Die Tücken des postmodernen Über-Ich

In den letzten Tagen hat mich ein Aufsatz von Slavoj Žižek beschäftigt, der eigentlich schon etwas älter ist (1999), aber viele Anregungen enthält, die auch 15 Jahre später noch aktuell sind. Ich denke, das ist ein Beweis dafür, wie scharfsinnig Zizek die Welt analysiert. Der Titel – „You May“/“Du darfst“ – spielt direkt auf kalorienreduzierte Lebensmittel deutscher Provenienz an. Im Grunde aber geht es um Freiheit, Normierung, Begehren und Zwang in unserer Gesellschaft.

„You May“ beginnt mit dem Phänomen der „Reflexivierung“ von Gebräuchen in der heutigen Risikogesellschaft. Verhalten, das früher einmal selbstverständlich war, ist heute etwas, für das man sich entscheidet und das man lernen muss, es bedarf also der Reflexion. Zizek zeigt das am Beispiel des Rassismus gegenüber seiner Heimatregion, dem „Balkan“: Es gibt den traditionellen Rassismus mit seinen Vorurteilen und Stereotypen (barbarisch, despotisch, korrupt, un“westlich“…), daneben existiert aber ein politisch korrekter, reflexiver Rassismus (die Gräueltaten zeugen von einem irrationalen und ungebildeten Stammesdenken, das den Anschluss an die – unparteiisch und verwundert zusehende – zivilisierte Welt noch nicht gefunden hat, in der Nationalstaaten ein Phänomen der Vergangenheit sind), und schließlich ist da der umgekehrte Rassismus, etwa der Serben, die sich gegenüber dem weichlichen, blutleeren Westen, den sie verachten, als authentisch, ursprünglich und leidenschaftlich inszenieren.

In der Psychoanalyse ist es inzwischen kaum noch möglich, das Unbewusste eines Menschen durch Interpretation heilsam zu erhellen, weil die Patienten ihre Leidensgeschichte schon im reflexiven Vokabular des Therapeuten schildern und damit bereits über Erklärungen verfügen. Žižek schreibt (und man hört im Geist schon die Ärzte singen):

Es ist so, als würde ein Neonazi-Skinhead, von dem man verlangt, sein Verhalten zu begründen, anfangen, wie ein Sozialarbeiter, Soziologe oder Sozialpsychologe zu reden, als zitiere er die geringe soziale Mobilität, die wachsende Unsicherheit, die Auflösung väterlicher Autorität, den Mangel an Mutterliebe in seiner Kindheit.

Ein postmoderner Neonazi, „der Schwarze verprügelt weiß genau, was er tut, aber er tut es trotzdem“. Die postpolitische, liberal-freizügige Gesellschaft kann den Missbrauch der Menschenrechte nicht verhindern:

Das Recht auf Privatsphäre ist im Endeffekt das Recht, Ehebruch zu begehen, heimlich, ohne dass man bespitzelt oder dass gegen einen ermittelt wird. Das Recht, nach Glück zu streben und Privateigentum zu besitzen, ist im Endeffekt das Recht, zu stehlen (andere auszubeuten). Presse- und Meinungsfreiheit – das Recht zu lügen. Das Recht freier Bürger auf Waffenbesitz – das Recht, zu töten. Das Recht auf Glaubensfreiheit – das Recht, falsche Götter anzubeten. …

Gut, das mit dem Bespitzeln und der Privatsphäre hat sich, wie wir alle wissen, gründlich geändert. Aber nach wie vor gilt Žižeks Beobachtung, dass der Rechtsstaat den Missbrauch der Freiheitsrechte kaum einschränken kann, ohne die Freiheit selbst einzuschränken. Das geschieht inzwischen zwar punktuell, das grundsätzliche Dilemma bleibt jedoch, das es keine absolut gültigen Regeln mehr gibt – und dass diejenigen, die wir noch haben (Menschenrechte), von manchen mutwillig pervertiert werden, während ihre wahren Anhänger keinen Gegendruck erzeugen können, ohne sie zu verraten.

Wenn die öffentliche Ordnung nicht mehr durch „Hierarchie, Repression und strikte Regelungen“ aufrechterhalten wird, kann sie auch nicht mehr durch befreiende Regelbrüche (etwa dem Lachen hinter dem Rücken des Lehrers) verletzt werden. In einer freizügigen Gesellschaft wird dafür die selbstgewählte Unterwerfung zum Tabubruch, was für Žižek auch die Erotisierung von Repression und Sklavenverhältnissen erklärt (was das für theologische Fundamentalismen bedeutet, etwa im Blick auf den sogenannten Komplementarismus und dessen Motivation, eine Hierarchie der Geschlechter zu repristinieren, oder auch autoritäres Führungsverständnis bzw. eine antiquierte, grob gerasterte Dogmatik, wäre noch zu klären: Es könnte vormodern und unreflektiert sein – man kann sich die Welt gar nicht anders denken als so –, oder postmodern und reflexiv – dann wird dieser Glaube zum Vehikel der antiliberalen Grenzüberschreitung).

An dieser Stelle bringt Žižek den Begriff des „Über-Ich“ ins Spiel. Wo Eltern ihr Kind früher dazu verdonnerten, die Großmutter zum Geburtstag zu besuchen, da sagen sie heute: „Du weißt ja, wie gern Deine Großmutter dich sehen möchte. Aber Du solltest natürlich nur hingehen, wenn Du es wirklich möchtest, sonst bleib lieber zuhause.“ Das Kind weiß natürlich, dass es im Grunde keine Wahl hat, nur kann es jetzt nicht mehr gegen den Zwang aufbegehren, der vordergründig keiner mehr ist. In Wirklichkeit lautet die Forderung aber nun: „Du musst die Großmutter besuchen, und Du musst es auch noch gern tun.“ Das Über-Ich befiehlt uns, die Dinge, die wir tun, gefälligst zu genießen. Aus Kants kategorischem Imperativ, der davon ausging, dass ich das Gute tun kann, weil es meine Pflicht ist, wird somit die Pflicht, alles zu tun, was ich kann: Die Verfügbarkeit von Viagra schlägt um in die Erwartung, so viel Sex wie nur möglich zu haben. Unter Esoterikern wird Selbstverwirklichung und das Lebensglück eben deshalb zur Pflicht, der man mit Freuden nachzukommen hat, weil sie machbar ist. In der totalitären Demokratie muss man dem Führer nicht nur gehorchen, mann muss ihn lieben. Es ist nicht genug, seine Arbeit ordentlich zu machen, es muss jetzt auch noch mit totaler Leidenschaft und Begeisterung geschehen. Damit bilden sich neue „Fundamentalismen“, während die alten, autoritären auch noch irgendwie lustvoll und reflexiv gebrochen fortbestehen. Und jetzt kommt der Slogan fettfreier Produkte ins Spiel, denn man kann plötzlich Salami essen, ohne sein Fett abzubekommen:

