Inkonsequent konsequent…

Eine konservative theologische Hochschule im Hessischen hat einen pensionierten Pfarrer aus dem Schwäbischen als Dozenten für Apologetik angeheuert. In der dazugehörigen Pressemeldung wird die Aufgabe als „Auseinandersetzung mit kritischen Anfragen gegen (!!) den christlichen Glauben“ beschrieben.

Nun spricht man im Deutschen zwar von Anklagen gegen jemanden, aber Anfragen werden an jemanden gerichtet, nicht gegen ihn. Stellt sich nun die Frage, ob hinter der sprachlichen Inkonsequenz auch eine theologische steht, oder ob die Sprache hier die logische Konsequenz einer Theologie ist, die Kritik und Differenzen als Antagonismus und Feindschaft interpretiert.

 

Share

Brandrede vom Feuerwehrhauptmann

Vorgestern habe ich in einem Workshop beim Jugendkirchen-Symposium in Nürnberg eine sehr lebendige Diskussion über Prägungen, Frömmigkeitsstile und die Möglichkeit von Verständigung, ja Bereicherung der verschiedenen Richtungen erlebt. Es ist deutlich zu sehen und zu spüren, dass wir da unterm Strich große Fortschritte gemacht haben in den letzten Jahren.

In den USA hat in diesen Tagen der Hardcore-Reformierte John MacArthur ein neues Scharmützel auf seinem Jahrzehnte dauernden Lieblingskreuzzug absolviert. Auf seiner „Strange Fire“-Konferenz verdammt er die charismatische Bewegung in all ihren Facetten in Grund und Boden. Sie stecke voller theologischer Irrtümer und sei ein Einfallstor des Verführers und Feindes der Auserwählten Gottes. Und mit der Jesus-People Bewegung fing das ganze Elend an: Choräle und Anzüge kamen aus der Mode, Junkies errangen die theologische Lufthoheit. 90% aller Charismatiker und Pfingsten predigen laut MacArthur das Wohlstandsevangelium, viele leugnen die Dreieinigkeit und eine Menge seien obendrein auch noch katholisch, und es werden immer mehr…

Kein Wunder, dass er sich für diesen Rundumschlag prompt den Vorwurf der „Lieblosigkeit“ gefallen lassen musste. Bei einem echten Fundamentalisten – und darum handelt es sich bei MacArthur – kann man sich die Klage allerdings sparen. Denn für ihn gibt es, subjektiv ganz und gar stimmig, kein größeres Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als anderen die Wahrheit vorzuenthalten. In MacArthurs Welt sieht es also so aus, dass er aus Liebe zu den anderen unbequeme Dinge sagt und dafür auch noch ungerechtfertigt Prügel bezieht.

Nun wird der Schlipsträger, der da so barsch austeilt, erstens nicht jünger und zweitens ist er in einem selbstbezüglichen, geschlossenen logischen System gefangen, in das von Außen wohl auch deshalb keine Störung mehr eindringen kann, weil man sich drinnen im Besitz der reinen und vollständigen, weil objektivierten Wahrheit weiß.

In Wirklichkeit könnte die Wahrheit so banal sein, wie MacArthurs Verweis auf die Anzüge und Choräle: Da steckt jemand in den Formen, Vorurteilen und Vorstellungen einer weithin vergangenen Zeit fest und kann einfach nicht über seinen Schatten springen. Unfair ist das Ganze nicht nur denen gegenüber, die MacArthur da verunglimpft, sondern auch denen, die er repräsentiert – weithin harmlose, aber eben etwas konservative und ängstliche Christen. Je größer deren Angst, desto loyaler folgen sie ihrem großen Feuerwehrhauptmann. Dafür hat er gerade wieder gesorgt.

Share

Gefährliche Medienschelte

Facebook-Konversationen haben etwas Faszinierendes, sie sind eine Art Stammtisch 2.0, an dem sich eigenartige Äußerungen wiederfinden, die man bislang dem Bierkonsum angelastet hätte. Heute schlug plötzlich in einer ganze Reihe von Posts die mediale Kritik an Bischof Tebartz-van Elst in pauschale Medienschelte um.

„Den Medien“ wird wahlweise Maßlosigkeit, Überheblichkeit, Arroganz, Selbstgerechtigkeit, Häme und mehr attestiert. Und kaum jemand widerspricht diesen Urteilen und der Empörung, die aus ihnen spricht. Plötzlich sind die Überbringer der schlechten Nachricht die eigentlichen Verbrecher. Wahlweise findet man auch alle irgendwie zum Kotzen: Journalisten, Politiker, Bischöfe.

Die Presseberichte, die ich zu dem Thema gelesen habe, waren durchweg sachlich vorgetragen (gut, Springerpresse fehlt in meiner Lektüre, aber wer die liest, ist selbst schuld). Zorn und Empörung sprach bestenfalls aus den Zitaten Betroffener. Es wird öffentlich über eine öffentliche Person berichtet, es wird Kritikwürdiges kritisiert, Fragen gestellt, Äußerungen bewertet. „Die Medien“ kommen ihrem Auftrag nach, die Öffentlichkeit aufzuklären und eine offene Diskussion zu ermöglichen. Bekommen sie dafür Beifall? Eigenartigerweise – nein!

Wer in dieser Situation Medienschelte übt, der spielt den Populisten und Verschwörungstheoretikern in die Hände, die keine kritische Öffentlichkeit wollen, weil sie keine Demokratie wollen. Oder einem System wie dem britischen Staatsapparat, der dem Guardian den Krieg erklärt hat.

Anders gesagt: Vermutlich ohne es zu wollen, arbeiten sie an der Putinisierung Deutschlands.

Liebe Freunde, würdet Ihr Euch das bitte nochmal überlegen?

Share

Stellt Beichtstühle auf!

Von der Mehrheit der Mitbürger bestenfalls halbherzig beachtet, sind die Nachrichten zum Spähverhalten von NSA & Co in den letzten Tagen eher schlimmer als besser geworden, wie etwa die Aussagen von Lavabit-Gründer Ladar Levison, der seine Firma lieber dicht machte, als die Privatsphäre seiner sämtlichen (!) Kunden zu opfern, oder die Erfahrungen des Schriftstellers Ilja Trojanow, dem die Einreise in die USA ohne Angabe eines Grundes verweigert wurde.

Ein Hinweis darauf, warum nicht mehr Menschen auf die Barrikaden gehen, findet sich am Anfang des sechsten Kapitels von Zygmunt Baumans Collateral Damage. Bauman zitiert seinen Kollegen Alain Ehrenberg, der an einen Herbstabend in den Achtzigern erinnert. Eine gewisse Vivienne erklärte damals in einer Talkshow, sie habe noch nie einen Orgasmus erlebt, weil ihr Mann Michel an vorzeitiger Ejakulation leide. Drei Jahrzehnte später ist das schon so banal, dass man sich wieder mühsam klar machen muss, worin der Tabubruch damals bestand: Etwas ganz Privates aus der intimen Beziehung zweier Menschen wurde in der jedermann zugänglichen Öffentlichkeit ausgebreitet. Zugleich wurde erstmals öffentlich eine Sprache benutzt, die bislang strikt im emotionalen Nahbereich angewandt wurde.

Rückblickend lässt sich sagen, dass seither die klare Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zusehends aufgehoben wurde. Das Ereignis markiert den Übergang zur „Beichtgesellschaft“, so jedenfalls lässt sich Baumans Terminus Confessional Society übersetzen, die Enthüllungsgesellschaft, in der das „Hosen runter!“ zum kategorischen Imperativ geworden ist, so dass sich jeder, der auf Privatsphäre besteht, dem Verdacht aussetzt, er habe etwas zu verbergen (oder, schlimmer noch, nichts Interessantes zu vermelden?).

