Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, muss sich um die Zukunft der Demokratie ernsthaft Sorgen machen. Spätestens seit ihr das Attribut „marktkonform“ verschrieben wurde, ist unübersehbar, dass sich die Macht vom Volk zu den Märkten verlagert und damit hin zu denjenigen, die sie über Geld und Institutionen beeinflussen können. Zugleich wird das immer ohnmächtige Volk von einer Sicherheitsdebatte in Atem gehalten, die die eigentlichen Ursachen der Angst und Verunsicherung verdunkelt.
Zygmunt Bauman ist sicher einer der renommiertesten Sozialwissenschaftler. In seinem neuen Buch Collateral Damage erinnert er daran, dass die Wiege der Demokratie im antiken Griechenland um die Agora kreiste, auf der Privates und Öffentliches vermittelt wurde. Die Geschichte der Demokratie seither kann man, so Bauman, als den Versuch begreifen, die in größeren Staaten nicht mehr allen physisch zugängliche Agora in neuen Formen wiederzubeleben, um den Bürgern die Partizipation am politischen Prozess zu ermöglichen:
What was essentially expected or hoped to be achieved in the agora was the reforging of private concerns and desires into public issues; and, conversely, the reforging of issues of public concern into individual rights and duties.
Rede- und Meinungsfreiheit werden heute als Gradmesser einer demokratischen Gesellschaft herangezogen. Der Soziologe Albert O. Hirschmann schlug vor, für Bürger und Verbraucher dieselben Kriterien zu verwenden, da er davon ausging, dass ökonomische Freiheit und Demokratie einander fördern und bedingen, eine wirtschaftliche Liberalisierung also über kurz oder lang auch die Freiheitsrechte der Bürger stärkt. Die These darf man heute als widerlegt ansehen, viele Wirtschaftswunder spielen sich in autoritären Staaten ab. Und auch in de demokratischen Gesellschaften tut sich eine Kluft aus zwischen den theoretisch gleichen Rechten der Bürger und deren Fähigkeit, sie tatsächlich wahrzunehmen.
Die Väter das Sozialstaates im 20. Jahrhundert hatten es sich zum Ziel gesetzt, diese Kluft zu überwinden. Sie waren darin keineswegs Sozialisten, sondern echte „Liberale“ im damaligen Sinn, denen es darum ging, möglichst vielen Menschen eine gesunde und gute Lebensperspektive zu ermöglichen, in der das liberale Ideal der Wahlfreiheit nicht nur Theorie bleibt:
Lord Beveridge, to whom we owe the blueprint for the postwar British ‘welfare state’, later to be emulated by quite a few European countries, was a Liberal, not a socialist. He believed that his vision of comprehensive, collectively endorsed insurance for everyone was the inevitable consequence and the indispensable complement of the liberal idea of individual freedom, as well as a necessary condition of liberal democracy.
Die Gemeinschaft muss dem einzelnen eine Grundsicherheit gegen Absturz und Ausschluss bieten, damit eine Bürgergesellschaft überhaupt funktionieren kann. Für Bauman ist der Sozialstaat die moderne Verkörperung der Idee menschlicher Gemeinschaft, in der wirtschaftliche, politische und soziale Rechte im Gleichgewicht sind:
…democratic rights, and the freedoms that accompany such rights, are granted in theory but unattainable in practice, the pain of hopelessness will surely be topped by the humiliation of haplessness; … Without social rights for all, a large and in all probability growing number of people will find their political rights of little use and unworthy of their attention.
T.H. Marshall konnte vor 60 Jahren noch postulieren, es gebe ein allgemeines Gesetz, nach dem sich aus Eigentumsrechten politische Rechte und daraus wiederum soziale Rechte entwickeln. Der Markt stärkt die Agora, und die wird immer inklusiver, bestehende Ungleichheiten werden zunehmend überwunden. Dagegen vertrat John Kenneth Galbraith die These, die zufriedene und gesättigte Mehrheit verliere das Interesse am Wohlfahrtsstaat, der zunehmend als störende Einengung statt als beruhigende Absturzsicherung empfunden werde. Und so kam es dann auch:
The introduction of the social state used indeed to be a matter ‘beyond left and right’; now, however, the turn has come for the limitation and gradual dismembering of welfare state provisions to be made into an issue ‘beyond left and right’.
Die Privatisierung führte zu einem immer stärkeren Abbau des Sozialstaates (Bauman versteht den Begriff nicht so sehr im Sinne einer abstrakten Umverteilung sondern einer gemeinschaftsdienlichen Zuwendung und Fürsorge) und damit zu einer Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – in bedrohlichem Ausmaß:
‘Privatization’ shifts the daunting task of fighting back against and (hopefully) resolving socially produced problems onto the shoulders of individual men and women, who are in most cases not nearly resourceful enough for the purpose; whereas the ‘social state’ tends to unite its members in an attempt to protect all and any one of them from the ruthless and morally devastating competitive ‘war of all against all’.