Nationalistischer Fundamentalismus fungiert als ein kaum noch verschleiertes „Du Darfst“. Unsere postmoderne reflexive Gesellschaft, die so hedonistisch und freizügig scheint, ist in Wirklichkeit gesättigt mit Regeln und Vorschriften, die unserem Wohlergehen dienen sollen (Einschränkung des Rauchens und Essens, Regeln gegen sexuelle Belästigung). Eine leidenschaftliche ethnische Identifikation ist keineswegs eine weitere Einschränkung, sondern ein befreiender Zuruf „Du darfst!“: du darfst (nicht den Dekalog, aber) die starren Vorschriften friedlicher Koexistenz in einer liberalen, toleranten Demokratie verletzen; du darfst essen und trinken, was auch immer du willst, Sachen sagen, die politische Korrektheit verbietet, sogar hassen, [andere] bekämpfen, töten und vergewaltigen.

Diese Fundamentalismen verdanken also ihren Sexappeal ausgerechnet der toleranten Gesellschaft, die sie verachten und auf deren Kosten sie sich als „authentische“, „ungezähmte“ Freiheitskrieger inszenieren. Leute, die sich „den Mund nicht verbieten lassen“, „Klartext reden“ oder wie auch immer das dann heißt.

In seinem jüngsten Beitrag für die Zeit vom 16. April nimmt Žižek viele dieser Motive übrigens wieder auf und wendet sie auf den Rechtspopulismus in Europa an, sein Interesse gilt nun aber den Folgen rechter Tabubrüche. Die richtige Antwort auf derartige Umtriebe wäre aus seiner Sicht, mit Freiheit und Gleichheit in Europa noch viel konsequenter und radikaler Ernst zu machen (sich also, um auf das „du darfst“ zurückzukommen, die subtilen Zwänge des Über-Ich bewusst zu machen), statt dem rechten Druck zur Abschottung und der Rückkehr zu autoritären Ordnungsstrukturen nachzugeben, mit der man den Feinden der Freiheit (die Orbans, Le Pens und wie sie alle heißen) den Grund zur Klage nehmen möchte, in Wahrheit aber ihre Ziele und Methoden legitimiert. Denn wenn die emanzipatorischen Bemühungen aus Angst oder Trägheit eingefroren werden, erhalten die Reaktionäre die Chance, sich als die bessere Revolution auszugeben.

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Im Hier und Jazz

Ist das eigentlich ein besorgniserregend, dass ich das Philosophie-Magazin spannender finde als die meisten frommen Zeitschriften, die auf meinen Schreibtisch flattern? Vielleicht liegt es aber auch nur an solchen Beiträgen wie dem von Michael Hampe, der sich mit dem Selbstverständnis seiner Zunft als „Wissenschaft“ mit standardisierter Methodik und verwertbaren Ergebnissen auseinandersetzt, um dann auf Sokrates zu sprechen zu kommen und einen ganz anderen Ansatz ins Auge zu fassen, der im Übrigen auch der Theologie gut zu Gesicht stünde:

Für Sokrates gleich das Führen eines Gesprächs eher dem Musizieren. Da wird mit Begriffen gespielt, werden mögliche Bedeutungen variiert und ausgetestet. Und auch eine Jazzband variiert ihr Thema nicht, um herauszufinden, wie man es „richtig“ spielt. Wer das glaubt, zeigt damit an, dass er nicht versteht, was Jazz ist. Genauso versteht man ein sokratisches Gespräch nicht, wenn man fragt: Und, wer hat denn nun Recht gehabt? Es geht bei dieser Tätigkeit nicht darum, ein Problem endgültig zu lösen oder zu einer unzweifelhaften Behauptung vorzustoßen, sondern um die Erfahrung eines Spielraums im Umgang mit Begriffen, die das Leben prägen.

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Ferien vom Über-Ich

Die Kritik verdächtigt alles und klagt alles an und sitzt über alles zu Gericht. Sie ist damit Schritt innerhalb einer Tradition: denn erst – in der Religion – saß Gott über die Menschen zu Gericht; dann – in der Theodizee – die Menschen über Gott; dann – in der Kritik – die Menschen über sich selber. Das Gericht der Kritik ist also Selbstgericht, und das ist anstrengend: darum wählt die Kritik den Ausweg, dabei nicht der Angeklagte zu sein, sondern der Ankläger; sie entlastet sich, indem sie richtet, um nicht gerichtet zu werden; die Kritik: das sind Ferien vom Über-Ich dadurch, dass sie selbst jenes Über-Ich wird, das die Anderen nur haben, und das selbst kein Über-Ich hat. Dem an sich und für sie verurteilten Zustande ist sie dann für sich schon entkommen: der verurteilte Zustand sind somit die anderen.

aus Odo Marquard, Imkompetenzkompensationskompetenz, in: ders., Zukunft braucht Herkunft

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Des Kaisers neue Kompetenzen?

Neben der unsterblichen Transrapidrede ist Edmund Stoiber ja auch durch das beliebte Schlagwort „Kompetenz“, im Stoiber-Sprech wurde daraus sogar zwischenzeitlich „Kompetenzkompetenz“. Stoiber warf die Frage auf, wer die wohl hat.

Kürzlich sprach ich mit zwei Lehrerinnen über die Ausrichtung des Lehrplanes an Kompetenzen. Erst mal leuchtet der Gedanke ja ein, dass nicht nur Wissen („totes Faktenwissen“ heißt es dann) vermittelt werden soll, sondern Schüler und Studenten tatsächlich etwas können sollten. Freilich ist es wichtiger, lesen zu können, als den Inhalt dieses oder jenes Buches aufsagen zu können. Aber ganz so einfach ist das wohl nicht, wenn man weiter denkt.

Im Laufe des Gespräches erinnerte ich mich an mein erstes Semester Theologie und einen Professor, der damals schon kritisierte, dass Bildung, die darauf abzielt, jedem ein möglichst eigenständiges Urteil zu ermöglichen, immer mehr zur Ausbildung verkommt, die Menschen dazu bringt, zu funktionieren. Ausbildung aber ist verzweckte Bildung, in der messbare Effizienz- und Nützlichkeitserwägungen andere Bildungsziele wie die freie (also ergebnisoffene) Entfaltung der Persönlichkeit oder zweckfreie Neugier, die für Aristoteles noch der Ursprung der Philosophie war, zu verdrängen drohen.