Was zunächst wie der Triumph des Privaten wirkte, das sich in der Öffentlichkeit selbstbewusst behauptete, wurde zum Pyrrhussieg. Der Beichtstuhl, Symbol für den Schutzraum, in dem Privates angemessen zur Sprache gebracht werden konnte, ohne dadurch öffentlich zu werden, ist seither nur noch verwanzt zu denken. Nun werden Dinge nicht mehr vor Gottes Angesicht und in der Gegenwart seines zum Schweigen verpflichteten menschlichen Repräsentanten, sondern vor laufenden Kameras und damit potenziell vor aller Augen enthüllt. Er schreibt:

In einer verwirrenden Kehrtwende gegenüber den Gewohnheiten unserer Vorfahren haben wir den Mut, die Hartnäckigkeit und vor allem den Willen verloren, solche Rechte noch zu verteidigen, diese unersetzlichen Bausteine individueller Autonomie.

In der „festen“ Moderne hat die Furcht vor einer Invasion des misstrauischen, kontrollwütigen Staates in die Privatsphäre des einzelnen die Menschen heftig bewegt. George Orwell schrieb in 1984: „Wenn Sie ein Bild von der Zukunft haben wollen, so stellen Sie sich einen Stiefel vor, der auf ein Gesicht tritt. Unaufhörlich.“ Ergo war man darauf bedacht, das Private vor einem potenziell totalitären System zu schützen, und mit ihm die eigene Autonomie, Identität und Selbstbestimmung. Längst aber hat sich die Situation dem genähert, was Peter Ustinov 1954, seiner Zeit weit voraus, so formuliert hatte: „This is a free country, madam. We have a right to share your privacy in a public space.“

Warum ist die Auflösung des Privaten ein solches Problem? Weil, so Bauman, dessen selektive Enthüllung Nähe und Distanz in menschlichen Beziehungen definierte und damit echte und dauerhafte Bindung ermöglichte. Wo wahllos alles im Leben einer Person zugänglich geworden ist, wo es keine Geheimnisse mehr gibt, da lösen sich diese Bindungen auf. Sich dem anderen zu offenbaren ist kein Vertrauensbeweis mehr und weckt auch kein Gefühl der Verantwortung und Verpflichtung.

Für Sascha Lobo hat mittlerweile die Ära des Pseudoprivaten begonnen, weil die Bürger die Bespitzelung stillschweigend tolerieren, statt sich zur Wehr zu setzen. Verständlich wird die ausbleibende Gegenwehr, wenn man mit Bauman ihre Vorgeschichte betrachtet. Und doch muss man mit Lobo allen, die sich heraushalten, den Vorwurf machen, dass sie momentan im Begriff sind, das längst aufgeweichte Konzept des Privaten nun völlig aufzugeben, ohne zu ahnen, dass wir alle irgendwie Levisons und Trojanows sind.

Vielleicht sollten wir in den Fußgängerzonen demonstrativ Beichtstühle aufstellen, in denen das wieder erfahrbar wird, wie es ist, in einem vor neugierigen Blicken und voyeuristischer „Anteilnahme“ geschützten Rahmen über sich zu sprechen. In Gegenwart eines Menschen, der mich weder neugierig als Stofflieferanten für Klatschgeschichten versteht, den ich auch nicht beeindrucken muss, der mich nicht als potenzielles Sicherheitsrisiko argwöhnisch belauscht, sondern mir zuhört als einem Geheimnisträger, dessen Würde eben darin besteht, sich nicht einmal selbst restlos entschlüsseln und äußern zu müssen – weil dieses Geheimnis meiner selbst bei Gott, und nur bei ihm, aufgehoben ist.

Aus einer in der Begegnung mit Gott gegründeten Souveränität heraus – die keltischen Christen würden von der „Zelle des Herzens“ sprechen – könnte das Götzenhafte des nach Allmacht strebenden Sicherheitsapparates wie auch einer Öffentlichkeit, die alle privaten Kundgaben allmählich und doch unentwegt in seichte Unterhaltung verwandelt und damit aus dem vermeintlich Individuellen etwas völlig Austauschbares macht, endlich sichtbar werden. Wir könnten anfangen, uns gegen diese Ansprüche zur Wehr zu setzen und uns mit denen solidarisieren, die als Feinde des Systems wegen Gehorsamsverweigerung ausgegrenzt und drangsaliert werden.

Share

Der verfehlte Hass der (vermeintlich?) Ohnmächtigen

DSC01051.jpgZygmunt Bauman hat mit Collateral Damage keine schrille und leicht zu diskreditierende Apokalypse, sondern eine nüchterne, zutiefst beunruhigende, aber alles andere als leidenschaftslose Zustandsbeschreibung unserer westlichen Welt vorgelegt. Das grundsätzliche Lebensgefühl (Wolfgang Herles sprach es gestern bei Pelzig hält sich an) in einer fundamental unberechenbaren Welt ist das der Unsicherheit. Folglich nimmt das Bedürfnis nach Sicherheit dramatisch zu.

Aber wie gehen Bürger und Politiker nun damit um? Es werden immer mehr Versuche unternommen, bestimmte Risiken zu eliminieren, und diese Maßnahmen haben einen immens hohen Preis. Neben den monetären Kosten bleibt vor allem eine am Gemeinwohl orientierte Ethik auf der Strecke, wie Bauman treffend anmerkt. Im Namen der Sicherheit werden bestimmte „Risikogruppen“ pauschal entmenschlicht und ausgegrenzt:

What casts security and ethics in principled opposition to each other (an opposition excruciatingly difficult to overcome and reconcile) is the contrast between divisiveness and communion: the drive to separate and exclude which is endemic to the first versus the inclusive, unifying tendency constitutive of the second. Security generates an interest in spotting risks and sorting them out for elimination, and for that reason it targets potential sources of danger as objects of ‘pre-emptive’ exterminating action, unilaterally undertaken. The targets of this action are by the same token excluded from the universe of moral obligation. Targeted individuals and groups or categories of individual are denied human subjectivity and recast as objects pure and simple, located irrevocably at the receiving end of action.

Sicherheit und Ethik geraten in einen grundsätzlichen Gegensatz zu einander (der sich nur unter großen Anstrengungen überwinden und versöhnen lässt) durch den Kontrast zwischen Spaltung und Gemeinschaft: Der Drang zu trennen und auszuschließen, der in ersterer angelegt ist, gegen die einschließende, verbindende Tendenz, die die letztere konstituiert. Sicherheit führt zu einem Interesse daran, Risiken zu erkennen, sie zu kennzeichnen, um sie ausmerzen zu können, und aus diesem Grund nimmt sie potenzielle Gefahrenquellen als Objekte „präventiver“ Beseitigungsmaßnahmen ins Visier, die einseitig unternommen werden. Die Ziele diese Aktion sind im Gegenzug aus dem Universum moralischen Anspruchs ausgeschlossen. Den anvisierten Individuen und Gruppen oder Kategorien von Individuen wird es vorenthalten, ein menschliches Subjekt zu sein, sie werden schlicht und ergreifend zu Objekten reduziert, die unwiderruflich nur noch Betroffene dieser Maßnahmen sind.

Bauman erinnert daran, wie Juden und „Zigeuner“ im dritten Reich durch „sanitäre“ Maßnahmen beseitigt wurden. Von heutigen Sicherheitsdebatten unterscheidet sich der Rassenwahn von damals sehr wohl durch andere Auswahlkriterien, nicht aber darin, dass das subjektive Bedürfnis nach Sicherheit keine Grenzen kennt und die Angst zunimmt, je mehr man sich in Kokons abschottet und in „gated communities“ einmauert. Es sind weiterhin „die Fremden“ vor der eigenen Haustür, auf die man die Angst projiziert, deren eigentliche Ursachen oft hunderte oder tausende Kilometer entfernt liegen, wenn man ihnen überhaupt einen bestimmten Ort zuweisen kann. Und je länger man im Ghetto und der sehr exklusiven und noch oberflächlicheren Gemeinschaft derer zubringt, die genauso sind wie man selbst (und der man sich auch nur so lange aussetzt, wie man Lust darauf hat), desto mehr schwindet die Fähigkeit, mit Andersartigkeit überhaupt noch angstfrei klarzukommen:

The principal beneficiary is our fear: it thrives and exuberates as it feeds on our border-drawing and border-arming efforts.

