Goodbye Lenin und die flüssige Moderne

Das Thema „Macht und Ohnmacht“ beschäftigt mich schon seit einem guten Jahr und das Ganze wird irgendwann auch noch in geeigneter Form zu Buche schlagen. Aktuell liegenPlutocrats. The Rise of the New Global Super-Rich and the Fall of Everyone Else von Chrytia Freeland (das ist auch noch ein paar Posts wert…), Autorität von Richard Sennett und Zygmunt Baumans souverän, leidenschaftlich und aufrüttelnd geschriebenes Buch Collateral Damage: Social Inequalities in a Global Age auf meinem Schreibtisch.

Zu letzterem poste ich heute und in den nächsten Tagen ein paar Anmerkungen, weil ich die dort angesprochenen Schieflagen für die entscheidenden und weitgehend ungelösten Aufgaben jenseits aller Tagespolitik halte. Das erste Kapitel habe ich mich neulich schon thematisiert. Im zweiten nimmt Bauman, der Krieg und den Totalitarismus Hitlers und Stalins noch aus eigener Erfahrung kennt, Abschied von der mit einem Requiem auf den Kommunismus. Er ist ist ein Kind der „festen“ Moderne („solid modernity“), eines Projekts, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Welt aufzuräumen und Gefahren zu beseitigen, und so die Vergangenheit zu zerstören und die Zukunft zu regeln:

It had been tacitly assumed that contingency and randomness, a profusion of accidents and an overall unpredictability of events, were anomalies; they were either departures from well-established norms, or the effects of the human inability to entrench a ‘normality’ visualized, postulated and designed as a state of equilibrium and regularity. The task was to lift up and put back on the rails a world that had been derailed by an engine fault or driver’s error, or to relay the rails on a tougher and more resistant bed. … The purpose of change was to bring the world to a state in which no more change would be called for: the purpose of movement was to arrive at a steady state. The purpose of effort was the state of rest, the purpose of hard labour was leisure.

Mit dem Kapitalismus lieferte sich der Sozialismus (und später Kommunismus) im Industriezeitalter einen Wettstreit darüber, wie dieses Ziel am schnellsten und einfachsten zu erreichen sei. Im Zuge dieses Wettstreits machte der Staat taktische Zugeständnisse an die Arbeiterschaft. Der Sozialismus drohte zu einer sich selbst widerlegenden Prophezeiung zu werden. Lenins Kommunismus, in dem Berufsrevolutionäre einspringen, wo die Massen versagen, und den Umsturz gewaltsam erzwingen, bezeichnet Bauman als „Abkürzung“ eines stagnierenden historischen Prozesses – in seiner totalitären Praxis war er der Todesstoß für jegliche Art menschlicher Freiheit und zugleich die vielleicht konsequenteste Umsetzung der Ideen fester Moderne:

In a nutshell, communism, Lenin’s version of socialism, was an ideology and practice of shortcuts – whatever the cost. Pushed to an extreme never tried anywhere else, the modern promise of bliss guaranteed by a rationally designed and rationally run, orderly society was revealed to be a death sentence on human freedom.

… To sum up, the communist experiment put to an extreme and perhaps ultimate and conclusive test the viability of the modern ambition of complete control over the fate and living conditions of human beings – as well as revealing the awesomeness of the human cost of acting on that ambition.

Im Übergang von der festen zur flüssigen Moderne gelang es dem Kapitalismus, sich neu zu erfinden, der Kommunismus hingegen (ich bin nicht sicher, wie Bauman China hier einordnen würde, vermutlich aber nicht als kommunistisches Land) ging unter. Im Westen gab man den alten Traum von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit allmählich auf, es blieb nur „Freiheit“ übrig, die man im Sinne von „Deregulierung“ interpretierte: Die Freiheit des Kapitals und der Märkte, während aus Brüderlichkeit der grenzenlose Wettbewerb wurde und Gleichheit in der zunehmend hohlen Prämisse bestand, jeder könne es nach oben schaffen, wenn er nur entschlossen genug daran arbeitet:

… in the liquid stage of modernity capitalism opted out from that competition: its wager was put instead on the potential infinity of human desires, and its efforts have focused since on catering for their infinite growth: on desires desiring more desire, not their satisfaction; on the multiplying instead of the streamlining of opportunities and choices; on letting loose, not ‘structuring’, the play of probabilities.

Bauman trauert dem Kommunismus nicht nach, aber er gibt zu bedenken, dass es ein ausgewachsenes Monster war, das ihn schließlich besiegte, und seither dazu führte, dass ein Prozent der Weltbevölkerung 90% über des Reichtums verfügt und dass Goldman Sachs für seine 161 Aktionäre mehr Gewinn macht, als der Staat Tanzania mit 25 Millionen Bürgern an Einkünften erzielt:

Most of the offputting and revolting, immoral aspects of the human condition that made that programme so attractive in the eyes of millions of denizens of ‘solid modernity’ (such as a blatantly unjust distribution of wealth, widespread poverty, hunger, humiliation and denial of human dignity) are still as much with us, if not even more blatantly, as they were two hundred years ago; if anything, they keep growing in their volume, force, hideousness and loathsomeness.

Die meisten der abstoßenden und widerlichen, unmoralischen Aspekte des Menschseins, die dieses Programm in den Augen so vieler Bürger der „festen Moderne“ so attraktiv gemacht hatten (etwa die krass ungerechte Verteilung von Reichtum, die weit verbreitete Armut, Hunger, Demütigung und die Missachtung der Menschenwürde) sind im Vergleich zu vor zweihundert Jahren immer noch vorhanden, wenn nicht gar verschärft; sie nehmen an Umfang, Einfluss, Bösartigkeit und Widerlichkeit eher noch zu.

In der neuen Situation der flüssigen Moderne sind aber viele staatliche und gesellschaftliche Institutionen überfordert, unter anderem auch die Nationalstaaten. Auch deshalb haben viele Menschen das frustrierende Gefühl, diesen Entwicklungen hilflos ausgeliefert zu sein. Kirchen und Glaubensgemeinschaften (zumal die katholische Kirche als echte globale Größe und unter dem neuen Papst) könnten bei dieser nächsten großen Aufgabe, die uns gestellt ist, eine wichtige Rolle spielen und dazu beitragen, die nötigen universalen Strukturen zu schaffen für die Bändigung des globalen Kapitalismus, umfassende Integration und die Überwindung von Armut und Ungleichheit.

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