Also habe ich mich nach kritischen Gesprächspartnern umgesehen. Der Literaturwissenschaftler Jürgen Gunda schreibt etwa ganz treffend über einen Kompetenzbegriff, der das Wissen hinter das „Können“ zurückstellt:

Auf der Seite des Wissens haben wir Komplementärbegriffe wie Neugier, Erkenntnis, Interesse oder Reflexion. Auf der des Könnens aber steht die gezielte Etablierung von Wiederholungsroutinen und Kontrollmechanismen. Gewährleistet werden soll die spontane und situationsgerechte Abrufbereitschaft erworbener Kenntnisse für Entscheidungsprozesse und Handlungen.

Freilich ließe sich auch all das Vernachlässigte in Kompetenz-Sprech umformulieren, oder, netter formuliert, in einen umfassenderen Begriff von Kompetenz integrieren. Fraglich ist, ob das im aktuellen Diskurs über Kompetenz in der (Aus)Bildung gewünscht wird, oder ob dort ein reduktionistischer, ökonomisierter Kompetenzbegriff dominiert. Gunia verweist darauf, dass die im Management geforderte Kompetenz meist im Kontext von globaler Konkurrenz und dem sich verschärfenden Kampf ums Überleben erscheint und daher in der Literatur vielfach explizit militärische Paradigmen bemüht werden. Die oft wiederholte Forderung »Aus Wissen muss Können werden!« geht nämlich auf den preußischen General Clausewitz zurück:

Das Subjekt als Feldherr seiner selbst transformiert fortwährend Wissen in Können und Lernen in Üben. Dadurch versetzt es sich in die Lage, zeitnah Entscheidungen treffen und Handlungen folgen zu lassen. Seine Immunisierung gegen Kontingenz ist nicht nur defensiv, sondern offensiv, nicht nur Panzer, sondern auch Waffe. In seinen Entscheidungen und Handlungen geht Verteidigung über in Angriff. Der Gegner ist dabei nicht nur das Unabwägbare selbst. Gegner sind auch die anderen Immunisierten, gegen die man sich durch eine optimalere Panzerung einen Vorteil im Wettbewerb sichern möchte.

Neben dem „Können“ wirft die Bezugnahme der Kompetenzdefinitionen auf die „Situation“, in denen Kompetenz zur Geltung kommt, Fragen auf. Statt die Kontingenz und Komplexität der jeweiligen Situation zur Sprache zu bringen, zielen viele Konzepte von „Kompetenz“ darauf ab, beides zu eliminieren – sich von äußeren Ereignissen also nicht stören und ins Nachdenken oder gar Zweifeln bringen zu lassen, sondern sofort auf eine antrainierte Lösungsroutine zurückzugreifen:

Die ideologische Rede von der Kompetenz sieht in Situationen primär etwas, das von einem Subjekt zu bewältigen und zu kontrollieren ist. Situation verweist aber außerdem auf ein Verwickeltsein, ein Mitten-Drin, dem man zunächst nichts als ausgesetzt ist.

Als Alternative zu diesen Verengungen des Subjekt- und Bildungsbegriffs greift Gunia den Vorschlag auf, sich wieder mehr am aristotelischen Ideal der phronesis zu orientieren (vgl. Eph 1,8). Theologisch wäre der Begriff der Weisheit hier zu nennen, in dem sich Wissen und Erfahrung verbinden und mit dem sich verhindern ließe, dass „Theorie“ und „Praxis“ gegeneinander ausgespielt werden.

Weisheit ist in unserem heutigen wie im biblischen Sprachgebrauch aber eine Eigenschaft des Subjekts und keine bloße Fertigkeit (sehr weit hergeholter Nebengedanke: wäre Hans-Peter Friedrich Philosoph statt Politiker, würde er hier zu Stoibers heller Freude wohl von „Superkompetenz“ sprechen?). Sie entwickelt sich als Haltung, indem man sich als ganze Person den Fragen stellt, die Welt und Leben aufwerfen. Und in genau diese Richtung denkt auch Gunia, wenn er mit dem Soziologen Hartmut Rosa am Ende die Bedeutung von Natur, Ästhetik und Religion für das gelingende Weltverhältnis des Menschen nennt.

Die Sorge der beiden Lehrerinnen, es zukünftig vermehrt mit „Kompetenzgschmarri“ (so eine der beiden, Dialekt verleitet ja zur Ehrlichkeit) zu tun zu bekommen, ist nach diesem kurzen Blick auf die kritische Diskussion nicht ganz unbegründet. Aber vielleicht kommt ja auch alles viel besser, als man so denkt…

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Demütigungen und die Folgen

Ich schreibe diese Sätze von Zygmunt Bauman einfach mal hin – ohne Kommentar, der konkrete Bezüge herstellt, das überlasse ich jedem selbst in der Erwartung, dass es nicht allzu schwer fallen dürfte:

Menschen fühlen sich gedemütigt, wenn ‚ihnen brutal gezeigt wird, durch Worte, Taten oder Ereignisse, dass sie nicht sein können, wofür sie sich halten… Demütigung ist die Erfahrung, zu Unrecht, grundlos und gegen den eigenen Willen niedergedrückt, niedergehalten, zurückgehalten oder hinausgedrängt zu werden.‘ Dieses Gefühl erzeugt Groll.

… Die Schmach der Demütigung erzeugt Selbstverachtung und Selbsthass, die uns gewöhnlich überwältigen, wenn uns klar wird, wie schwach, ja unfähig wird sind, an der Identität unserer Wahl festzuhalten, an unserem Platz in der Gemeinschaft, die wir schätzen und die uns etwas bedeutet, und an der Art zu leben, die wir uns wünschen und die wir möglichst lange behalten wollen.

… Die Kettenreaktion führt von Ungewissheit über Ohnmachtsgefühle, Scham und Demütigung zum Ekel, Widerwillen und Hass gegen sich selbst und endet daher in der Suche nach einem Schuldigen ‚da draußen, in der Welt‘; nach diesem jemand, der noch unbekannt ist und keinen Namen hat, unsichtbar oder verkleidet ist, der sich gegen meine (unsere) Würde und Wohlergehen verschworen hat, und mich den stechenden Schmerz der Demütigung spüren lässt. Diesen jemand müssen wir dringend entdecken und ihm die Maske herunterzureissen, denn wir brauchen ein Ziel für unsere aufgestaute Wut.

… damit diese Entladung jedoch Erfolg haben kann, muss die ganze Operation alle Spuren persönlicher Rache sorgfältig verschleiern. Die enge Verbindung zwischen der Widerlichkeit und Verhasstheit des gewählten Ziels und unserer Frustration, die nach einem Ventil sucht, muss geheim gehalten werden. Wie auch immer der Hass zustande kam, wir ziehen es vor, sein Vorhandensein uns selbst und anderen um uns her dadurch zu erklären, dass wir ja die guten und edlen Dinge verteidigen, die sie – jene bösartigen und verachtenswerten Leute – herabwürdigen und hintertreiben;

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Obamas menschliche Unmenschen: Von der Atombombe zum Quantencomputer

Diese Woche war von schrecklichen Grausamkeiten des Regimes in Syrien die Rede. Ich kann mich an solche Berichte nur schwer gewöhnen, das ist wohl auch gut so. Also musste ich erst einmal Bruce Cockburns If I had a Rocket Launcher anhören, einen vertonten postmodernen Rachepsalm.