Der hauptsächliche Nutznießer ist unsere Angst: sie blüht und gedeiht durch unsere Bemühungen, Grenzen zu ziehen und uns zu wappnen.

Existenzielle Angst und die Suche nach Sicherheit, der Hang zur Ausgrenzung und der Hass auf Fremde und Schwache sind zentrale Themen der biblischen Überlieferung und der christlichen Theologie. Um so interessanter ist es, wie Bauman die Lösungsstrategien der Gegenwart beschreibt und bewertet:

Über kurz oder lang führt der Sicherheitswahn zum Verlust jeglichen Vertrauens innerhalb einer Gesellschaft: Verdächtigungen, Abgrenzungen, Feindseligkeit, Aggression und das Verkümmern moralischer Hemmungen. Und diese Phänomene sind keineswegs nur das Problem rechtspopulistischer Rattenfänger. Der wahre Grund der Unsicherheit der Mittelschicht sind nicht die Armen, sondern die alles andere als unbegründete Angst vor dem plötzlichen und unwiderruflichen Absturz, dem Verlust sozialer Privilegien und dem Ausschluss aus einer immer unsolidarischeren Gemeinschaft. Dagegen bieten auch Familie und Partnerschaft kaum noch Schutz, sie sind selbst brüchig geworden unter der Dauerbelastung unsicherer Arbeitsverhältnisse und ausgebluteter Sozialsysteme: Die Profiteure dieser Entwicklung, die ständig reicher werdenden Milliardäre, werden als Helden verehrt und bewundert. Das Vermögen der reichsten 400 US-Amerikaner (und das ist durchaus repräsentativ für die Superreichen weltweit) hat sich in den letzten 10 Jahren verdoppelt, allein im vergangenen Jahr stieg es um über 300 Milliarden auf nun 2 Billionen, schrieb Forbes diese Woche.

Dass Baumans Analyse brandaktuell ist, zeigt ein kurzer Blick in die Tagespresse: Nils Minkmar weist aktuell in der FAZ auf eine Studie des Rheingold-Instituts hin, die zeigt, dass in der „Beschaulichkeit des Merkelschen Neobiedermeier“ eine neue Qualität des Hasses auf Randgruppen und der Ausgrenzung heranwächst:

In einer Aggressivität, die in den letzten 25 Jahren in Rheingold-Studien noch nicht beobachtet wurde, wird angeprangert, dass „das eigene Geld im Süden versickert“; dass Zuwanderer und soziale Randgruppen „Geld von Vater Staat geschenkt bekommen“. Im Fokus des Hasses sind Hartzer und Sozialschmarotzer, die Faulenzer im Süden, die üblichen Verdächtigen. In der Studie heißt es dazu: „Die Angst vor der eigenen Ohnmacht beschwört die Sehnsucht nach eigener Tatkraft und der verlorenen Gewissheit, Herr im eigenen Haus zu sein.“

Und er lastet diese Entwicklung der Politik und Wahltaktik der Kanzlerin direkt an, wenn er weiter folgert:

Das ist die Gefahr, welche die Kanzlerin heraufbeschwört, wenn sie den Eindruck erweckt, man könne nichts machen und müsse das ja auch gar nicht; welche auch die Medien befördern, wenn sie die Möglichkeit einer anderen Politik als von vorneherein chancenlos und daher irrelevant karikieren; und die jene Intellektuelle in Kauf nehmen, die erklären, man könne ebenso gut auch nicht zur Wahl gehen. Es gibt in diesem Land eine manifeste Gefahr von Rechts, die sich ermutigt fühlt, je mehr alle anderen das Vertrauen in die Politik verlieren. Zudem ist der Eindruck, dass die Wahl entschieden sei, oder irrelevant und bloße Therapie, völlig falsch. Fast meint man, jemand habe ein Interesse daran, eine Macht, die alle teilen, permanent klein zu reden. Es ist aber echte und große Macht.

Da kommt also noch einiges auf uns zu…

(Wer möchte: hier geht’s zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3 der Bauman-Reihe)

Share

Mächtig verunsichert?

Eine Studie über das Verhalten von Bürokraten hat unbeabsichtigt, aber wunderbar klar herausgearbeitet, schreibt Zygmunt Bauman in Collateral Damage: Social Inequalities in a Global Age, wie Macht in unseren gesellschaftlichen Zusammenhängen funktioniert. Die einzelnen Exponenten und Ämter seien stets darauf aus gewesen, die Spielräume der anderen möglichst strikt zu regulieren, während man sich selbst jeder Festlegung zu entziehen versuchte. Wenn „der andere“ erst einmal seiner Handlungsoptionen beraubt war, konnte man sein Verhalten ausrechnen und ihn umgekehrt mit unvorhersehbaren Manövern ständig unter Druck setzen.

Anders gesagt: Wer den anderen ständig im Ungewissen lassen kann, sitzt am längeren Hebel.

Im Industriezeitalter galt für Unternehmer wie Mitarbeiter insofern noch eine gewisse Chancengleichheit, als etwa Henry Ford seine Angestellten auch als potenzielle Kunden betrachtete. Entlassungen im großen Stil hätten also unmittelbare Folgen für den Absatz und Gewinn des Unternehmens gehabt. Mit dem Anbruch der flüssigen Moderne hat sich das geändert, und der massiv geschwächte Staat hat dem kaum etwas entgegenzusetzen (tatsächlich haben die Regierenden auch gar kein Interesse daran!).

Es gibt jetzt nur noch eine einseitige Abhängigkeit, die Bosse waren für die Arbeiter außer Reichweite und hatten plötzlich zahllose Optionen auf ihrer globalen Spielwiese, während die einzelnen immer weniger Alternativen dort hatten, wo sie lebten. Die Folgen waren schwerwiegend – alles wurde beweglich, auch die Arbeitsprozesse selbst wurden dereguliert, plötzlich mussten die Leute nicht nur arbeiten, sondern ihre Arbeit in einem vorsätzlich immer willkürlicheren System auch selbst organisieren und verantworten:

During that second revolution, the managers banished the pursuit of routine and invited the forces of spontaneity to occupy the now vacant supervisors’ rooms. They refused to manage; instead, they demanded from the residents, on the threat of eviction, self-management.

… the new managerial philosophy is that of comprehensive deregulation: dismembering the firm and fixed procedural patterns that modern bureaucracy sought to impose. It favours kaleidoscopes over maps, and pointillist time over the linear. It puts intuition, impulse and spurs of the moment over long-term planning and meticulous design.

Um eine Gesellschaft aus derart verunsicherten Individuen dazu zu bringen, gegen die Mächtigen nicht aufbegehren, sondern sich freiwillig zu unterwerfen, sind noch weitere Tricks nötig. Im nächsten Post geht es dann um die systemstabilisierende Funktion der Angst vor den Fremden.

Share

Goodbye Lenin und die flüssige Moderne

Das Thema „Macht und Ohnmacht“ beschäftigt mich schon seit einem guten Jahr und das Ganze wird irgendwann auch noch in geeigneter Form zu Buche schlagen. Aktuell liegenPlutocrats. The Rise of the New Global Super-Rich and the Fall of Everyone Else von Chrytia Freeland (das ist auch noch ein paar Posts wert…), Autorität von Richard Sennett und Zygmunt Baumans souverän, leidenschaftlich und aufrüttelnd geschriebenes Buch Collateral Damage: Social Inequalities in a Global Age auf meinem Schreibtisch.

