Immer schon hat es mich in den Wald gezogen. Grünkraft habe ich gespürt noch lange, bevor ich den Begriff der Hildegard von Bingen kannte. Wenn die Geräusche der Stadt und der Straßen in die Ferne rücken, nur noch die Vögel singen und der Wind rauscht, kommen mir die besten Gedanken. Und manchmal lehne ich mich ganz still an eine der großen Eichen oder Buchen und schließe die Augen. Ich gehe betrübt hinein und komme getröstet heraus. Oder besser: ich ging.
Dieses Jahr funktioniert das nicht mehr so richtig. Ich komme meist mit schwerem Herzen aus dem Wald zurück.
Im Herbst konnte man schon sehen, dass die Dürre ihren Tribut gefordert hat. Im Winter warfen ein paar Tage stürmisches Wetter hundert Jahre alte Fichten einfach um. Die Wurzeln konnten sie nicht mehr im Boden halten. Ein paar hundert Meter von unserem Haus klafft seither ein Loch im Wald, das größer ist als ein Fußballplatz. Als nach dem Winter wieder alles Grün wurde, war das auch längst nicht mehr alles. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so viele kranke und tote Bäume gesehen zu haben. Überall in der Region: Die Erlanger ereiferten sich im Frühjahr über die kranken Bäume an den Kellern. Und ganz Zabo redete sich die Köpfe heiß über den mächtig ramponierten Siedlerwald.
Der Waldzustandsbericht sollte doch besser wieder in „Waldschadensbericht“ umbenannt werden. In der aktuellsten Fassung sind die Schäden der letzten Monate noch gar nicht verzeichnet. Aber schon im vergangenen Jahr waren nur 28% der Waldbäume frei von sichtbaren Schäden, im Zeit-Bericht aus Thüringen lese ich von aktuell 19%. Buchen und Eschen sterben von den vertrockneten Wurzeln her.
Die Fieberkurve auf der Website von Robin Wood wird weiter ansteigen. Die Folgen liegen auf der Hand: „Je labiler die Wälder werden, desto geringer ist auch ihr Beitrag, die Klimaerwärmung zu begrenzen.“ Es geht ja nicht um ein bisschen grüne Kulisse zum Relaxen.
Geh aus mein Herz und suche Freud – das fällt schwer im Sommer 2019. Die reine Freude ist es nur noch sehr punktuell.
Ich gehe trotzdem in den Wald und denke an Joana Macys Active Hope. Dort spricht sie davon, dass auch der Schmerz über die Zerstörung einen Raum bekommen muss (Martin Horstmann hat das hier zusammengefasst). Es gibt die Verbindung zu unseren Mitgeschöpfen nicht nur über Empfindungen wie Schönheit, Freude und Dankbarkeit, sondern auch darüber, dem Schaden ins Auge zu sehen und den Kummer mitfühlend auszuhalten. Ohne dieses Aushalten gibt es keine rechte Transformation.
Und dann gehen mir biblische Aussagen über Bäume durch den Kopf: Die stolzen Zedern des Libanon, die „Bäume der Gerechtigkeit“. Wenn Gott seinen Geist ausgießt, sagt Jesaja, dann wird Wüste zu Ackerland und Ackerland zum Wald. Was für ein Upgrade der Botanik: Ein Wald, der jubelt und Bäume auf dem Feld, die in die Hände klatschen.
Aber das liegt in der Zukunft. Stoff für einen neuen Blogeintrag vielleicht. Und für Hoffnungsbilder, die ich dem neuen Waldsterben entgegenhalte, um die schmerzliche Gegenwart aushalten zu können.
Es gibt theologische (und andere) Debatten, bei denen man sich verkämpfen kann. Ob es der Ausschluss der Frauen vom Priesteramt ist oder der (öffentlich sanfter formulierter, hinter verschlossenen Türen häufig unverblümte) Ausschluss gleichgeschlechtlich Liebender, es haben sich vielfach Fronten gebildet, die einen hohen Grad von Verhärtung aufweisen. Dass die theologische Auseinandersetzung dann zuweilen auch noch über Facebook und Twitter stattfindet, macht es nicht einfacher. Man beißt auf Granit. Wie Flüchtlingshelfer oder Fahrradfahrer in der CSU.
Warum bist du noch dabei, werde ich immer häufiger gefragt. Ich stammle dann etwas von Nostalgie und Biografie. Aber eigentlich denke ich ganz böse: Wir Geduldigen sind Komplizen.
Oder jemand aus dem Hauptvorstand der Evangelischen Allianz (ähnlich wie die Bischofskonferenz ein Gremium, das nicht durch Wahlen von der Basis, sondern Berufung von oben bzw. von innen heraus konstituiert wird) sagt etwas Nachdenklich-Selbstkritisches über Homophobie. Laut genug, um den loyalen Dissident*innen einen Funken Hoffnung zu geben, leise genug, um das System nicht in Aufruhr zu versetzen. Das Beschwichtigungsritual ist erprobt und bewährt.
Was könnte man mit der Energie, die da seit vielen Jahren schon verloren geht, nicht alles positiv bewegen? Gerade wenn man Kirche von ihrer Sendung her denkt, kann man sich mit diesen Selbstblockaden schwerlich abfinden. Jesus weist seine Jünger an, den Staub von den Füßen zu schütteln, wenn sie mit ihrer Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft in der Dorfgemeinschaft auf taube Ohren stoßen. Eine radikale, schroffe Geste.
Aber sie deutet etwas Wichtiges an. Weitergehen alleine reicht nämlich nicht, wenn ich dabei die alten Frontstellungen verinnerliche und mitnehme. Auch nicht in der treuen oder reflexhaften Negation – wie Jan Fleischhauers Abschiedsworte auf Spiegel Online diese Woche schön zeigen:
Mir bleibt einstweilen nur, mich bei meinen Lesern zu bedanken: bei denen, die mich geschätzt haben, und bei denen, die mich hassten. Sie haben mir über all die Jahre die Treue gehalten.
