hayward, wird ihm sein Wunsch nach einem sorgen- und stressfreien Leben mit entspannten Runden auf dem Golfplatz zu Recht verübelt. Man muss sich die Dimensionen des hässlichen Flecks immer wieder mal klar machen.
Hayward hat den Unfall nicht verursacht, aber er ist für die Folgen selbstverständlich verantwortlich und wird dafür ja sehr gut bezahlt. Er darf sich seinen geregelten Alltag gern zurückwünschen, wenn zuvor auch alle Fischer wieder gut schlafen, weil der letzte Dreck beseitigt ist und das Ökosystem sich wieder erholen kann. Erst wenn der letzte Helfer, der von den ölzersetzenden Chemikalien geschädigt wurde, wieder gesund ist. Und ein paar Leute werden ihr Leben nie wieder zurück bekommen. Es ist eben kein Computerspiel.
Das Verrückte daran ist ja: der Anspruch, dass alles so bleiben soll, wie es ist, führt geradewegs in die diversen Katastrophen. Wir werden unser Leben nie wieder zurück bekommen. Je länger wir daran festhalten, desto größer der Schock, wenn die Veränderungen über uns – dann unvorbereitet – hereinbrechen. Obama fordert die Energiewende, ob er sie durchsetzen kann, muss sich erst zeigen. Umso unverständlicher, dass Deutschland die überfällige Wende in der Verkehrspolitik wieder versäumt und dass fast unbemerkt von der Öffentlichkeit auch die Folgeverhandlungen zum Kopenhagener Klimagipfel gefloppt sind.
Was wäre wohl gewesen, wenn Jesus im Garten Gethsemane gesagt hätte, dass er sein Leben zurück will, und eine Kompanie Engel angefordert hätte, die ihn gerade noch rechtzeitig mit großem Zapfenstreich verabschieden? Hayward bekommt sein Leben übrigens gerade wieder zurück. Besser so für BP und die Welt. Walter Mixa arbeitet noch daran – seine Kollegen sind jedoch weniger kooperativ als der Aufsichtsrat von BP. Für den Rest gilt: Umkehr ist das Gebot der Stunde. Johann Baptist Metz hat es im Blick auf die Kirche so zugespitzt:
Kehren wir Christen in diesem Lande um, oder glauben wir lediglich an die Umkehr und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten Umkehr die alten? Folgen wir nach, oder glauben wir nur an die Nachfolge und gehen dann unter dem Deckmantel der nur geglaubten Nachfolge die alten, immer gleichen Wege? Lieben wir, oder glauben wir an die Liebe und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten Liebe die alten Egoisten und Konformisten? Leiden wir mit oder glauben wir nur an das Mitleiden und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten “Sympathie” allemal die Apathischen?
Wir können die Welt nicht durch einen neuen Plan, ein neues Projekt oder eine Idee verändern. Wir können nicht einmal andere Menschen verändern durch unsere Überzeugungen, Geschichten, Tipps und Vorschläge, aber wir können einen Freiraum schaffen, der Menschen ermutigt, ihre Waffen abzulegen, ihr Eingenommensein und ihre Voreingenommenheit abzulegen und dann aufmerksam und sorgfältig auf die Stimmen aus ihrem Innersten zu hören.
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