Zu letzterem poste ich heute und in den nächsten Tagen ein paar Anmerkungen, weil ich die dort angesprochenen Schieflagen für die entscheidenden und weitgehend ungelösten Aufgaben jenseits aller Tagespolitik halte. Das erste Kapitel habe ich mich neulich schon thematisiert. Im zweiten nimmt Bauman, der Krieg und den Totalitarismus Hitlers und Stalins noch aus eigener Erfahrung kennt, Abschied von der mit einem Requiem auf den Kommunismus. Er ist ist ein Kind der „festen“ Moderne („solid modernity“), eines Projekts, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Welt aufzuräumen und Gefahren zu beseitigen, und so die Vergangenheit zu zerstören und die Zukunft zu regeln:

It had been tacitly assumed that contingency and randomness, a profusion of accidents and an overall unpredictability of events, were anomalies; they were either departures from well-established norms, or the effects of the human inability to entrench a ‘normality’ visualized, postulated and designed as a state of equilibrium and regularity. The task was to lift up and put back on the rails a world that had been derailed by an engine fault or driver’s error, or to relay the rails on a tougher and more resistant bed. … The purpose of change was to bring the world to a state in which no more change would be called for: the purpose of movement was to arrive at a steady state. The purpose of effort was the state of rest, the purpose of hard labour was leisure.

Mit dem Kapitalismus lieferte sich der Sozialismus (und später Kommunismus) im Industriezeitalter einen Wettstreit darüber, wie dieses Ziel am schnellsten und einfachsten zu erreichen sei. Im Zuge dieses Wettstreits machte der Staat taktische Zugeständnisse an die Arbeiterschaft. Der Sozialismus drohte zu einer sich selbst widerlegenden Prophezeiung zu werden. Lenins Kommunismus, in dem Berufsrevolutionäre einspringen, wo die Massen versagen, und den Umsturz gewaltsam erzwingen, bezeichnet Bauman als „Abkürzung“ eines stagnierenden historischen Prozesses – in seiner totalitären Praxis war er der Todesstoß für jegliche Art menschlicher Freiheit und zugleich die vielleicht konsequenteste Umsetzung der Ideen fester Moderne:

In a nutshell, communism, Lenin’s version of socialism, was an ideology and practice of shortcuts – whatever the cost. Pushed to an extreme never tried anywhere else, the modern promise of bliss guaranteed by a rationally designed and rationally run, orderly society was revealed to be a death sentence on human freedom.

… To sum up, the communist experiment put to an extreme and perhaps ultimate and conclusive test the viability of the modern ambition of complete control over the fate and living conditions of human beings – as well as revealing the awesomeness of the human cost of acting on that ambition.

Im Übergang von der festen zur flüssigen Moderne gelang es dem Kapitalismus, sich neu zu erfinden, der Kommunismus hingegen (ich bin nicht sicher, wie Bauman China hier einordnen würde, vermutlich aber nicht als kommunistisches Land) ging unter. Im Westen gab man den alten Traum von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit allmählich auf, es blieb nur „Freiheit“ übrig, die man im Sinne von „Deregulierung“ interpretierte: Die Freiheit des Kapitals und der Märkte, während aus Brüderlichkeit der grenzenlose Wettbewerb wurde und Gleichheit in der zunehmend hohlen Prämisse bestand, jeder könne es nach oben schaffen, wenn er nur entschlossen genug daran arbeitet:

… in the liquid stage of modernity capitalism opted out from that competition: its wager was put instead on the potential infinity of human desires, and its efforts have focused since on catering for their infinite growth: on desires desiring more desire, not their satisfaction; on the multiplying instead of the streamlining of opportunities and choices; on letting loose, not ‘structuring’, the play of probabilities.

Bauman trauert dem Kommunismus nicht nach, aber er gibt zu bedenken, dass es ein ausgewachsenes Monster war, das ihn schließlich besiegte, und seither dazu führte, dass ein Prozent der Weltbevölkerung 90% über des Reichtums verfügt und dass Goldman Sachs für seine 161 Aktionäre mehr Gewinn macht, als der Staat Tanzania mit 25 Millionen Bürgern an Einkünften erzielt:

Most of the offputting and revolting, immoral aspects of the human condition that made that programme so attractive in the eyes of millions of denizens of ‘solid modernity’ (such as a blatantly unjust distribution of wealth, widespread poverty, hunger, humiliation and denial of human dignity) are still as much with us, if not even more blatantly, as they were two hundred years ago; if anything, they keep growing in their volume, force, hideousness and loathsomeness.

Die meisten der abstoßenden und widerlichen, unmoralischen Aspekte des Menschseins, die dieses Programm in den Augen so vieler Bürger der „festen Moderne“ so attraktiv gemacht hatten (etwa die krass ungerechte Verteilung von Reichtum, die weit verbreitete Armut, Hunger, Demütigung und die Missachtung der Menschenwürde) sind im Vergleich zu vor zweihundert Jahren immer noch vorhanden, wenn nicht gar verschärft; sie nehmen an Umfang, Einfluss, Bösartigkeit und Widerlichkeit eher noch zu.

In der neuen Situation der flüssigen Moderne sind aber viele staatliche und gesellschaftliche Institutionen überfordert, unter anderem auch die Nationalstaaten. Auch deshalb haben viele Menschen das frustrierende Gefühl, diesen Entwicklungen hilflos ausgeliefert zu sein. Kirchen und Glaubensgemeinschaften (zumal die katholische Kirche als echte globale Größe und unter dem neuen Papst) könnten bei dieser nächsten großen Aufgabe, die uns gestellt ist, eine wichtige Rolle spielen und dazu beitragen, die nötigen universalen Strukturen zu schaffen für die Bändigung des globalen Kapitalismus, umfassende Integration und die Überwindung von Armut und Ungleichheit.

Share

Angst essen Freiheit auf…

Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, muss sich um die Zukunft der Demokratie ernsthaft Sorgen machen. Spätestens seit ihr das Attribut „marktkonform“ verschrieben wurde, ist unübersehbar, dass sich die Macht vom Volk zu den Märkten verlagert und damit hin zu denjenigen, die sie über Geld und Institutionen beeinflussen können. Zugleich wird das immer ohnmächtige Volk von einer Sicherheitsdebatte in Atem gehalten, die die eigentlichen Ursachen der Angst und Verunsicherung verdunkelt.

Zygmunt Bauman ist sicher einer der renommiertesten Sozialwissenschaftler. In seinem neuen Buch Collateral Damage erinnert er daran, dass die Wiege der Demokratie im antiken Griechenland um die Agora kreiste, auf der Privates und Öffentliches vermittelt wurde. Die Geschichte der Demokratie seither kann man, so Bauman, als den Versuch begreifen, die in größeren Staaten nicht mehr allen physisch zugängliche Agora in neuen Formen wiederzubeleben, um den Bürgern die Partizipation am politischen Prozess zu ermöglichen:

What was essentially expected or hoped to be achieved in the agora was the reforging of private concerns and desires into public issues; and, conversely, the reforging of issues of public concern into individual rights and duties.

Rede- und Meinungsfreiheit werden heute als Gradmesser einer demokratischen Gesellschaft herangezogen. Der Soziologe Albert O. Hirschmann schlug vor, für Bürger und Verbraucher dieselben Kriterien zu verwenden, da er davon ausging, dass ökonomische Freiheit und Demokratie einander fördern und bedingen, eine wirtschaftliche Liberalisierung also über kurz oder lang auch die Freiheitsrechte der Bürger stärkt. Die These darf man heute als widerlegt ansehen, viele Wirtschaftswunder spielen sich in autoritären Staaten ab. Und auch in de demokratischen Gesellschaften tut sich eine Kluft aus zwischen den theoretisch gleichen Rechten der Bürger und deren Fähigkeit, sie tatsächlich wahrzunehmen.