Die „Ordnung der Gleichheit“ – und mit ihr das Zutrauen und die Solidarität – nimmt ab, die „Ordnung des Egoismus“ kehrt zurück – und mit ihr das Misstrauen. Der Sozialstaat hatte Menschen vor einem dreifachen Fluch geschützt: dem Verstummen, der Exklusion und der Demütigung.
And it is the same principle that makes the political body democratic: it lifts members of society to the status of citizens, that is, it makes them stakeholders, in addition to being stockholders of the polity; beneficiaries, but also actors responsible for the creation and decent allocation of benefits.
Diese Demontage der Solidarität führt zu einem wachsenden Desinteresse an gesellschaftlichen und politischen Themen. Die Autonomie des einzelnen bedeutet, dass er nun auch Probleme zu lösen hat, die eigentlich den privaten Bereich weit übersteigen. Wahrgenommen wird das als eine verschärfte Konkurrenz der Individuen innerhalb einer Gesellschaft, die zu immer größeren Polarisierungen führt und große existenzielle Unsicherheit verbreitet:
Not much prompts people, therefore, to visit the agora – and even less prods them to engage in its works. Left increasingly to their own resources and acumen, individuals are expected to devise individual solutions to socially generated problems, and to do it individually, using their individual skills and individually possessed assets.
… To a steadily growing extent, the task of gaining existential security – obtaining and retaining a legitimate and dignified place in human society and avoiding the menace of exclusion – is now left to the skills and resources of each individual on his or her own;
Die Stars und Superreichen spielen dabei eine groteske Rolle: Sie werden zu Idolen, deren unerreichbaren Lebensstil man nachzuahmen versucht in der absurden und illusorischen Annahme, im Grunde könne es doch jedem gelingen, reich und berühmt zu werden. Die Illustrierten und Promi-Magazine sind das neue Opium des Volkes.
Die allgegenwärtige, nebulöse und unterschwellige Angst vor dem Scheitern und den Risiken des Lebens in dieser Gesellschaft spielt dabei den Politikern wie den Konzernen in die Hände. Produkte werden als identitätsstiftende Symbole vermarktet, die der Vergewisserung von Identität und Teilhabe dienen. Und die Regierenden führen öffentlichkeitswirksame Schaukämpfe an allen möglichen Fronten, um sich dem verunsicherten Wahlvolk als Retter anzubieten, wie Bauman scharfsichtig anmerkt:
… they are interested in expanding not reducing the volume of fears; and particularly in expanding fears of the kinds of dangers which TV can show them to be gallantly resisting, fighting back against and protecting the nation from. … However successful the state might be in resisting the advertised threats, the genuine sources of anxiety, of that ambient and haunting uncertainty and social insecurity, those prime causes of fear endemic to the modern capitalist way of life, will remain intact.
Ob Einwanderer oder Terroristen, Sozialschmarotzer oder Schuldenländer, die allzu gern beschworenen Risiken unterscheiden sich nur recht bedingt, während die wahren Ursachen der Verunsicherung weitgehend ungenannt und praktisch völlig unangetastet bleiben. Verletzungen und Bürger- und Menschenrechten werden dabei klaglos hingenommen, in der ebenso illusorischen Annahme, es treffe nur „die anderen“.
We, the ‘democratic majority’, console ourselves that all those violations of human rights are aimed at ‘them’, not ‘us’ – at different kinds of humans (‘between you and me, are they indeed human?!’) and that those outrages will not affect us, the decent people.
Das ganze liest sich wie ein prophetischer Kommentar zu den Ereignissen der letzten Monate – „Supergrundrechte“ etwa. Baumans Fazit zu den Mechanismen gegenwärtiger Politik fällt entsprechend düster aus (und diesmal hänge ich die Übersetzung an):
In an insecure world, security is the name of the game. Security is the main purpose of the game and its paramount stake. It is a value that in practice, if not in theory, dwarfs and elbows out of view and attention all other values – including the values dear to ‘us’ while suspected to be hated by ‘them’, and for that reason declared the prime cause of their wish to harm us as well as of our duty to defeat and punish them. In a world as insecure as ours, personal freedom of word and action, the right to privacy, access to the truth – all those things we used to associate with democracy and in whose name we still go to war – need to be trimmed or suspended.
In einer unsicheren Welt heißt das Spiel: Sicherheit. Sicherheit ist der Hauptzweck des Spiels und der vorrangige Einsatz. Ein Wert, der in der Praxis, wenn nicht auch in der Theorie, alle anderen Werte in den Schatten stellt und verdrängt – einschließlich derer, die ‚uns‘ teuer sind und von denen wir glauben, sie seien ‚ihnen‘ verhasst. und aus diesem Grund wurden sie zum Hauptgrund erhoben, warum sie uns schaden wollen und warum es unsere Pflicht ist, die zu besiegen und zu bestrafen. In einer Welt, die so unsicher ist wie unsere, müssen persönliche Freiheit in Wort und Tat, Zugang zur Wahrheit – all die Dinge, die wir immer mit Demokratie verbunden haben und in deren Namen wir immer noch in den Krieg ziehen – beschnitten oder außer Kraft gesetzt werden.