Die Frage, wie es eigentlich möglich ist, dass Menschen solche furchtbaren Verbrechen begehen, hat vor allem im 20. Jahrhundert die Denker bewegt. Schon der erste Weltkrieg hat den Optimismus der Moderne, man könne aus eigener Kraft und Vernunft eine bessere Welt schaffen, schlagartig beendet. Zygmunt Bauman setzt sich in Collateral Damage mit den Erklärungsversuchen für die Zeit nach den Zweiten Weltkrieg auseinander. Im Grunde gibt es drei Ansätze, sagt er: Erstens kann man nach psychischen Störungen bei den individuellen Tätern fragen, zweitens (diese Richtung vertrat etwa Hannah Arendt) nach Mentalitäten und gesellschaftlichen Mechanismen, die ganz normale Menschen dazu bringen, monströse Grausamkeiten zu begehen. Bauman resümiert:

Wie sicher und bequem, gemütlich und freundlich würde sich die Welt anfühlen, wenn es die Monster und nur die Monster wären, die monströse Taten begingen. Gegen Monster sind wir recht gut geschützt, und können uns daher auf der Gewissheit ausruhen, dass wir gegen die bösen Taten versichert sind, zu denen Monster fähig sind und die sie zu verüben drohen. Wir haben Psychologen, die Psychopathen und Soziopathen entdecken, wir haben Soziologen, die uns verraten, wo sie sich wahrscheinlich verbreiten und versammeln, wir haben Richter, die Haft und Isolation gegen sie verhängen, und Polizei oder Psychiater, die dafür sorgen, dass sie dort bleiben.

Drittens spricht Bauman von einer anthropologischen Fragestellung. Sie begann unter anderem mit der Beobachtung, dass die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, aber auch die das Flächenbombardement von strategisch bedeutungslosen Städten wir Würzburg im zweiten Weltkrieg offenkundig aus einer Art ökonomischen Vernunft heraus angeordnet wurden: Man hatte in die Herstellung dieser Bomben gewaltige Summen investiert, also mussten sie auch eingesetzt werden, um das zu tun, wozu sie da waren: zu zerstören und zu töten. Harry Truman verkündete am Tag nach Hiroshima: „Wir haben uns auf die kühnste wissenschaftliche Wette der Geschichte eingelassen, eine Wette von zwei Milliarden Dollar – und wir haben gewonnen.“

Unter Berufung auf Günther Anders’ Ausführungen zur Blindheit des Menschen für die Apokalypse erklärt Bauman: Was machbar ist, wird also gemacht, eben weil es machbar ist. Was gestern noch unvorstellbar und schockierend war, ist aber heute schon gefühlte Normalität, weil niemand mit chronischen Katastrophen leben kann.

Nicht als Problemanzeige wie bei Anders und Bauman, sondern als Rechtfertigung erscheinen eben diese Motive nun im Mund des aktuellen Nachfolgers von Truman, Barack Obama, der über die NSA Mitarbeiter in offenkundig verharmlosender, aus der Perspektive von Bauman und Anders aber verräterischer Sprache sagt: „Schließlich sind die Leute bei der NSA und den anderen Nachrichtendiensten unsere Nachbarn. Sie sind unsere Freunde und Familie. … Sie haben Kinder auf Facebook und Instagram, und sie wissen besser als die meisten von uns um die Verletzbarkeit der Privatsphäre in einer Welt, wo Transaktionen, E-Mails und SMS gespeichert werden und sogar unsere Bewegungen immer besser per Smartphone-GPS verfolgt werden können.“). Genau solche Nachbarn waren eben auch Adolf Eichmann oder die Crew von Abu Ghraib.

Und wenn die NSA nun Milliarden in einen Quantencomputer investiert, der letztlich alle Computer dieser Welt überwachen können soll, dann wird sie genau das das auch lückenlos tun, weil sie es kann und weil es so teuer war. Das hat Edward Snowdens Unterstützer Glenn Greenwald jüngst beim CCC auch so dargestellt, und es gibt m.E. keinen vernünftigen Grund, daran zu zweifeln. Günter Anders starb 1992. In „Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an?“ ahnte er schon vor genau 50 Jahren ein technisch-totalitäres Imperium voraus, das uns bedroht. Dass er der „Panikmache“ bezichtigt wurde, empfand er als Auszeichnung.

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Der doppelte Hiob

Manche Erzählungen sprechen Menschen aus ganz verschiedenen Kulturen und zu allen Zeiten an. In den letzten Wochen etwa bin ich auf zwei Interpretationen der Hiob-Geschichte gestoßen. Die eine stammt von dem Psychotherapeuten James Hollis (Finding Meaning in the Second Half of Life: How to Finally, Really Grow Up), der bei Hiob einen Perspektivwechsel und damit verbunden einen Reifeprozess erkennt:

Hiob gelangt zu der Einsicht, dass er anmaßenderweise davon ausgegangen war, sein kooperatives Verhalten Gott gegenüber würde diesen verpflichten, ihn gut zu behandeln. Hiob hört auf, der gute kleine Junge im Angesicht eines strengen, aber berechenbaren Gottes zu sein und wird ein zutiefst erschütterter Erwachsener. So wie Hiob (wenngleich selten so dramatisch) erleben es auch die meisten von uns, dass wir lange stillschweigend davon ausgegangen waren, dass Wohlverhalten uns Wohlergehen einbringt. Das Kind glaubt, seine Wünsche lenken die Wirklichkeit, der Heranwachsende glaubt, sein Heldenmut könnte das leisten. Dieser Plan scheitert, und mit ihm zerbricht unser Weltbild – das Weltbild unseres Ego, das sich wünscht, das Leben müsse durchschaubar und beherrschbar sein.

Wenn Leid diese Illusion wiederholt erschüttert, ein Mensch schließlich ernüchtert und demütig auf die unberechenbare, verwirrende, und immer wieder aufregend schöne Welt blickt, die sich so gar nicht um ihn dreht, dann ist er an seiner Erfahrung spirituell gewachsen, und so begegnet uns am Ende des Hiobbuches ein gereifter Hiob.