Die Väter das Sozialstaates im 20. Jahrhundert hatten es sich zum Ziel gesetzt, diese Kluft zu überwinden. Sie waren darin keineswegs Sozialisten, sondern echte „Liberale“ im damaligen Sinn, denen es darum ging, möglichst vielen Menschen eine gesunde und gute Lebensperspektive zu ermöglichen, in der das liberale Ideal der Wahlfreiheit nicht nur Theorie bleibt:

Lord Beveridge, to whom we owe the blueprint for the postwar British ‘welfare state’, later to be emulated by quite a few European countries, was a Liberal, not a socialist. He believed that his vision of comprehensive, collectively endorsed insurance for everyone was the inevitable consequence and the indispensable complement of the liberal idea of individual freedom, as well as a necessary condition of liberal democracy.

Die Gemeinschaft muss dem einzelnen eine Grundsicherheit gegen Absturz und Ausschluss bieten, damit eine Bürgergesellschaft überhaupt funktionieren kann. Für Bauman ist der Sozialstaat die moderne Verkörperung der Idee menschlicher Gemeinschaft, in der wirtschaftliche, politische und soziale Rechte im Gleichgewicht sind:

…democratic rights, and the freedoms that accompany such rights, are granted in theory but unattainable in practice, the pain of hopelessness will surely be topped by the humiliation of haplessness; … Without social rights for all, a large and in all probability growing number of people will find their political rights of little use and unworthy of their attention.

T.H. Marshall konnte vor 60 Jahren noch postulieren, es gebe ein allgemeines Gesetz, nach dem sich aus Eigentumsrechten politische Rechte und daraus wiederum soziale Rechte entwickeln. Der Markt stärkt die Agora, und die wird immer inklusiver, bestehende Ungleichheiten werden zunehmend überwunden. Dagegen vertrat John Kenneth Galbraith die These, die zufriedene und gesättigte Mehrheit verliere das Interesse am Wohlfahrtsstaat, der zunehmend als störende Einengung statt als beruhigende Absturzsicherung empfunden werde. Und so kam es dann auch:

The introduction of the social state used indeed to be a matter ‘beyond left and right’; now, however, the turn has come for the limitation and gradual dismembering of welfare state provisions to be made into an issue ‘beyond left and right’.

Die Privatisierung führte zu einem immer stärkeren Abbau des Sozialstaates (Bauman versteht den Begriff nicht so sehr im Sinne einer abstrakten Umverteilung sondern einer gemeinschaftsdienlichen Zuwendung und Fürsorge) und damit zu einer Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – in bedrohlichem Ausmaß:

‘Privatization’ shifts the daunting task of fighting back against and (hopefully) resolving socially produced problems onto the shoulders of individual men and women, who are in most cases not nearly resourceful enough for the purpose; whereas the ‘social state’ tends to unite its members in an attempt to protect all and any one of them from the ruthless and morally devastating competitive ‘war of all against all’.

Die „Ordnung der Gleichheit“ – und mit ihr das Zutrauen und die Solidarität – nimmt ab, die „Ordnung des Egoismus“ kehrt zurück – und mit ihr das Misstrauen. Der Sozialstaat hatte Menschen vor einem dreifachen Fluch geschützt: dem Verstummen, der Exklusion und der Demütigung.

And it is the same principle that makes the political body democratic: it lifts members of society to the status of citizens, that is, it makes them stakeholders, in addition to being stockholders of the polity; beneficiaries, but also actors responsible for the creation and decent allocation of benefits.

Diese Demontage der Solidarität führt zu einem wachsenden Desinteresse an gesellschaftlichen und politischen Themen. Die Autonomie des einzelnen bedeutet, dass er nun auch Probleme zu lösen hat, die eigentlich den privaten Bereich weit übersteigen. Wahrgenommen wird das als eine verschärfte Konkurrenz der Individuen innerhalb einer Gesellschaft, die zu immer größeren Polarisierungen führt und große existenzielle Unsicherheit verbreitet:

Not much prompts people, therefore, to visit the agora – and even less prods them to engage in its works. Left increasingly to their own resources and acumen, individuals are expected to devise individual solutions to socially generated problems, and to do it individually, using their individual skills and individually possessed assets.

… To a steadily growing extent, the task of gaining existential security – obtaining and retaining a legitimate and dignified place in human society and avoiding the menace of exclusion – is now left to the skills and resources of each individual on his or her own;

Die Stars und Superreichen spielen dabei eine groteske Rolle: Sie werden zu Idolen, deren unerreichbaren Lebensstil man nachzuahmen versucht in der absurden und illusorischen Annahme, im Grunde könne es doch jedem gelingen, reich und berühmt zu werden. Die Illustrierten und Promi-Magazine sind das neue Opium des Volkes.

Die allgegenwärtige, nebulöse und unterschwellige Angst vor dem Scheitern und den Risiken des Lebens in dieser Gesellschaft spielt dabei den Politikern wie den Konzernen in die Hände. Produkte werden als identitätsstiftende Symbole vermarktet, die der Vergewisserung von Identität und Teilhabe dienen. Und die Regierenden führen öffentlichkeitswirksame Schaukämpfe an allen möglichen Fronten, um sich dem verunsicherten Wahlvolk als Retter anzubieten, wie Bauman scharfsichtig anmerkt:

… they are interested in expanding not reducing the volume of fears; and particularly in expanding fears of the kinds of dangers which TV can show them to be gallantly resisting, fighting back against and protecting the nation from. … However successful the state might be in resisting the advertised threats, the genuine sources of anxiety, of that ambient and haunting uncertainty and social insecurity, those prime causes of fear endemic to the modern capitalist way of life, will remain intact.

Ob Einwanderer oder Terroristen, Sozialschmarotzer oder Schuldenländer, die allzu gern beschworenen Risiken unterscheiden sich nur recht bedingt, während die wahren Ursachen der Verunsicherung weitgehend ungenannt und praktisch völlig unangetastet bleiben. Verletzungen und Bürger- und Menschenrechten werden dabei klaglos hingenommen, in der ebenso illusorischen Annahme, es treffe nur „die anderen“.

We, the ‘democratic majority’, console ourselves that all those violations of human rights are aimed at ‘them’, not ‘us’ – at different kinds of humans (‘between you and me, are they indeed human?!’) and that those outrages will not affect us, the decent people.

Das ganze liest sich wie ein prophetischer Kommentar zu den Ereignissen der letzten Monate – „Supergrundrechte“ etwa. Baumans Fazit zu den Mechanismen gegenwärtiger Politik fällt entsprechend düster aus (und diesmal hänge ich die Übersetzung an):

In an insecure world, security is the name of the game. Security is the main purpose of the game and its paramount stake. It is a value that in practice, if not in theory, dwarfs and elbows out of view and attention all other values – including the values dear to ‘us’ while suspected to be hated by ‘them’, and for that reason declared the prime cause of their wish to harm us as well as of our duty to defeat and punish them. In a world as insecure as ours, personal freedom of word and action, the right to privacy, access to the truth – all those things we used to associate with democracy and in whose name we still go to war – need to be trimmed or suspended.

In einer unsicheren Welt heißt das Spiel: Sicherheit. Sicherheit ist der Hauptzweck des Spiels und der vorrangige Einsatz. Ein Wert, der in der Praxis, wenn nicht auch in der Theorie, alle anderen Werte in den Schatten stellt und verdrängt – einschließlich derer, die ‚uns‘ teuer sind und von denen wir glauben, sie seien ‚ihnen‘ verhasst. und aus diesem Grund wurden sie zum Hauptgrund erhoben, warum sie uns schaden wollen und warum es unsere Pflicht ist, die zu besiegen und zu bestrafen. In einer Welt, die so unsicher ist wie unsere, müssen persönliche Freiheit in Wort und Tat, Zugang zur Wahrheit – all die Dinge, die wir immer mit Demokratie verbunden haben und in deren Namen wir immer noch in den Krieg ziehen – beschnitten oder außer Kraft gesetzt werden.