Der „Shitstorm“ gehört bei ihm ja zum Geschäftsmodell. Er dient als Beweis der Ignoranz und Intoleranz seiner Kritiker. Daher zählt Fleischhauer auch genüsslich die Millionen Klicks auf, die seine Beiträge erzielten. Man kann ihn lesen und sich verstanden fühlen oder sich ärgern. Brücken der Verständigung, Bewegung im Diskurs entstehen dabei allerdings kaum. Es geht nicht genug weiter. Die Blockade bleibt – im Kopf.
Gesucht: fruchtbare statt furchtbare Debatten
Vielleicht liegt es daran, dass ich gerade „Digital Minimalism“ von Cal Newport lese: Solche Debatten mit hohem Erregungsgrad haben ein gewisses Suchtpotenzial. Man kann auch als Repräsentant der Minderheitenmeinung eine Menge Aufmerksamkeit und Zuspruch bekommen. Fleischhauer zeigte das bisher als Konservativer im Spiegel-Milieu, andere eben vor dem Hintergrund des römischen Klerikalismus oder im Lager der „Evangelikaner“ (um mal eine ausgesprochen passende Wortschöpfung des ZDF zu verwenden).
Vor einiger Zeit rief mich ein Redakteur eines stramm konservativ christlichen Blattes an und schlug mir vor, meine Position zu einer damals gerade aktuellen Kontroverse dort darzulegen. Ich entschied mich dagegen. Weder wollte ich als liberales Feigenblatt fungieren, noch anderen einen Anlass geben, ihre ewig gleichen Gegenpositionen erneut breitzutreten. Ich war an einen Punkt gekommen, wo ich meine Energie und Lebenszeit nicht mehr in solche Debatten mit hoher Aussicht auf Erregung, aber geringer Aussicht auf Ertrag investieren wollte. Es war eine gute Entscheidung. Als ich vor ein paar Wochen Frank Rieger auf der re;publica über Fragen von Desinformation und Cyberwar zuhörte, blieb mir diese Schlussfolgerung im Gedächtnis: „Vielleicht liegt die Zukunft in (halb)geschlossenen Benutzergruppen mit freundlichen, vertrauenswürdigen Menschen“. Andere Baustelle, ähnliche Strategie.
Weniger Erregung und Kontroverse bedeutet auch erst einmal weniger Aufmerksamkeit und Dringlichkeit. Auch das kann ein Grund sein, mich aus solchen Debatten nicht zu verabschieden und wenn schon nicht Menschen, dann doch Prämissen und Positionen die Treue zu halten, die ich ablehne.
Noch eine Analogie: In der hitzigen Phase der Flüchtlingsdebatte habe ich einige CSU-Mitglieder erlebt, die unter großen inneren Schmerzen aus ihrer Partei ausgetreten sind, weil ihnen ihre christliche Überzeugung wichtiger war. Auch sie haben ein Stück Heimat aufgegeben. Dabei hätte das Konzept „Bleiben und Verändern“ in einer demokratisch strukturierten Partei ja noch eher Aussicht auf Erfolg als in jenen kirchlichen Institutionen, die von weitgehend geschlossenen Zirkeln geführt werden. Ich fand es trotzdem richtig und konsequent. Und wenn Markus Söder momentan spürbar milder daherkommt als noch vor Monaten, dann liegt das auch am Mut dieser Ehemaligen.
Hier kommt die Frage:
Ist am Ende nicht das Bleiben, sondern das Verlassen der Schritt, der nicht nur den eigenen Seelenfrieden rettet, sondern auch den entscheidenden Impuls zum Wandel der Institution setzt? Also nicht nur ein Akt der Selbstfürsorge, sondern auch der Nächstenliebe? Wir kommen ja alle aus einer spirituellen Tradition, die mit dem Ruf beginnt, die Heimat zu verlassen und dem unsichtbaren Gott zu folgen. Die Frage sollte, biblisch gesprochen nicht sein, mit wem ich die Vergangenheit geteilt habe. Sondern mit wem ich die Zukunft teilen will.
Wann dieser Punkt erreicht ist, das kann nur jede(r) selbst entscheiden. Thomas Wystrach gehört seit 2009 der altkatholischen Kirche an. Er beschreibt das Dilemma derer, die in der katholischen Kirche etwas verändern wollen, mehr als er es kommentiert.
Ich habe hier vor vier Jahren einen Abschiedsgruß an die evangelikale Bewegung geschrieben, in der ich eine Weile zu Gast war. Freundliche Kontakte gibt es nach wie vor, aber im Moment kann ich mir eine Mitarbeit in der Evangelischen Allianz nicht vorstellen. Und am postevangelikalen Gespräch habe ich auch nicht mehr groß teilgenommen. Das hat Disziplin gekostet. Aber wenn man sich auf Fragestellungen wie „Erlaubt die Bibel homosexuelle Beziehungen?“ einlässt, hat man schon verloren. Die Frage ist nicht, was die Bibel „erlaubt“, sondern wie wir heute mit der geschlechtlichen Vielfalt unter uns umgehen und wer dabei über wen bestimmen darf. Dazu würde ich dann auch gern wieder die Bibel ins Spiel bringen.
Die Kirche, in der ich arbeite, hat ihre Schwächen und Fehler. Außer dem faktisch sakrosankten Kirchsteuer- und Beamtenwesen (schade, aber verschmerzbar) gibt es freilich kaum Tabus. Dafür einen halbwegs anständigen Binnenpluralismus. Sie hat eine synodale, demokratisch legitimierte Struktur. Und sie hat sich mit einer recht unabhängigen wissenschaftlichen Theologie genug Läuse in den Pelz gesetzt, um nicht intellektuell träge und selbstzufrieden zu werden. Das sind für mich ausreichende Voraussetzungen für eine Beheimatung.
Keine Zeit mehr zu verschenken
Wir stehen gerade vor gewaltigen Aufgaben. Wenige Jahre bleiben uns noch, unsere Gesellschaften so umzubauen, um der ganz großen Klimakatastrophe zu entgehen. Die Welt gerät an so vielen Stellen aus den Fugen – politisch, sozial, religiös. Was tragen wir Christen zur Lösung dieser Fragen bei? Möchte ich da meine Zeit mit Leuten verplempern, die immer noch meinen, das Höllenfeuer sei schlimmer? Oder die auf dem Islam herumhacken? Die das Patriarchat als Gottes unumstößlichen Schöpferwillen ausgeben? Mit denen werde ich hin und wieder reden, aber nicht auf ihrem Turf und nicht zu ihren Prämissen.