Zygmunt Bauman nähert sich in Collateral Damage: Social Inequalities in a Global Age dem Thema aus einer anderen Richtung. Während die Griechen keine Mühe hatten, die Zufälle und Willkür dieser Welt durch die vielen, stets miteinander im Streit liegenden Götter zu erklären, die in den einzelnen Teilbereichen des Lebens als Ordnungsmächte auftraten, war das für Israel ein Problem, je mehr es Jahwe als den einzigen und allmächtigen Gott verstand. Damit war er auch für alles Unheil verantwortlich, das er zulässt. Bauman schreibt:

Im schroffen Gegensatz zur stummen und gefühllosen Natur, die er regiert, verkörpert und personifiziert, spricht Gott und gibt Gebote. Er findet auch heraus, ob seine Gebote befolgt wurden, und er wird den Gehorsamen belohnen und den Widerspenstigen bestrafen. Er ist nicht gleichgültig dem gegenüber, was menschliche Schwächlinge denken und tun. Aber wie die stumme und gefühllose Natur ist er nicht gebunden an das, was Menschen denken und tun. Er kann Ausnahmen machen

Für Bauman ist das Grundbedürfnis des verletzlichen Menschen Schutz und Verlässlichkeit. Der Bund zwischen Israel und Gott schien den unberechenbaren Gott verlässlicher zu machen (Gott fordert Gehorsam und verheißt Wohlergehen), aber zumindest im Blick auf das Schicksal des einzelnen ging die Gleichung nicht auf. Immherhin aber kann man mit einem persönlichen Gott sprechen.

Generationen von Theologen haben sich an seinem Geheimnis die Zähne ausgebissen: wie allen modernen Männern und Frauen (und jedem, dem die Botschaft des Buches Exodus geläufig war), hatte man ihnen beigebracht, nach einer Regel und einer Norm zu suchen, aber die Botschaft des Buches war, dass es keine Regeln und keine Norm gab, auf die man sich verlassen konnte; genauer: keine Regeln oder Normen, an die jene höchste Macht gebunden ist.

Carl Schmitts Diktum „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, wird hier vorweggenommen. Schon die Theologen im Buch Hiob müssen sich verrenken, um an dem Zusammenhang von Sünde und Strafe, Tugend und Lohn gegen allen Augenschein festhalten zu können. Hiob weiß selbst (9,2-3), dass Gott sich nicht rechtfertigt und keine Fragen nach dem „Warum“ seines Leides beantwortet. Gott redet zu Hiob dann passenderweise aus dem Unwetter, das auch über Gerechte und Ungerechte gleichermaßen unerbittlich hereinbricht.

Bauman übergeht die theologische Pointe des Hiobbuches (Hiob hadert mit Gott, hält aber an ihm fest), er verzichtet auch auf eine psychologische Deutung, weil es ihm um etwas anderes geht: Das krachend gescheiterte Projekt der Moderne bestand seit dem Erdbeben von Lissabon genau darin, das Glück in die eigene Hand zu nehmen, die Welt zu entzaubern und den Menschen durch technischen und zivilisatorischen Fortschritt vor solchen Katastrophen zu schützen. Da man Gott dabei ausklammerte, traten nun die Menschen selbst an seine Stelle, um kraft ihrer Vernunft alle natürlichen und moralischen Risiken zu beherrschen. Kant wollte das moralische Gesetz zu einer ähnlichen Klarheit und Eindeutigkeit führen wie die Naturgesetze. Das Gegenteil jedoch, sagt Bauman, trat ein:

Statt dass vernunftgesteuertes Verhalten in den Rang des Naturgesetzes erhoben wurde, sanken seine Konsequenzen herab auf die Ebene der unvernünftigen Natur. Naturkatastrophen wurden den ‚im Prinzip beherrschbaren‘ moralischen Untaten nicht ähnlicher; im Gegenteil, es stellte sich heraus, dass das Gros der Unmoral den klassischen Naturkatastrophen immer ähnlicher wurde: gefährlich wie diese, unvorhersagbar, unaufhaltsam, unverständlich und immun gegenüber menschlicher Vernunft und Wünschen. Heutzutage treffen uns Katastrophen, die durch menschliches Handeln verursacht wurden, aus einer undurchschaubaren Welt, sie schlagen willkürlich dort zu, wo man sie unmöglich erwarten konnte, sie entziehen sich und trotzen jeder Art von Erklärung, die menschliches Handeln von anderen Ereignissen unterscheidet: einer Erklärung durch ein Motiv oder einen Zweck. Vor allem erscheinen uns die Katastrophen, die durch unmoralisches menschliches Handeln verursacht wurden, prinzipiell immer unbeherrschbarer.

Die existenzielle Verunsicherung hat sich im Verlauf der also keineswegs lindern lassen, sie wurde, etwa durch die Kräfte und „Mechanismen des Marktes, eher noch verschärft. Und so warnt Bauman vor der Aushöhlung demokratischer Kultur und vor einem fanatischen Kapitalismus, der zu „neuen Geographien der Exklusion und Landschaften des Reichtums“ führt. Was in Jerusalem begann, endet im Athen eines dauerhaften Ausnahmezustandes: der Risikogesellschaft des 21. Jahrhunderts.

Hollis fragt nach Möglichkeiten und Verantwortung des einzelnen für sich selbst. Bauman interessiert sich für die philosophischen und politischen Fragen, die zwischen Gott und Hiob angerissen werden. Es gibt mit Sicherheit noch mehr lohnende Zugänge.

Die Geschichte von Hiob ist ein gewichtiges, aber eben nicht das letzte Wort zum persönlichen wie auch dem gesellschaftlichen Umgang mit Leid und Unglück aus biblischer Sicht. Sie endet mit einem Funken von Hoffnung. Im neuen Testament wird aus diesem Funken ein Feuer.

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Wahrheit als Gemeinschaft

Ich hatte es ja kürzlich schon einmal kurz angerissen – Parker Palmer entwickelt in To Know as We Are Known eine biblisch-theologische Grundlegung des christlichen Wahrheitsbegriffs, die sich für mein Empfinden wirklich sehen lassen kann.

Palmer beginnt mit dem Johannesevangelium, in dem Jesus den Anspruch erhebt, die Wahrheit in seiner Person zu verkörpern. Das frühe Christentum hat diese Aussage bestens verstanden (das keltische Christentum im Übrigen auch!), dass es hier nicht primär um Logik und Lehrsätze geht, sondern um Menschen und deren Leben. Deswegen erzählen die Evangelien auch eine Geschichte, anders lässt sich lebendige und persönliche Wahrheit gar nicht ausdrücken.

Den Kontrast zu Jesus bildet Pilatus mit seiner Frage „Was ist Wahrheit?“, als er sich Jesus gegenüber sieht. Das „was“ deutet schon an, dass Pilatus Wahrheit als Gegenstand versteht, als Objekt der Betrachtung, das für den so distanzierten Betrachter selbst etwas Äußeres bleibt. Pilatus versucht Jesus im Folgenden zu objektivieren, etwa mit dem Etikett „König“. Jesus sperrt sich gegen eine Kategorisierung, die ihn auf bestimmte Kriterien und Eigenschaften (z.B. „Freund“ oder „Feind“) reduziert. Stattdessen konfrontiert er den Pilatus mit seinem persönlichen Anspruch und seiner einzigartigen Geschichte, aber auf dem Ohr ist Pilatus taub. Er will sich auf keine Beziehung einlassen, die ihn verändern könnte.