Share

„Es wird regiert“

Dieser Satz ist ein berühmtes Zitat des großen Karl Barth aus der Zeit des kalten Krieges und eigentlich ein Ausdruck christlicher Hoffnung. Ich habe mich in einem ganz anderen Zusammenhang wieder daran erinnert, als ich nämlich letzte Woche durch einen Tipp vom Simon de Vries diese Analyse von Carolin Emcke fand, in der die Sprache von Angela Merkel scharfsinnig beleuchtet wird. Viele Beobachtungen, die ich bei Merkels Rede neulich hier in Erlangen machte, habe ich dort wiederentdeckt, nun aber an einer repräsentativen Auswahl von Merkeltexten verifiziert.

Ein Punkt, vielleicht der Wesentlichste, ist dabei das Verschwinden von Subjekt und Verantwortung, beziehungsweise dessen sprachliche Verschleierung. Emcke schreibt:

Nicht sie, die Bundeskanzlerin, ist es, die im Verbund mit Troika und den europäischen Regierungschefs Griechenland bestimmte fiskalische Vorgaben diktiert, sondern es ist der „Prozess aufeinanderfolgender Maßnahmen“. Diese gleichsam aus dem Nichts entstandenen Maßnahmen sind subjektlos und „alternativlos“. Politik ist in dieser Logik nur Exekution von Notwendigkeiten. Es ist bemerkenswert, wie oft eine Kanzlerin, die regelmäßig an „Freiheit in Verantwortung“ appelliert, Entscheidungen beschreibt, als ob sie weder Freiheit noch Verantwortung implizierten.

Es wird also regiert in Deutschland, und diesmal ist es kein Grund, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, denn gerade das, was Barth meinte, als er diesen Satz prägte, dass die Zukunft offen ist, weil Gott sie offen hält, und dass man sich aus den Denk- und Sachzwängen lösen kann, genau das verschwindet hier aus dem Blickfeld. Während sich also bei Barth das „es“ auf Gott und seine Möglichkeiten bezeigt, steht das „es“ bei Merkel für die unpersönlichen Notwendigkeiten ihres Pragmatismus.

Zygmunt Bauman merkt in seinem neuen Buch Collateral Damage: Social Inequalities in a Global Age kritisch an, dass viele Mächtige die negativen Folgen ihrer Entscheidungen für andere, vor allem Arme, damit herunterspielen, dass beim Hobeln eben Späne fallen – und dabei verschweigen, dass sie und niemand anders darüber entscheiden, zu wessen Lasten die vermeintlich not-wendigen „Maßnahmen“ konkret gehen.

Ebenso brisant, und kürzlich ebenfalls in Erlangen zu hören, ist das Merkel’sche Narrativ des 21. Jahrhunderts. Emcke fasst treffend zusammen, mit welchen dunklen Folien hier gearbeitet wird. Milliarden von Indern und Chinesen etwa wollen dem kleinen Deutschland seinen hart erarbeiteten Wohlstand streitig machen:

Die Schrecken der Globalisierung erzeugen das apokalyptische Narrativ, mit dem Angela Merkel erst Angst schürt, um sich sogleich als nüchterne, notwendige Rettung anzubieten. Der rhetorische Gestus der Kanzlerin, dieses Undramatische, kommt erst dann zur Geltung, wenn die historische Entwicklung besonders dramatisch gerät. Je uferloser und unkontrollierter die Kräfte der Globalisierung walten, je dynamischer und jünger Chinesen und Inder sind, je zügelloser die „Südeuropäer“ Regeln missachten, so die Logik des düsteren Narrativs, umso beruhigender, umso vertrauenserweckender die deeskalierende Erzählung der Kanzlerin.

Wenn wir also derart gehetzt werden, dann ist ja auch keine Zeit mehr für ausführliche Diskussionen (die heißen dann gern „akademisch“ oder „philosophisch“) über gerechte Teilhabe im Innern, über Bürgerrechte, Macht und Verantwortung, denn es müssen sich alle reinhängen und die Galeere aus der Sturmzone rudern. Und was könnte in einem solchen Inferno für unsere geplagten Gemüter tröstlicher sein als die Gewissheit, dass regiert wird…?

Share

Warum wir am 3. Oktober Grund zur Trauer haben

Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus verschwanden nicht nur eine Reihe diktatorischer Systeme von der Weltkarte, sondern nach und nach auch die soziale Marktwirtschaft mit ihrer breiten Mittelschicht, deren Wohlstand seit dem Zweiten Weltkrieg auch dadurch gewachsen war, dass der Staat Spitzenverdiener stark besteuerte. Margaret Thatcher und Ronald Reagan hatten schon eine Weile an der Aushöhlung dieses Systems gearbeitet, aber mit dem endgültigen Ende der Bedrohung durch eine sozialistische Revolution fiel auch der letzte Grund für die Plutokraten weg, an diesem gesellschaftlichen Kompromiss festzuhalten.

Wer also das Jahr 1989 als das Jahr der Befreiung feiert, sollte immer auch daran denken, dass dies zugleich die Geburtsstunde der wachsenden Kluft zwischen den Superreichen und dem Rest der Gesellschaft war, die dem globalen Club der Milliardäre massiven Auftrieb bescherte, und zwar nicht nur durch die russischen Oligarchen, sondern auch die kaum noch ernsthaft besteuerten Topverdiener im Westen.

Chrystia Freeland zeigt in Plutocrats. The Rise of the New Global Super-Rich and the Fall of Everyone Else, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland, Schweden oder Neuseeland in den letzten beiden Jahrzehnten schneller wuchs als in den USA. Dort wanderten drei Viertel des Ertrags vom Wirtschaftswachstum der Jahre 2002 bis 2006 in die Taschen des einen Prozents der Spitzenverdiener. Noch schärfer fiel der Kontrast nach der letzten Finanzkrise aus: Die wirtschaftliche Erholung der Jahre 2009 und 2010 kam zu 93% dem einen Prozent der Reichsten zu Gute, erschütternde 37% entfielen auf die 0,1% der Superreichen. Freeland spricht von der „neuen virtuellen Nation des Mammon“, die schwarz-gelbe Regierungskoalition bevorzugt in der Regel den Terminus „Leistungsträger“, bezeichnenderweise wird die CDU auch von Großspendern bevorzugt.

Der prominente Historiker Hans-Ulrich Wehler nennt derweil auf SPON folgende Zahlen:

Bis etwa 1989 zahlten die 30 Dax-Unternehmen den Vorständen 500.000 D-Mark Jahresgehalt. Im Vergleich zum Einkommen ihrer Arbeitnehmer war das ein Verhältnis von 20 zu 1. 2010 beträgt dieses Einkommen sechs Millionen Euro. Und das Verhältnis zum Einkommen der Arbeitnehmer beträgt, man mag es kaum glauben, 200 zu 1.

Wäre es nicht viel ehrlicher, wenn wir am 3. Oktober nicht nur den Sieg der Demokratie feierten, sondern auch deren Bedrohung durch die Plutokratie betrauerten und ernsthaft über Wege zu einer gerechteren Welt diskutierten? Die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Ost und West sind ja doch vergleichsweise gering im Vergleich zu der gigantischen Kluft, die sich hier auftut. So lange die erwirtschafteten Zuwächse überwiegend an der Spitze der Einkommenspyramide verteilt werden, fehlen dem Staat ja auch die Spielräume, um andere Lücken zu schließen.

Freeland zitiert aus einem Roman von Scott Turow: „Jeder, der noch dabei war, sich dafür auf die Schulter zu klopfen, dass die Roten in die Tonne gewandert sind, wird sich fragen, wer da eigentlich gewonnen hat, wenn Coca-Cola sich um einen Sitz bei den Vereinten Nationen bewirbt.“

P.S.: Wer gleich aktiv aktiv werden möchte: Hier klicken.

Share

Mehr Dekonstruktion, bitte!