Diesen Staub kann ich an meinen Füßen gerade nicht brauchen.
Und doch kommen wir heute auch in den Wissenschaften nicht ohne solche erzählerischen Kniffe zur Veranschaulichung aus: 13,7 Milliarden (Universum) oder 4,7 Milliarden Jahre (Erde) sind einfach eine zu gewaltige Zahl. Die meisten Menschen können sich das nicht vorstellen. Also rechnen wir es aus pädagogischen Gründen herunter: Auf ein Jahr, einen Tag oder auch nur 12 Stunden. Je nach gewählter Vergleichsgröße erscheinen wir Menschen in den letzten paar Minuten oder Sekunden(bruchteilen).
Übrigens reden auch wir erst seit 150 Jahren von „Milliarden“. Diese Zahlenangabe verbreitete sich im Deutschen erst 1870/71 im Kontext von Kriegsentschädigungen. Sollte man vor den jüdischen Priestern also nicht den Hut ziehen für diese didaktische Leistung? Bei allem, was wir an Komplexität und Detailwissen inzwischen dazugewonnen haben, kommen wir ohne solche Übertragungen in überschaubare, vorstellbare Zeiträume noch immer nicht aus.
Sich dafür zu entschuldigen wäre fast genauso daneben, wie darauf zu beharren, es seien buchstäblich sieben 24-Stunden-Tage gewesen (was auch immer der Begriff „Tag“ meint, wenn es noch keine Himmelskörper gibt).
Mitten in der Offenbarung des Johannes erscheint eine namenlose Frauengestalt, die unter Gefahren ein Kind zu Welt bringt und schließlich vor dem Drachen fliehen muss, der dort wütet. Es ist eine surreale Szene. Der Drache speit ihr einen Wasserschwall hinterher, aber dann schluckt die Erde das Wasser einfach weg und rettet so die Frau.
Der Fotograf Adrien Taylor schreibt: „I was blown away by the beauty of the Bangladeshi people — both in their character and appearance. Bangladesh faces losing 18% of its land, displacing thirty million people, with one metre sea-level rise.“Adrien Taylor
Dagegen steht der Drache für alles, was aktuell unter „toxischer Männlichkeit“ thematisiert wird: Aggression, Ausbeutung, Dominanz, Dogmatismus, Unterwerfung. Der Drache erbricht eine Flut von Hass gegen die Frau. Ich finde, es trifft die Situation hier und heute wirklich gut, wenn man betrachtet, wie junge Frauen wie Greta Thunberg von den Alpha-Fachmännern entweder mundtot gemacht oder gleich mit Vernichtung bedroht werden. Auf der re;publica wurde letzte Woche in vielen Foren diskutiert, wie diese Flut zu stoppen wäre.
Es sind sicher nicht ausschließlich Männer, die das betreiben, aber eben vorwiegend. Und die Wurzeln der Klimakatastrophe liegen in einer typisch „männlichen“ Lebensweise, die Fleischverzehr und Verbrennungsmotoren für identitätsstiftend hält. Das haben ja auch Ulrich Brand und Markus Wissen in „Imperiale Lebensweise“ deutlich gemacht. Diese Lebenseinstellung hinterlässt überall verbrannte Erde. Und Eltern, die mit ihren Kindern vor steigendem Meeresspiegel und sich stetig verschärfenden Naturkatastrophen fliehen müssen.
Die Allianz zwischen der Frau und der Erde ist ein schönes Bild für eine solidarische Lebenweise – das Gegenstück zum imperialen Modus der Existenz.
Wenn wir also heute als Christ*innen und Kirchen fragen, wo unser Platz in diesen Auseinandersetzungen ist, dann legt uns diese Vision nahe, ihn an der Seite all der Frauen (und Kinder) zu finden, die den Großteil der Kosten für die imperiale Lebensweise tragen. Und an der Seite der Erde, die sich gegen den patriarchalen Kapitalismus aufbäumt.
Solche Bündnisse gilt es zu schmieden und zu stärken, zum Beispiel beim Earth Day, der 2020 zum 50. Mal stattfindet. Überall, wo Männerbünde in Politik, Wirtschaft und Kirche dominieren, ist – um Himmels willen – Wachsamkeit und Widerstand angesagt.
Am vergangenen Sonntag habe ich mir (wie viele andere auch) Gedanken über Jesus als guten Hirten gemacht – und was das für den Umgang mit Macht und Verantwortung in den Kirchen und Gemeinden heute bedeutet.
Am Ende habe ich alle meine Vorüberlegungen von letzter Woche in den Wind geschlagen und einen ganz anderen Weg der Auslegung gewählt.
Wer sich fragt, ob es gelungen ist, oder einfach Lust hat, es sich in Ruhe anzuhören, kann hier klicken und sich seinen Reim drauf machen:
Ich habe hier schon eine ganze Weile nichts mehr zur Klimathematik geschrieben, weil es genug gute und wichtige Beiträge anderswo gibt. In den letzten Tagen hat es mich aber doch wieder gepackt. Die Widersprüche sind es, um es genau zu sagen.
Bittere Wahrheit
Bento glänzt nicht mit intellektuellem Anspruch, aber Fridays for Future erscheint immerhin in der Menüzeile. Auf den Zug ist man offenbar aufgesprungen. Nun hat sich Helene Flachsenberg dort über den CO2-Rechner des Bundesumweltamtes beschwert, weil der ihr eine schlechte Klimabilanz erstellt hat. Der Grund: Ein Langstreckenflug nach New York. Damit hat sie alles, was sie im Alltag eingespart hat, mit einer einzigen Reise wieder in die Luft gepustet.
Dass ich zu meinem Geburtstag etwas Besonderes erleben wollte, und dann auch noch in die USA, diese Hochburg von Industrialisierung und Kapitalismus reiste, erscheint mir auf einmal grenzenlos egoistisch. Wie die größtmögliche Frechheit, die ich unserem Planeten antun konnte.