Palmer folgert: Im christlichen Verständnis ist Wahrheit kein externer Gegenstand und auch keine Lehraussage über einen solchen. In Jesus wird das Wort Fleisch und damit besteht die Verbindung zu Gott in dieser menschlichen, persönlichen Beziehung:

Wenn Jesus sagte „Ich bin … die Wahrheit“, dann stellte er damit keine eigenwillige Behauptung über eine Privatperson auf, er lud zu keiner Beziehung ein, die entweder alles wäre, was wir wissen müssten, oder die sich von allem anderen abkoppeln ließe. Er behauptete weder, dass er alle Wahrheiten in seinem Kopf hatte, noch dass uns seine Wahrheit der Aufgabe enthebt, die Wahrheit in ihren vielfältigen Formen zu suchen. Stattdessen kündigte er ein neues Verstehen der Wirklichkeit und unserer Beziehung zu ihr an und verkörperte das auch. Die Wahrheit – wo immer und in welcher Gestalt man sie auch findet – ist persönlich und man erkennt sie durch persönliche Beziehungen. Die Suche nach dem Wort der Wahrheit wird zur Suche nach der Gemeinschaft miteinander und der ganzen Schöpfung. (S. 49)

Arne Bachmann hat in einem Post über Zizek und Badiou jüngst einen ähnlichen Gedanken beschrieben: „In einem Wahrheits-Ereignis zeigt sich immer etwas Partikulares (hier: Jesus von Nazareth) als etwas Universelles.“ Palmer verweist an dieser Stelle auf Martin Buber, der die tiefere Dimension der Wirklichkeit als Ich/Du-Verhältnis beschrieb. Und er fügt gleich hinzu: Ein solches Verständnis von Wahrheit als Beziehung bedeutet nicht, dass Christen das Wissensmonopol besäßen. Denn wenn Wahrheit persönlich ist, dann ist sie auch (nicht nur, aber auch) in jedem Menschen anzutreffen, egal welchem Glauben er angehört.

Wahrheit finden wir nicht im Kleingedruckten unserer Theologie oder der Zugehörigkeit zu einer Organisation, sondern in der Qualität unserer Beziehungen – zu einander und zur geschaffenen Welt. (S. 50)

Das größte Hindernis auf dem Weg zur Wahrheit ist der Objektivismus, der sich innerlich unbeteiligt aus den Beziehungen herausnimmt und damit immer auch die Tendenz zu Spaltung, Manipulation und Unterdrückung in sich trägt. Zudem verengt er die Wahrnehmung auf Empirie und Vernunft, statt den ganzen Menschen als das „Instrument“ zu betrachten, das die Wirklichkeit in sich aufnehmen und abbilden kann. Nur dieses umfassend verstandene Selbst, das mehr ist als die Summe seiner Teile und Eigenschaften, sondern in sich schon ein vielstimmiger Mikrokosmos, kann in Beziehung mit seiner Umwelt treten:

Die Beziehungen des Selbst erfordern nicht nur Sinneseindrücke vom anderen; nicht nur logische Verbindungen zwischen Ursache und Wirkung; sie erfordern auch ein inneres Verstehen des anderen, das durch Empathie entsteht; ein Gespür für den Wert des anderen, der durch Liebe entsteht; ein Gefühl für seine Herkunft und sein Ziel, das aus dem Glauben kommt; und eine Achtung seiner Integrität und seiner Selbstheit, die daher rührt, dass wir auch unsere eigene achten. (S. 52f.)

Anders als beim Objektivismus, der Wahrheit auf Empirie und Vernunft reduziert, ist dieser Ansatz keine erkenntnistheoretische Einbahnstraße, er die Beziehung setzt eine Wechselwirkung voraus, in der der Erkennende sich zugleich auch erkennen und verändern lässt. Aber weil die Wahrheit gemeinschaftlich ist, erweist sich auch der Subjektivismus als Sackgasse. Dessen Aufspaltung der Wirklichkeit in „meine“ und „deine“ Wahrheit, die fortan beziehungslos nebeneinander stehen, greift ebenfalls zu kurz. Denn wenn alles an den persönlichen Empfindungen und Bedürfnisse gemessen und durch keine äußere Wahrheit mehr erweitert und bereichert wird, isoliert sich das Selbst, es verliert sich in seiner eigenen Welt und alles andere (andere Menschen und deren Welt) wird zu einem Objekt ohne Bedeutung.

Wir begegnen hier einem wichtigen Paradox: Indem der Objektivismus die Welt auf eine Ansammlung von Gegenständen reduziert, stellt er den Erkennenden in ein Feld stummer und lebloser Objekte, die passiv seinen Definitionen ihrer selbst unterliegen. In dieser Hinsicht erschafft der Objektivismus die subjektivste aller Welten, eine Welt von Dingen, die sich nicht wehren und ihre Selbstheit behaupten können. (S. 55)

Wahrheit als Beziehung ist Wahrheit auf Gegenseitigkeit. Etwas wirklich zu kennen bedeutet, eine innere Verbindung herzustellen und es zu einem Teil von mir werden zu lassen. Palmer zitiert Abraham Heschel, der gesagt hat, man könne die Wahrheit nicht finden ohne sich zu verlieben. Wenn wir von Wahrheitssuche reden, dann wird diese aus christlichem Verständnis weniger dadurch kompliziert, dass die Wahrheit verborgen wäre und sich uns entzieht, sondern dass wir uns der Wahrheit entziehen, die uns aufsucht. Darin lag das Geheimnis der Wüstenväter: Sie zogen in die Einsamkeit und Stille, damit die Wahrheit sie finden und stellen konnte.