Diese Woche lieferte wieder einmal großartigen Anschauungsunterricht: Silvio Berlusconi wurde in letzter Instanz verurteilt und versucht nun, die Folgen des Schuldspruchs dadurch zu begrenzen, dass er sich – wieder mal – als Opfer der bösen roten Justiz auspielt. Sein Medienimperium und die politischen Kräfte, die auf sein Wohlwollen angewiesen sind, spielen das Schmierentheater mit. Alle anderen hoffen, dass seine Strategie nicht aufgeht, aber sicher sein kann man sich da nicht.

Jacques Derridas Begriff der Dekonstruktion hat zusammen mit seinem berühmten Satz, dass es nichts außerhalb des Textes gebe, unter anderem auch den in seine „objektiven“ Gewissheiten verliebten modernistischen Flügel der Christenheit dadurch erschreckt, dass er darauf hinweist, dass wir gar nicht anders können, als Erfahrungen, Ereignisse und Gegenstände immer schon zu interpretieren, meist so unbewusst, weshalb wir unsere Interpretation dann auch oft für selbstverständlich und objektiv halten. Dass Berlusconi tatsächlich glaubt, was er sagt, lässt sich nicht völlig ausschließen. Gerade bei Machtmenschen ist das häufig anzutreffen, dass sie keine anderen Interpretationen der Wirklichkeit als die eigene gelten lassen, ja für möglich halten.

Statt in den oft befürchteten grenzenlosen Relativismus zu führen, hat richtig verstandene Dekonstruktion etwas Befreiendes, schreibt James K.A. Smith in Who’s Afraid of Postmodernism?: Taking Derrida, Lyotard, and Foucault to Church:

Wenn die Dekonstruktion anerkennt, dass alles Interpretation ist, eröffnet das einen Raum, wo man Fragen stellen kann – einen Raum, in dem die herkömmlichen und vorherrschenden Interpretationen hinterfragt werden, die oft den Anspruch erheben, gar keine Interpretationen zu sein. Dekonstruktion also solche interessiert sich für Interpretationen, die marginalisiert und ausgegrenzt wurden, und sie aktiviert Stimmen, die verstummt waren. Das ist der konstruktive, ja prophetische Aspekt von Derridas Dekonstruktion. (S. 51)

Dass das Evangelium „nur“ eine Interpretation der Ereignisse um Jesus von Nazareth ist, neben der es schon immer auch andere gab, wussten Christen schon immer. Es ist die Kehrseite der Aussage, dass alles Glauben und Verstehen Gnade ist. Dass es eine unauflösliche Vielfalt an Interpretationen gibt, bedeutet auch nicht, dass alle gleich wahr wären – auch das wird Derrida ja gelegentlich unterstellt – oder dass die Frage nach der Wahrheit sinnlos wäre. Wo man aber die eigene Interpretation für die „objektive Wirklichkeit“ hält, wird es selbst in einer pluralistischen Gesellschaft ganz schnell übergriffig.

Renold Blank hat den Sachverhalt griffig dargestellt (vgl. die Grafik unten): Je nach Prätext (der konkreten, situativ bedingen Absicht einer Aussage) und Kontext (dem Zusammenhang, aus dem heraus ein Text zu verstehen ist) können sich ganz unterschiedliche Interpretationen ergeben. Bei Berlusconi etwa ist der Prätext die Sicherung von Macht und Einfluss, der Kontext ist Korruption sowie das tiefe Misstrauen und die Skepsis seiner Landsleute gegenüber der politischen Klasse und dem Staat.

201308031647.jpg

Der Cavaliere mit dem gefärbten Haar möchte seiner frisierten Wirklichkeit nun durch Proteste auf den Straßen Geltung verschaffen. Dass sich hier ausgerechnet ein Milliardär eine Art Robin-Hood-Image verpasst und dem angeblich gierigen Staat im Namen der Freiheit trotzt, indem er Steuern hinterzieht und Richter besticht, zeigt schon, wie sehr der jeweilige Kontext die Interpretation des Textes (hier: des Gerichtsurteils) bestimmt. So wie der römische Kaiser (und heute der US-Präsident) sich zum Friedensbringer stilisieren ließ, während er zugleich einen gewaltigen Militärapparat befehligte.

Auch Blank weist auf den prophetischen Aspekt authentischer Offenbarung hin. Dabei geht prophetische Kritik immer zuerst nach innen und erst dann nach außen; das Evangelium dekonstruiert also auch die kirchlichen Verhältnisse (und die damit verbundenen Absolutheitsansprüche einzelner Theologien und Richtungen), um in die Gesellschaft hineinzuwirken. Solche Stimmen täten momentan nicht nur in Italien gut.

Smith schreibt über eine „dekonstruktive“ Kirche:

… sie hat einen Sinn fürs Traditionelle, nichtsdestoweniger zeichnet sie sich durch eine Vielfalt aus und ein globales Interesse, das den Status Quo über den Haufen wirft. Die dekonstruktive Kirche hält an der Tradition fest, aber nicht am Traditionalismus des Status Quo. Sie ist eine Gemeinschaft der Interpretation, die unterdrückte Lesarten schätzt – großteils auch deshalb, weil das Evangelium selbst eine Interpretation des Menschseins ist, die von der säkularen Moderne ins Abseits gedrängt wurde. (S. 57f.)

Share

Böser Pluralismus?

In der Geschichte vom Turmbau zu Babel zeigt sich, wie Gott auf totalitäre Tendenzen imperialer Massenkultur reagiert, indem er eine Vielzahl von Sprachen und Kulturen entstehen lässt. Menschen wollen sich zu übermenschlicher Größe aufschwingen und drohen darüber zu Unmenschen zu werden.

Gott antwortet auf diese Gefährdung der Menschlichkeit, indem er eine unauflösliche Vielfalt schafft. Dass diese Vielfalt gottgewollt ist und kein Produkt bloßer Verlegenheit, zeigt schon die Tatsache, dass der Erzählung vom Turmbau die „Völkertafel“ vorgeschaltet ist, die diese Vielfalt für die damals bekannte Welt beschreibt und erläutert und die unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Länder und Völker in einen Verwandtschaftszusammenhang stellt.

Die gern gebrauchte Differenzierung Pluralität (= gut) und Pluralismus (= schlecht, weil „-ismus“) geht hier also nicht so richtig auf, denn Gott scheint die Vielstimmigkeit und Fragmentierung offenbar nicht einfach nur hinzunehmen, er wollte es tatsächlich so. Gott ist so gesehen ein bewusster Pluralist und widersetzt sich allen Tendenzen zur Uniformierung, Assimilierung und Homogenisierung menschlicher Gesellschaften.

Wenn das stimmt, warum haben eigentlich so viele Leute Angst vor dem Pluralismus, der ja in unserer heutigen Situation als eine Reaktion auf die totalitären Systeme und Ideologien des 20. Jahrhunderts entstand, also wieder der Begrenzung menschlichen Gewaltpotenzials dient? Dass er gewisse Schwierigkeiten mit sich bringt und unsere komplexe Welt noch unübersichtlicher macht, liegt ja auf der Hand. Dass er möglicherweise weit größere Schwierigkeiten abwendet, daran erinnert uns Genesis 11.

Share

Das „Tier“ ist zurück

Ist es nicht verrückt: Es gibt einen ganzen Flügel der Christenheit, der sich darauf spezialisiert hat, in allen möglichen und unmöglichen Situationen den Antichristen, das Tier aus der Offenbarung, den nächsten totalitären Herrscher aufzuspüren und davor zu warnen. Auf der Liste der Verdächtigen stehen ganz oben die EU, der Weltkirchenrat, Feministinnen (heute: „Gender Mainstream“). Ach ja, den Islam hätte ich fast vergessen.