So klagt die Autorin über das schlechte Gewissen, dass ihr „gemacht“ wird. Und eine Art Sündenbock findet sie auch, nämlich RWE mit seinen Kohlekraftwerken. Überhaupt, die Konzerne und das irre Märchen vom nachhaltigen Konsum…
Vielleicht hätte sie, bevor sie in die Tasten griff, doch besser Felix Ekards feinen Text auf Zeit Online lesen sollen. Wie übel Langstreckenflüge (freilich Fliegen überhaupt) zu Buche schlagen, ist ja wirklich keine Neuigkeit. Da reißt man quasi mit dem Hintern wieder ein, was man mit den Händen an CO2-Einsparungen aufgebaut hat:
Selbst wer regional und bio einkauft, in einem gedämmten Mehrfamilienhaus wohnt und jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, der liegt, sobald ein, zwei Flugreisen in ferne Länder dazukommen, weit über dem deutschen Durchschnitt von elf Tonnen pro Kopf und Jahr.
Der CO2-Rechner ist einfach nur ein Spiegel. Flachsenberg gefällt schlicht das Bild nicht, das sie darin abgibt: Ein bisschen wie der Frust, wenn das große Stück Sahnetorte die Diät und die Joggingrunde zur Makulatur macht – und man plötzlich auf die perfiden Tricks der Bäckerinnung oder der Hersteller von Personenwaagen schimpfen würde.
Glaubwürdigkeit ist gefragt
Natürlich ist und bleibt es eine politische Aufgabe, die Energie- und Verkehrswende voranzutreiben. Aber das entbindet uns als einzelne doch nicht von der Verantwortung für unsere Gewohnheiten. Auch nicht im Urlaub. Im Grunde müssen wir alle jetzt schon anfangen, so zu leben und zu reisen, dass es so klimaverträglich wie irgend möglich ist. Und an einen Punkt kommen, wo es für uns in Ordnung ist, dass uns der Verzicht schmerzt (und wir es aushalten, statt auf RWE zu schimpfen). Umso mehr, als man täglich in den sozialen Medien Freunde und Bekannte sieht, die hier- und dorthin zu ihren Sehnsuchtsorten jetten und im nächsten Moment wieder Zitate von Greta Thunberg liken, ohne sich dabei viel zu denken.
Vielleicht sollte, wer künftig als Tourist in ein Flugzeug steigt – egal wohin – eine Schamfrist einhalten, bevor sie/er wieder Greta-Zitate und grüne Slogans postet. Vierzig Tage Glaubwürdigkeitsfasten wären ganz ok. Für einen Interkontinentalflug vielleicht drei Monate. Nicht aus fremdinduzierter Scham, wie Flachsenberg insinuiert, sondern um ein so wichtiges Anliegen nicht durch die eigene Doppelbödigkeit in Misskredit zu bringen.
Dazu meine nächste, wirklich ernst gemeinte Frage: Sollten wir als Pfarrkollegien und Gemeindegruppen künftig noch nach Israel, in die USA oder auf FreshX-Tagungen in Nordengland fliegen? Oder rechtfertigen Begegnung, ökumenisches Lernen und Kulturaustausch die Wunden, die das Reisen schlägt?
Reisen wie zu Omas Zeiten?
Ich habe nachgesehen, wie lange ein Bahnfahrt von Erlangen nach London dauert: Sie ist in unter acht Stunden möglich. Mit dem Flugzeug kann man das (CheckIn, Wartezeiten und die Transfers von und zum Flughafen eingerechnet) in etwas mehr als der Hälfte der Zeit schaffen. Für Glasgow oder Dublin (Ziele, die für mich interessant sind) erweitert sich die Reisezeit entsprechend um weitere 5 bis 8 Stunden. Also nichts für einen Kurztrip übers Wochenende.
Andererseits ist der Gedanke an Wochendendausflüge über tausend Kilometer und mehr ein relativ junges Phänomen: Als ich mit 16 das erste Mal nach England reiste, kam Fliegen nicht in Frage. Abgehalten hat es uns damals nicht. Dahin heißt es nun zurückzukehren. Ich lerne so manches von meinen Kindern. An diesem Punkt können wir die Lernrichtung zwischen den Generationen vielleicht mal umkehren: Nicht nur alte Gemüsesorten anbauen und essen, sondern auch Reisen wie die Großeltern damals in den Sechzigern. Statt immer gleich in die Luft zu gehen.
Ein Dienstag im September um kurz nach sieben am Morgen: Ich stehe auf einem Bahnsteig am Hauptbahnhof. Ein paar Strahlen der Morgensonne glitzern in den Tränen, die mir herunterlaufen. „Hoffentlich spricht mir jetzt niemand an und fragt, was mir fehlt“, denke ich, als ich dem ausfahrenden EuroCity nachblicke. Drinnen sitzt mein Sohn, der vermutlich auch einen Kloß im Hals hat. Der Zug bringt ihn nach Frankfurt und von dort fliegt er nach Japan. Neuntausend Kilometer weit weg. Ein Jahr lang werden wir einander jetzt nicht mehr direkt in die Augen schauen oder in den Arm nehmen. Ich senke den Blick und gehe die Treppe Richtung Ausgang hinunter.
So ist das, wenn Kinder flügge werden. Es ist großartig und es ist schrecklich. Du bist stolz und es bricht dir das Herz. Wenn sie dann wiederkommen, sind sie gewachsen: Stärker, unabhängiger, selbstsicherer. Sie setzen sich ein Weilchen auf den Nestrand, dann fliegen sie wieder los.
Aber es beginnt alles mit dem Loslassen.
Flügge werden
Die Konfirmation ist einer der ersten Schritte in die Selbständigkeit für Euch wie für Eure Familien. Irgendwann folgt der Schulabschluss, der Auszug von zuhause, das erste selbstverdiente Geld, oder die Gründung einer neuen, „eigenen“ Familie. Zwischendrin ist die eine oder andere Schrecksekunde oder Schramme zu überstehen. Bruchlandungen gehören schließlich auch zum Erwachsenwerden. Aber das wisst Ihr ja schon, seit Ihr Laufen und Radfahren könnt.