Und so kann es sein, dass mich die Wahrheit auch in Gestalt einer Romanfigur verfolgt und einholt. Palmer sagt, wenn man die Metaphern des Objektivismus aus der Festkörperphysik auf den Erkenntnisprozess anwenden kann, dann lassen sich auch Natur- und Sozialwissenschaften in den Begrifflichkeit von Person und Beziehung ausdrücken und die nichtmenschliche Schöpfung wird Teil einer lebendigen Gemeinschaft der Wahrheit, die zu uns „spricht“. Wissen, das personifiziert, ist kein anthropomorph verzerrendes oder minderwertiges Wissen, so wie die Inkarnation in christlichem Verständnis Gott auch nicht auf ein plattes Menschsein reduziert. Stattdessen öffnet sie einen weiten Raum:

Das Band des Zuhörens hält die kosmische Gemeinschaft zusammen – das vorsichtige, verletzliche Hören darauf, wie die Dinge von diesem Standpunkt aus aussehen und von jenem und jenem, ein Hören, das es uns erlaubt, den anderen nicht nur zu kennen, sondern auch von seinem Standpunkt aus erkannt zu werden. Der Objektivismus sagt der Welt, was sie ist, statt darauf zu hören, was sie über sich selbst sagt. Der Subjektivismus ist der Entschluss, auf niemanden zu hören außer uns selbst. Aber die Wahrheit erfordert es, dass wir gehorsam auf einander hören, auf das antworten, was wir hören, und das Band der Gemeinschaft der Treue [community of troth] anerkennen und neu knüpfen.

Truth as troth – Wahrheit als personales Treueverhältnis, mit diesem englischen Wortspiel drückt Palmer die entscheidende Dimension des Persönlichen und der Beziehung aus. Das hat bei ihm zum Beispiel Folgen für eine ökologische Ethik, in der wir die Schöpfung nicht als Objekt verstehen und uns selbst als ihre Mitgeschöpfe. Und Dietrich Bonhoeffer hat in der Diskussion um die Wahrheit menschlichen Redens im 8. Gebot das Fallbeispiel eines Schülers mit einem alkoholkranken Vater gebraucht. Der Lehrer fragt den Jungen vor versammelter Klasse (und daher in der klar erkennbaren Absicht, ihn zu demütigen), ob sein Vater immer noch trinke. Der Junge verneint und bleibt damit in der Beziehung zu seinem Vater treu und loyal. Der desinteressierte Lehrer und die Mitschüler hingegen haben kein Recht, Einblick in die Not dieser Familie zu erhalten. Der objektivistische Wahrheitsbegriff ließe mit seiner binär-ausschließenden, trivialen Logik eine solche Differenzierung, wie Bonhoeffer sie vornimmt, gar nicht zu. Liebe, Empathie und Glaube aber geben dem Jungen Recht, wenn er so redet.

Bernhard von Mutius kommt in Die andere Intelligenz Palmers relationalem Verständnis von Wahrheit von einer anderen Seite nahe. Er zitiert Hannah Arendt, die gesagt hatte: „Politik entsteht im Zwischen – in dem Zwischen-den-Menschen – und etabliert sich als Bezug.“ Er plädiert daher für ein „Denken nach den großen Theorien“, das die Perspektive des anderen einschließt und die Beziehung, eben das Dazwischen, in den Mittelpunkt rückt. Schließlich spielt sich Denken in unserem menschlichen Gehirn auch im Dazwischen ab, nämlich den Verknüpfungen der Neuronen. Ein solches Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit hat unmittelbare Auswirkung auf gesellschaftliche Zusammenhänge:

Viele Führungsverantwortliche in der Politik wie in der Wirtschaft kleben immer noch an alten, verdinglichten Ordnungskonzepten, an objekthaft gedachten Programm- und Planvorstellungen, in denen vitale Beziehungsgeflechte der Menschen. ihre aus positiven und negativen Identifikationen gespeisten Handlungsenergien allenfalls ganz am Rande auftauchen. Es ergeht ihnen deshalb bei der »Umsetzung« ihrer so exakt geplanten und berechneten Strategien häufig so wie bei dem seltsamen Crocket-Spiel im Wunderland, von dem Alice sagt: ”Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie man durcheinanderkommt, wenn das ganze Spielgerät lebendig ist; mein nächstes Tor zum Beispiel läuft gerade dort hinten auf dem Spielfeld herum.«

Der Objektivismus, mit dem man sich von der Willkür feudaler Herrscher und ihrem Subjektivismus befreien wollte, hat also seinerseits die Neigung zu autoritären Top-Down-„Lösungen“ befeuert. Der Relativismus eines „schwachen Pluralismus“ hingegen hat, um diesem Diktat zu entgehen, zum Kampf aller (sich selbst isolierender) Akteure um die Deutungshoheit geführt, in dem sich am Ende der Gewiefteste, Skrupelloseste oder Mächtigste behauptet. Palmer schließt das Kapitel mit der Bemerkung, wie die Suche nach der Wahrheit heilsam und verbindend wirken kann:

Die Anschauung, dass Wahrheit persönlich ist, führt weder zum objektivem Imperialismus noch zum subjektiven Relativismus. Stattdessen findet man die Wahrheit, indem wir einer pluralistischen Wirklichkeit gegenüber gehorsam sind, uns geduldig auf einen Prozess der Zwiesprache einlassen, nach einem Konsens suchen und einer persönlichen Verwandlung, die alle Beteiligten dazu bringt, sich unter das Band des gemeinschaftlichen Treueverhältnisses zu begeben.

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Paradies und das

Die Landtagswahl ist vorbei und halb Bayern (genauer: 51% der Bayern, 59,9% der Erlanger) wachte heute mit einem schwarzen Kater auf. Für 49% (resp. 40,1% der Erlanger) dagegen ist die Normalität wieder hergestellt, und eben jenes Paradies gerettet, als das der alte und neue Ministerpräsident sein Bundesland so eifrig ausgegeben hat in den letzten Wochen. Zur Abwechslung hat er zwischendurch auch gern mal vom „gelobten Land“ gesprochen.

Beim weiteren Nachdenken über die populäre Paradies-Metapher kamen mir allerdings ein paar Zweifel an der Idylle:

Erstens gibt es im Paradies (nebenbei: wer da regiert, ist ja Gott…) nach landläufiger Anschauung kaum etwas zu verbessern, wohl aber zu beschädigen. Das wissen wir ja schon aus der Bibel. Wer glaubt, dass er das Paradies regiert, wird also tunlichst dafür sorgen, dass alles beim Alten bleibt – ganz besonders natürlich die absolute Mehrheit der Staatspartei.

Zweitens muss man das Paradies ständig gegen Bedrohungen von außen schützen: Die Autobahnen vor den Holländern und ihren Wohnwagen, das stabile Geld vor den undisziplinierten PIGS-Staaten, die Selbstbestimmung Bayerns vor der regelwütigen EU, die klammen Sozialkassen vor jeder Art von Flüchtlingen und Zuwanderern, den ausgeglichenen Haushalt vor den begehrlichen Saarländern, Bremern und Ossis (ok, am meisten hat uns bislang freilich das Desaster der Bayern-LB gekostet, aber daran waren ja die kriminellen Kärntner schuld!).

Im Grunde ist also erst einmal alles verdächtig, was sich unseren Grenzen nähert – es würde den paradiesischen Zuständen des Mia San Mia aller Wahrscheinlichkeit nach bloß schaden. Und wer im Inneren vom Baum der Erkenntnis nascht, könnte auch Schwierigkeiten bekommen.