Nun erfahren wir seit ein paar Tagen scheibchenweise (schöner Überblick und gute Diskussion z.B. gestern bei Beckmann), mit welcher Gründlichkeit und Dreistigkeit wir alle bespitzelt werden, wie gegen uns alle Material gesammelt wird, aus dem sich mit nur mäßiger krimineller Energie die wildesten Dinge konstruieren lassen. Und wie Kanzlerin und Innenminister die ganze Sache in immer neuen Verharmlosungen und Beschwichtigungen und mit abstrusem Geschwurbel über das „Supergrundrecht“ auf Sicherheit (deutsch: totale Überwachung und Kontrolle) die um ihre Grundrechte betrogenen Bürger für dumm verkaufen.

Ich habe dazu heute „Das christliche Nachrichtenportal“ nach Meldungen durchsucht und bekam zur Antwort: „Ihre Suche nach: snowden ergab 0 Treffer.“

Kann das sein – all die selbsternannten Wachhunde Gottes halten, wenn’s drauf ankommt, brav die Schnauze oder bellen am falschen Baum?

(Nachtrag: „Pixelpastor“ Jörg Dechert schrieb für „Idea Spektum“ diesen Kommentar, Jörg gehört freilich auch sonst nicht zur „Jagt-den-Antichrist“-Fraktion)

Share

Selber Schuld…?

Dass in der Theologie auch hin und wieder Probleme unzulässigerweise individualisiert und privatisiert wurden, habe ich hier schon einmal kritisiert. Freilich geschieht genau das in unserer Gesellschaft fortwährend, und wir haben uns schon so daran gewöhnt, dass es niemanden mehr richtig aufzuregen scheint:

  • Globale Finanzkonzerne verursachen einen Crash, für den dann viele einzelne Privatpersonen zur Kasse gebeten werden: wir Staatsbürger und Steuerzahler.
  • Multinationale Firmen flüchten in Billiglohnländer und Steueroasen, bauen massiv Stellen ab, und die entlassenen Arbeitskräfte bekommen zu hören, sie müssten flexibler werden (Codewort für: finanzielle Einbußen und weniger Rechte, also Lohnkürzungen und Sozialabbau), wenn sie jemals wieder einen Job finden wollen.
  • Immer mehr dieser Lasten drücken zersetzend auf einzelne und Familien, aber wenn eine Ehe scheitert, erleben es alle Beteiligten ausschließlich als ihr ganz privates Versagen, und es wird auch nur auf dieser Ebene reflektiert.

Als wäre das alles noch nicht genug, hat in diesen Tagen ein Matthias Zahn vom SWR in einem Rundfunkkommentar behauptet, der belauschte und bespitzelte Bürger könne doch von Sicherheitsdiensten unserer demokratischen Rechtsstaaten nichts anderes erwarten, als illegal ausspioniert zu werden. Man könne mithin auch nicht von der Bundesregierung erwarten, dass sie dem Einhalt gebiete. Nein, schützen müsse sich schon jeder selbst.

Aber was ist das für ein Staat, der das Recht und seine Bürger nicht mehr schützen kann und will? Und wo hört das auf, eine legitime Erwartung zu sein, dass man geschützt wird? Wen schützt der Staat, wenn er uns nicht mehr schützt? Seine Institutionen und Dienste? Die Hinterteile seiner Amtsträger und Funktionäre, beziehungsweise deren Chancen auf Wiederwahl?

Die Kanzlerin beschwichtigt, ohne irgendetwas zu sagen. Der Innenminister fliegt durch die Weltgeschichte und macht große Augen. Vielleicht war es ja auch nur Resignation, die aus Zahns Kommentar sprach, weil da tatsächlich kein Interesse erkennbar ist, Abhilfe und damit Recht zu schaffen.

Heute nachmittag nun schloss sich Innenminister Friedrich der Position von Zahn an: Datenschutz ist Sache des einzelnen Bürgers. Vielleicht ist der fehlende Gemeinsinn auch in den höchsten Staatsämtern schon üblich, diese Tugend ist bei uns im Vergleich zu anderen Ländern laut Bertelsmann-Stiftung eher unterentwickelt.

Vom „jeder muss selber sehen, wie er klarkommt“ zum „jeder ist sich selbst der Nächste“ ist es nur ein winziger Schritt. All das erinnert an einen Satz von Theodor Adorno aus „Minima Moralia„:

Das Private ist vollends ins Privative übergegangen, das es insgeheim von je war, und ins sture Festhalten am je eigenen Interesse hat sich die Wut eingemischt, daß man es eigentlich ja doch nicht mehr wahrzunehmen vermag, daß es anders und besser möglich wäre.

Share

(K)ein kleiner Unterschied

Als ich neulich diesen Post über das Missionsverständnis schrieb und dort andeutete, dass aus einer Reich-Gottes-Perspektive Andersdenkende und -glaubende nicht unbedingt als Gegner und Konkurrenten, sondern auch als potenzielle Partner in den Blick kommen könnten, fragte ein Kommentator sofort nach einer Abgrenzung im Blick auf den Islam.

Dieser Abgrenzungsreflex, genauer gesagt: die Selbstdefinition über die ausschließende Differenz, verstört viele suchende Menschen zutiefst. Das habe ich erst neulich wieder am Rande einer Hochzeitsfeier geschildert bekommen: Das wirkt auf sie in der Regel stur und streitsüchtig. Man muss ja nicht in allzu naive Gleichmacherei verfallen, aber wenn es ganz grundsätzlich gelänge, bei den Gemeinsamkeiten zu beginnen statt bei dem, was trennt, erschiene vielleicht auch alles andere in einem versöhnlicheren Licht. Statt auszuschließen, sagt Miroslav Volf in Von der Ausgrenzung zur Umarmung treffend, können und müssen wir differenzieren: Nicht trennen, sondern unterscheiden und verbinden.

Auf den Unterschieden lässt sich leicht herumreiten. Weniger Kraft wird häufig darauf verwandt, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Und da, wo es geschieht, sieht man sich leider schnell dem Vorwurf des Verrats an der gemeinsamen Sache ausgesetzt. Die eigene Identität über die ausschließende Differenz zu konstruieren ist allerdings in einer globalisierten Welt und einer pluralen Gesellschaft eine Entscheidung mit potenziell katastrophalen Folgen. Das Bedürfnis danach wächst unglücklicherweise in eben dem Maß, als der in meiner Selbstdefinition ausgeschlossene Andere nicht mehr tausende Kilometer weit weg ist, sondern mir unmittelbar gegenübersteht.

Gerade als Lutheraner, finde ich, müsste man doch eigentlich ein großes Herz für Muslime, insbesondere für Türken haben: Die Historiker sind sich weitgehend einig in der Einschätzung, dass Luther und die Reformation kaum überlebt hätten, wenn die Türken Karl V. nicht so zugesetzt hätten, dass er gegen diese sächsische „Ketzerei“ nicht mit all jenen Mitteln vorgehen konnte, die ihm unter normalen Umständen zur Verfügung gestanden hätten. Der Islam gehörte also damals schon „zu Europa“.

Wagen wir doch die einschließende Differenz: Wir sind freilich unterschiedlich, und diese Unterschiede sind nicht immer leicht auszuhalten, aber es verbindet uns mehr als uns trennt: Unser Menschsein und die vielen damit verbundenen Erfahrungen, so manche Überzeugungen über Gott und die Welt, unsere Ängste, Wünsche und Sehnsüchte. Wenn wir miteinander über die Unterschiede reden, dann auf Augenhöhe. Ich muss weder alles gut finden, um den anderen annehmen zu können, noch muss ich alles abwerten, was ihn ausmacht, nur weil er nicht zu meinem Haufen gehört.

Wer über Grenzen (oder besser: Unterschiede) reden möchte, muss das Gemeinsame benennen und die Verbindung halten können. Wo das ausbleibt, ist kein fruchtbares Gespräch zu erwarten. Anders gesagt: Von einer bestimmten Praxis der Abgrenzung muss man sich ganz deutlich … unterscheiden.

Share