Es ist gut, dass das Flüggewerden im Glauben den anderen Schritten in die Erwachsenenwelt vorangeht. Wegen der Schrammen und Schrecksekunden einerseits. Und auf der anderen Seite, weil das Euch den Mut zum Absprung geben kann. Denn es ist keine ungefährliche Welt, in die Ihr Euch aufmacht.
Dass diese Welt nicht nur schön, sondern auch schrecklich ist, hat mit uns Älteren zu tun. Wir – die Generationen vor Euch – haben es nicht geschafft (und oft auch gar nicht ernsthaft genug versucht), sie für Euch in einen guten Zustand zu bringen. Wenn der Begriff „Erbsünde“ heute irgendeine Bedeutung hat, dann vielleicht die: Dieser Planet hat Fieber, und es wird gerade ziemlich schnell schlimmer. Hass und Gewalt, Armut und Ungerechtigkeit machen vielen Menschen das Leben zur Hölle (freilich ist Nürnberg im Vergleich zu Aleppo oder Kabul eine Art Insel der Seligen. Aber die meisten haben inzwischen verstanden, dass das mit den Inseln nicht mehr funktioniert). Und wir sind allesamt verletzlich und verführbar. Allzu leicht lassen wir uns mitreißen von der Angst und der Gier anderer.
Wer garantiert also, dass Ihr das besser macht? Und wenn es keine Garantie dafür gibt, solltet Ihr es überhaupt versuchen – oder doch besser gleich die Hände in den Schoß legen, Euch ins Unvermeidliche fügen und all den Lindners und Poschardts Recht geben, die gerade in jeder Talkshow erzählen, dass Ihr auch nicht besser seid als sie?
Kraftvolle Erinnerung
Vor über 2.500 Jahren gab es eine in vieler Hinsicht ähnliche Situation. Das Volk Israel befand sich im babylonischen Exil. Die ältere Generation, allen voran der König, hatte sich im Polit-Poker verzockt. Jerusalem wurde zerstört, die Menschen wurden verschleppt in den heutigen Irak. Der Tempel, das sichtbare Zeichen für Gottes Nähe, war ein Trümmerhaufen. Mitten in dem Schlamassel wuchs eine neue Generation auf. Bürger zweiter Klasse, ohne Perspektive, an einem gottverlassenen Ort.
Aber dann spricht Gott. Durch einen Propheten, eine Stimme der Hoffnung. Mitten in der totalen Sackgasse. Das sind seine Worte:
Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber«? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden. Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Die Adler, die am Himmel ihre Kreise ziehen, sind so ein Sehnsuchtsbild, das auch uns abgebrühte Menschen des digitalen Zeitalters in den Bann schlägt. Ein Jahr nach meinem Bahnsteig-Erlebnis waren meine Frau und ich ein paar Tage an der Westküste Schottlands. Fast jeden Abend saßen wir auf einer Klippe gut hundert Meter über dem Atlantischen Ozean. Meine Frau suchte das Wasser nach Walen ab. Ich war weniger geduldig und lief umher. Und dabei sah ich sie: Ein Seeadler-Paar ließ sich vom Wind mühelos weit in die Höhe tragen, um kurz darauf pfeilschnell herabzustoßen und dann wieder fast ohne Flügelschlag zu steigen und zu steigen, bis ich sie aus den Augen verlor. Ein paar Minuten waren sie in der Nähe, dann zog es sie zurück zu ihrem Nistplatz.
„Die Adler kommen!“ Wer den Herrn der Ringe und/oder den Hobbit gelesen bzw. gesehen hat, erinnert sich an diesen Ausruf. Wenn die Adler kommen, wendet sich das Blatt zum Guten. Immer. Die Adler sind in Tolkiens Märchen die Himmelsboten. Aber Jesaja sagt uns: „Ihr müsst nicht auf die Adler warten. Ihr könnt selber welche werden. Wartet auf Gott!“
Was uns müde macht
Sehen wir uns kurz das Gegenbild zu den Adlern an: Müde Krieger. Erschöpfte Kerle. Das vermeintlich „starke Geschlecht“ am Ende seiner Kräfte. Die, die nie zugeben würden, dass sie nicht mehr können, können nicht mehr – ob sie es zugeben oder nicht. Die große Müdigkeit hat sie befallen.
Wer Euch bei der Konfifreizeit oder der Kirchenübernachtung erlebt hat, könnte meinen, dass Müdigkeit und Erschöpfung so ziemlich das Letzte sind, über das Ihr Euch Gedanken machen müsstet. Aber so einfach ist es nicht. Das liegt an der Welt und der Zeit, in der wir leben.
Vor ein paar Jahren schrieb ein Philosoph aus Berlin, Byung Chul Han, ein kleines Buch mit dem Titel „Müdigkeitsgesellschaft“. Was uns heute – oder viele von uns, früher oder später – so müde macht, ist nicht Armut oder äußere Unfreiheit, sondern das Gegenteil, sagt er: Ein „Zuviel“ an positiven Dingen macht krank. Anders krank als früher, als es der Mangel war oder die Infektion von außen. Heute kommen die Störungen von Innen – Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität sind Zustände, gegen die man nicht impfen kann. Und wer in der Leistungsgesellschaft nicht mehr können kann, wird depressiv. Dazu muss man nicht erst alt werden.
Immer mehr, immer weiter?
Die Leistungsgesellschaft ist längst auch ein Freizeitphänomen. Ich habe ja gestern davon erzählt, dass viele meiner Freunde irgendwann Marathon laufen wollten. Marathon reicht inzwischen vielen nicht mehr. Jetzt muss es schon ein Triathlon sein. Denn warum nur Laufen, wenn man auch noch Schwimmen und Radfahren kann dazu? Wie viel kann ich aus mir herausholen? Wie weit lässt sich die Grenze des Möglichen dehnen? Der Überfluss an Möglichkeiten und Angeboten erzeugt erst den Schaffensdruck. Der wächst sich aus zur Erschöpfungsdepression, neudeutsch: Burnout. Aus Hyperaktivität wird Hyperpassivität. Einigen meiner Freunde ist das so ergangen. Es hat ihren (und meinen) Glauben auf eine harte Probe gestellt, dass Gott und alles Gute und Schöne für ihn sie diesen Momenten gefühlt Lichtjahre weit weg war.
Niemand von uns sollte meinen, dass so etwas nur den denen passiert, die nicht clever oder cool genug sind. Es kann jeden treffen. Denn im Gegensatz zu Gott sind wir Menschen endliche Wesen. Diese Wahrheit hat in der Leistungsgesellschaft, die liebend gern „yes we can“ ruft, kaum einen Platz.
Paradoxerweise wachsen die Flügel des Glaubens in dem Moment, wo wir uns bewusst machen, dass wir nicht Gott sind und es auch nicht werden müssen. Wo wir uns mit unserer Endlichkeit anfreunden, weil uns der unendliche und unermüdliche Gott so geschaffen hat. Wo wir um Kraft bitten und sie uns schenken lassen, statt wie die Duracell-Hasen ohne Unterbrechung zu rödeln. „Der Exzess der Leistungssteigerung führt zum Infarkt der Seele“, schreibt Herr Han. Da hilft dann auch kein Energy Drink mehr.
Vom Gas gehen
Glaube ist keine Steigerung, sondern eine heilsame Unterbrechung. Die Fähigkeit, zu zögern und sich zu unterbrechen, unterscheidet den Menschen vom Roboter. Das wird in der Welt, in die ihr gerade hineinwachst – der künstlichen Intelligenz, selbstfahrenden Autos und was nicht alles – ein lebenswichtiger Unterschied werden. Der Sabbat und der Sonntag erinnern uns daran, dass wir solche Unterbrechungen brauchen. Und zwar nicht, um etwas zu leisten, zu produzieren oder zu konsumieren. Sondern um wieder leer zu werden von dem, was uns sonst pausenlos besetzt.
„Die auf den Herrn harren“ – was für ein altertümliches Wort! Das „Harren“, von dem hier die Rede ist, ist eine Art konzentriertes Warten. Also Ausharren und Stillhalten können, nicht auf jeden Reiz anspringen, sich nicht dauernd ablenken zu lassen. Aber auch: Nichts liefern zu müssen, um Likes und Follower zu ernten, oder Euren Wert bestätigt zu bekommen. Frei werden von dem Druck, den wir uns selbst schon machen noch längst bevor andere es tun.
Auch hier geht es ums Loslassen: Ansprüche, Erwartungen, Ungeduld, Angst…
Dafür ist Gott euer Komplize und Ihr könnt seine Komplizen sein. Das heimische Nest zu verlassen, ist einfach. In dieser verrückten Welt nicht die Hoffnung und die Lebensenergie zu verlieren, nicht einfach von ihren Kräften und Strömungen mitgerissen zu werden, ist eine gewaltige Herausforderung. Statt zu fliegen, kommt man schnell auf dem Zahnfleisch daher.
… und plötzlich fliegst du!
Menschen sind paradoxe Sehnsuchtswesen. Wir sind endlich und vergänglich, aber auf etwas Unvergängliches und Unendliches hin angelegt. Ich glaube, diese Sehnsucht, über uns hinauszuwachsen, hat Gott in uns hineingeschaffen:
Die Sehnsucht nach Erlösung und Heilung der Welt, die so eindrücklich im Zentrum eures Vorstellungsgottesdienstes stand.
Die Sehnsucht, liebevoll angesehen werden und mich zeigen zu können, wie ich bin.
Die Sehnsucht, etwas beizutragen zu dieser Welt, das wirkt und bleibt; für etwas leben zu können, das größer ist als ich selbst.
Gestern habe ich vom Atem Gottes gesprochen, von Heiligen Geist. Er ist der Wind unter Euren Adlerflügeln. Interessanterweise haben die ersten Christen am ersten Pfingsten genau das getan, bevor Sturm und Feuer, Mut und Begeisterung ausbrachen: Warten, ausharren, und dabei durchlässig und empfänglich werden.
Gottes Geist – die Kraft, die Jesus von den Toten auferweckt hat – ist ein Vorgeschmack auf die Neuschöpfung dieser kaputten Welt. Ich muss als Christ nicht „alles aus mir herausholen“. Ich kann etwas Größerem in mir Raum geben. Nur so wachse ich über mich hinaus, ohne dabei innerlich hohl zu werden.
Das letzte Jahr war die Übungsrunde – jetzt fliegt ihr selber. Wie die Adler – von der Erde, aber nah am Himmel. Gottes Atem in Euch und Sein Wind unter Euren Flügeln.
Und all die Grenzen, die am Boden gezogen werden – Mauern – Stacheldrähte – Checkpoints (sozial – politisch – ethnisch – religiös/konfessionell), werden in ihrer Kleinlichkeit und Vergänglichkeit sichtbar.
Das ist der Sinn und Nutzen von Kirche und Gottesdiensten, darum brauchen wir einander: Einander immer wieder daran zu erinnern, dass wir zum Fliegen geschaffen sind. Und dass wir es mit Gottes Hilfe und in seiner Kraft auch können. Hier könnt Ihr immer landen. Und immer wieder losfliegen.
Zehn Jahre auf dem kontemplativen Weg liegen hinter mir. Ich frage mich hin und wieder, ob ich ohne die Entdeckungen, die ich dabei gemacht habe, heute überhaupt glauben könnte – geschweige denn Pfarrer sein. Verschiedentlich habe ich hier über Erfahrungen geschrieben. Vieles hat sich vertieft und gefestigt, also versuche ich heute eine Zwischenbilanz. Und am Ende versteht Ihr vielleicht, was das mit dem Fliegen und dem Hosenboden auf sich hat.
Wie beim Labyrinth: weniger verwirrend, als es auf den ersten Blick scheintAshley Batz
Die äußeren Stationen
sind schnell erzählt und wer mag, kann sie überspringen. Angeregt von Stans Möhringer, der Beauftragten für Meditation im Dekanat Erlangen habe ich mich 2009 zu den Jesuiten nach St. Andrä in Kärnten gewagt zu Wanderexerzitien. Da ist man den größten Teil des Tages in Bewegung, während man schweigt, und anders hätte ich den Einstieg wohl auch kaum geschafft. 2012 habe ich dann zehn Tage im oberfränkischen Gries verbracht, 2014 auf Straßenexerzitien in München, 2015 und wieder in den letzten Tagen dann war ich im Haus HohenEichen in Dresden-Hosterwitz.
Immer bei Jesuiten. Und immer gern, weil ich das theologische Niveau und das weite, gastfreundliche ökumenische Herz der Verantwortlichen so schätze.
Behutsam mit mir selbst
Auf dem kontemplativen Weg lerne ich, die vielen Gedanken, die mir durch den Kopf rasen, immer wieder unaufgeregt ziehen zu lassen und nicht ins Grübeln zu geraten. Wir reden ja gelegentlich vom „Kopfzerbrechen“, aber viele Dinge und Angelegenheiten sind das gar nicht wert. Stattdessen rauben sie mir die Kraft für das, was wirklich wichtig ist.
Die Indifferenz gegenüber den Gedanken macht mich aufmerksam auf Gefühle und Stimmungen. Im Wald von HohenEichen lagen diesmal viele umgestürzte Bäume. Ich bin der Ursache dafür (Dürre, Sturm…) gedanklich nicht groß nachgegangen. Das führt in der Regel weg aus dem Hier und Jetzt in andere Zeiten oder andere Orte. Aber ich habe die Traurigkeit bemerkt, die der Anblick bei mir auslöst. Und im Betrachten, im Gewärtig-Sein der Traurigkeit zogen einige traurige Erlebnisse aus letzter Zeit vorbei. Nach einer Weile löste sich die Trauer und erschien auch nicht wieder. Beim nächsten Waldspaziergang standen andere Eindrücke und Stimmungen im Vordergrund. Das Schauen ging allmählich ins Lauschen über – auf eine andere Präsenz, die alles berührt und wandelt, was sich in mir regt. Rilke hat das in seinem Stundenbuch wunderschön ausgedrückt, ich habe es früher schon einmal zitiert:
Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Bildnis fasst, der drängt die Lärmenden aus dem Palast wird anders festlich, und du bist der Gast den er an sanften Abenden empfängt.
Sehen, was ist
Angesichts der »Widersinne« könnte statt Versöhnung auch Streit entstehen. Dann nämlich, wenn ich dem Reflex nachgebe, sofort zu werten und zu entscheiden: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Ich übe nun, erst einmal aus- und innezuhalten. Zu sehen, was ist. Und zu warten, was wird. Ich denke, das kann auch eine Lektion aus dem Gleichnis Jesu vom Unkraut unter dem Weizen sein: Erst einmal warten und genau hinsehen, nicht schon gleich loshasten und alles ausreißen, was ich für Unkraut halte. Wieviel Schaden entsteht aus diesem Übereifer, alles sofort zurechtzustutzen, was mich gerade stört! Und wieviele Überzeugungen, die ich mit großem Ernst und Leidenschaft vertreten habe, habe ich inzwischen wieder ad acta gelegt? Was zeigt sich, wenn ich still halte? Was steckt zum Beispiel noch alles in der Wut, die irgendwer oder irgendwas bei mir auslöst? Und wie ändert sich das, wenn ich mir die Zeit dafür gebe, noch etwas länger hinzusehen?
Mit Gleichgültigkeit hat das freilich nichts zu tun. Das Buzzword Ambiguitätstoleranz macht derzeit die Runde. Vielleicht ist es gut, daran zu erinnern, dass diese Offenheit für den Widersinn vor allem eine innere Haltung ist, die man üben kann und kultivieren muss. Also nicht in erster Linie ein intellektuelles Konzept, das man zur Kenntnis nimmt und das sich so eben mal einfordern oder anknipsen lässt. Natürlich kann man nicht alles immer offen und unentschieden lassen. Aber wenn Überzeugungen reifen dürfen, tragen sie vielleicht auch länger und weiter.
Momentan werde ich oft gefragt, wie es mir nach einem guten halben Jahr auf der neuen Stelle geht. Das kann zum Vergleich verleiten: War es früher besser? Oder wäre ich vielleicht anderswo besser aufgehoben? Beim vorletzten Aufenthalt in HohenEichen habe ich über die Geschichte von Maria und Martha meditiert und den Satz Jesu: »Maria hat das gute Teil erwählt«. Jesus sagt nicht »besser«, er wählt nicht den Komparativ. Und ich stelle für mich fest, es geht gut. Hier und jetzt. Das reicht völlig aus für die nächste Zeit.
Warten, was wird
Der kontemplative Weg wird für mich von biblischen Worten und Bildern gesäumt. Zum Beispiel, dass Gott mir den Tisch deckt im Angesicht meiner Feinde – Menschen und Situationen, die mir zusetzen. „Lade sie doch ein“, lautete die überraschende Antwort meines geistlichen Begleiters in einem solchen Moment. Das hat gut funktioniert. Ich muss gar nicht kämpfen. Und sagt nicht Ex 14,14 – »Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein« – quasi dasselbe? Mit diesem Wort begannen vor 14 Tagen die Exerzitien in HohenEichen.
Manchmal kehren in der Stille alte Themen und Fragestellungen zurück. Anfangs fand ich das irritierend. Nun merke ich mehr und mehr, dass es sich wie in einer Spirale verhält: Die Beschäftigung mit den Dingen findet auf einer anderen Ebene statt. Andere Sichtweisen und Lösungen werden damit möglich.
Oft ist Kontemplation ein Ausharren. Treu dabei zu bleiben, wenn Druck von außen und innen spürbar ist. Immer wieder das wandernde oder leidende Herz zurückzuholen. Aber das allein wäre zu wenig. Es ist ein erwartungsvolles »Harren« auf den einen, lebendigen Gott. Und als solches steht es, gerade in schwierigen Zeiten, unter einer großen Verheißung:
… die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Jesaja 40,31
Atemzüge und Flügelschläge
Es ist ein bisschen paradox. Ich sitze mit vollem Bodenkontakt in der Gegenwart und Wirklichkeit. Und dann schwingt sich mein Herz ganz unvermutet auf. Es lässt sich fast mühelos bis zu einem Punkt tragen, von dem aus sich meine Situation wie Puzzleteile ordnen und zusammenfügen lässt. Das hat nichts mit Überheblichkeit und Überlegenheit zu tun. Aber viel mit Ehrfurcht und Dankbarkeit. Jeder aufmerksame Atemzug ist wie ein Schlag mit geschenkten Flügeln eines Adlers, der im warmen Aufwind seine Kreise zieht.
Zurück zum Anfang: Die Redewendung „Fly by the seat of your pants“ bedeutet im Englischen so etwas Ähnliches wie „sich Hals über Kopf in ein Abenteuer stürzen“. Von außen betrachtet sieht der kontemplative Weg recht undramatisch aus. Innerlich ist das freilich eine ganz andere Sache – das wussten schon die Wüstenväter. Und wenn ich ab und zu erzähle, dann merke ich, wie allein schon der Gedanke an Stille bei manchen Unbehagen auslöst. Oder diese Mischung aus Faszination und flauem Magen, die bei mir am Anfang stand.
Es kann wundersam beflügelnd sein, sich auf den Hosenboden zu setzen.
Der Unterschied zwischen der politischen Theologie von Jürgen Moltmann, Dorothee Sölle, Johann Baptist Metz u.a. und einer (neu)rechten politischen Theologie, die wieder bei Carl Schmitt anknüpft, liegt in der Differenz zwischen apokalyptischer und eschatologischer Orientierung:
Apokalyptiker sehnen den Endkampf zwischen Gut und Böse herbei. Eschatologiker hingegen sind von einer Theologie der Hoffnung erfüllt. Sie arbeiten nicht an der Apokalypse, sie verstehen sich vielmehr als geduldige Mitarbeiter am kommenden Reich Gottes.
Was das Motiv vom „Endkampf“ bewirkt, hat sich am Freitag in Christchurch gezeigt. Trotzdem ist das mit den Begriffen, die Schieder hier benutzt, so eine Sache. Wir haben es ja durchaus mit verschiedenen Apokalypsen zu tun: Die rechte Apokalypse ist der angebliche Verrat der globalen Eliten an Volk und Nation. Das rechtfertigt den Ausnahmezustand, fördert eine identitäre „Resakralisierung des Politischen“ und dient als „Radikalisierungsmanual“, erklärt Schieder. Sein Gegenmodell des „Eschatologischen“ trifft sicher auch auf die oben genannten Protagonisten zu, die politische Theologie in den Siebzigern sozial- und institutionenkritisch betrieben.
Fingierte und reale Apokalypsen
Ich bin trotzdem nicht ganz zufrieden mit dieser Differenzierung. Zumindest nicht im Blick auf die Gegenwart. Denn da reden wir ja nicht nur vom rassisch-völkischen Wahn und seinen halluzinierten Abendlandsapokalypsen, sondern von mess- und in groben Zügen auch berechenbaren Apokalypsen, die uns ins Haus stehen – wenn wir nicht gegen die Klimakatastrophe unternehmen, die schon längst im Gang ist. Wo buchstäblich die Elemente der Welt aufbegehren gegen menschliche Gier und politische Verantwortungslosigkeit. Hier ist Geduld ein problematischer Begriff, weil die Zeit tatsächlich drängt. Ungeduldige Beharrlichkeit ist da schon eher angesagt.
Politisch-kulturelle Veränderungen lassen sich umkehren, und viele arbeiten daran ja mit großem Eifer und in unterschiedlichen Richtungen. Sind ökologische Kipppunkte aber erst einmal überschritten, kommt jegliches Umdenken zu spät. Ulrich Beck bezeichnete das kurz vor seinem Tod in Die Metamorphose der Welt schon einmal mit dem Wort „Katastrophismus“. Damit verband er die Hoffnung, es könne ein emanzipatorischer Katastrophismus werden. Ob sie sich erfüllt, ist noch nicht entschieden.
„Die Frage stellt sich, ob mit dem Auftauchen und der Beschreibung des Attraktors des Terrestrischen politisches Handeln wieder sinnhaft und richtungsweisend werden kann – und so der Katastrophe zuvorkommt.“
Bruno Latour
Hier nehmen wir diesen Faden von Latour und Beck auf: Con:Fusion 2019
Ausnahmezustände
Entsprechend ist die auch Botschaft der Jugendlichen von Fridays for Future, die (verhältnismäßig junge) Politiker wie Christian Lindner oder Paul Ziemiak und ihre herablassenden Sprüche festgefahren und fossil aussehen lässt, eine Botschaft des Ausnahmezustands. Symbolisch wird das Thema Ausnahme an der Schulpflicht durchgespielt. Vor allem aber werden drastische Schritte eingefordert, um einen noch drastischeren Verlauf der schon im Gang befindlichen Katastrophe noch abzuwenden. Freilich mündet das, anders als bei Carl Schmitt und seinen neurechten Wiedergängern, nicht in den Ruf nach dem starken (und natürlich weißen) Mann. Der hat die Katastrophe mit seiner imperialen Lebensweise ja überhaupt erst herbeigeführt.
Haben sich Forscher, Volksvertreter und Aktivisten beim Klimawandel eher vornehm im Entdramatisieren geübt, während von Rechts Gefahren ebenso unablässig wie hemmungslos beschworen und dramatisiert werden? Viele waren besorgt, nicht zu radikal zu wirken. Die Auto-, Kohle- und Agrarlobby konnte ihr Wunschpersonal derweil in den einschlägigen Ministerien platzieren. Aber nun besteht die Hoffnung, dass der Widerstand lauter, breiter und entschlossener werden könnte.
Dem Schlamassel ins Auge blicken
Schieders Unterscheidung eschatologisch/apokalyptisch trifft also im Zeitalter der Verstockung auf die Frage nach dem „Woher“ zu. Sie greift aber noch zu kurz im Blick auf das „Wohin“. Da liegt noch Arbeit vor uns. Inspirierend erscheint mir etwa diese Analyse von Wolfgang Palaver. Von René Girard angeregt schreibt er über Wege, einer rechten Politik der Angst beizukommen. Er verweist auf eine Spiritualität, die Menschen dezentriert und damit Toleranz fördert, und einem „reiterativen Universalismus“, der Gott auf vielfältige Weise am Werk sieht in der Welt. Das lässt sich mit der Klima-Thematik gut verbinden.
Vielleicht möchten einige von Euch diesen Faden aufnehmen und weiterspinnen. Im September haben wir von Emergent Deutschland aus Con:