Es werden also 5 interessante Jahre im „Paradies“.

 

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Parker Palmer, der Papst und die Wahrheit über die Wahrheit

 

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Wenn in unserer pluralistischen Gesellschaft nach der Wahrheit gefragt wird, dann machen nicht alle Christen dabei eine gute Figur. Die einen scheinen sich gar nicht mehr zu trauen, von Wahrheit zu reden, die anderen tun es in einer monopolisierenden Art, die vielen verständlicherweise plump, überheblich oder intolerant erscheint. Aber es gibt zum Glück auch gute Beispiele, und um die geht es mir:

Papst Franziskus hat diese Woche in einem offenen Brief an Nichtglaubende einen interessanten Satz geschrieben, in dem er sich vorsichtig distanziert von einer bestimmten Art und Weise, Wahrheitsansprüche zu stellen, vor allem „absolute“. Dabei war es ja sein unmittelbarer Vorgänger, der jeglichen „Relativismus“ mit großem Eifer bekämpfte. Er schreibt

Sie fragen mich auch, ob es ein Irrtum oder eine Sünde sei zu glauben, dass es keine absolute Wahrheit gebe. Ich würde zunächst auch für einen Glaubenden nicht von ,absoluter‘ Wahrheit sprechen – für den Christen ist die Wahrheit die Liebe Gottes zu uns in Jesus Christus, also eine Beziehung! Und jeder von uns geht von sich selbst aus, wenn er die Wahrheit aufnimmt und ausdrückt: von seiner Geschichte, Kultur, seiner Lage usw. Das heißt nicht, dass Wahrheit subjektiv oder veränderlich wäre, im Gegenteil. Aber sie gibt sich uns immer nur als Weg und als Leben.

Ganz ähnlich äußert sich auch Parker Palmer in To Know as We Are Known: A Spirituality of Education: Education as a Spiritual Journey im Blick auf das moderne Verständnis „objektiver“ Wahrheit – im Grunde sind die Attribute austauschbar, sie stehen für dieselbe Abstraktion: einer „Wahrheit“ im Sinne eines reinen „Sachverhalts“, also unter Absehung von den beteiligten Personen und deren Beziehung zu einander. Palmer beschreibt die Folgen dieses Denkens sehr treffend:

Christen haben zu oft in einer Weise davon geredet „Jesus zu kennen“, die zu einem von zwei Extremen neigt. Entweder „kennt“ der Glaubende Jesus so, dass es ihn der Aufgabe enthebt, noch irgendetwas anderes zu kennen (sei es Physik oder Psychologie oder englische Literatur), oder der Glaubende packt seine „Kenntnis“ von Jesus in eine Schublade, auf der „religiös“ steht, und betreibt andere Formen des Wissens, als bestünde keine Verbindung dazu. Wenn Christen Jesus auf diese Art „kennen“, ist es recht und billig, dass andere ihre „Wahrheit“ zurückweisen, weil sie entweder irrelevant für das übrige Leben ist oder die Art von prinzipieller Ignoranz hervorbringt, die schon so viel Böses verursacht hat.

Über Wahrheit als personale Beziehung, als Weg und als Leben muss man anders reden als über Fakten und Feststellungen, die – einmal korrekt erfasst – keinerlei Interaktion mit ihrem „Gegenstand“ mehr bedarf und den Wissenden nur insofern verändern, dass dieses Wissen ihn überlegen macht. Wer sich auf eine Beziehung zu Christus einlässt, der ist damit zugleich auch in die Gemeinschaft mit allen Menschen und der gesamten Schöpfung gestellt und damit verpflichtet, sich dieser Wahrheit seiner Mitgeschöpfe auch auszusetzen. Die biblische Geschichte ersetzt weder das Studium der Wissenschaft noch das Hören auf die Poesie, sie bereitet uns vielmehr – richtig verstanden – darauf vor, das Gespräch mit beiden in der größtmöglichen Offenheit zu führen und ganz neue Zugänge zu finden.

Ich glaube, der Quäker Parker Palmer und der Katholik Franziskus würden sich prächtig verstehen.

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Spruch des Tages (27)

I never meant to say that the Conservatives are generally stupid. I meant to say that stupid people are generally Conservative. I believe that is so obviously and universally admitted a principle that I hardly think any gentleman will deny it.

― John Stuart Mill (1806-1873)

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Unreine Gedanken

Neulich habe ich John D. Caputos Selbstvorstellung gelesen und bin dabei auf eine interessante Formulierung gestoßen:

John D. Caputo is a hybrid philosopher/theologian intent on producing impure thoughts, thoughts which circulate between philosophy and theology, short-circuits which deny fixed and rigorous boundaries between philosophy and theology.

Als Grenzgänger zwischen zwei Disziplinen, in diesem Fall Theologie und postmoderner Philosophie, vermischt er die Perspektiven und produziert „unreine“ Gedanken, die in beiden Lagern Anstoß erregen. Vermutlich ist das Beharren auf „Reinheit“ unter manchen Theologen deutlich stärker ausgeprägt als in der Philosophenszene.

Freilich sind es immer die Ränder, die Schnittstellen, und die offenen Türen von denen her frischer Wind in die stickigen Stuben weht.

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Lebendige Nasen

In den letzten Tagen habe ich mich mit der biblischen Urgeschichte befasst und dazu einige Schöpfungsmythen aus der Umwelt des Judentums angeschaut. Diesen Absatz aus der ägyptischen Lehre für Merikare fand ich besonders originell formuliert:

Wohlversorgt sind die Menschen, das Kleinvieh Gottes,

Ihretwegen erschuf er Himmel und Erde

Er drängte die Gier des Wassers zurück

und schuf die Luft, damit ihre Nasen leben

(gefunden in: Walter Klaiber, Schöpfung. Urgeschichte und Gegenwart)

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Weisheit der Woche: Nicht bei sich selbst zu Hause

»Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein«, schrieb Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft. Dem müsste man heute hinzufügen: es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Darin zeigt sich etwas an von dem schwierigen Verhältnis, in dem der Einzelne zu seinem Eigentum sich befindet, solange er überhaupt noch etwas besitzt. Die Kunst bestünde darin, in Evidenz zu halten und auszudrücken, dass das Privateigentum einem nicht mehr gehört, in dem Sinn, dass die Fülle der Konsumgüter potentiell so groß geworden ist, dass kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern; dass man aber dennoch Eigentum haben muss, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortbestand des Besitzverhältnisses zugute kommt.

Theodor Adorno

Künftig gilt: … Wer etwas kauft, soll es nicht festhalten wollen. Und wer die Dinge dieser Welt benutzt, soll gut auf sie verzichten können.

Paulus, 1.Kor 7, 29-31

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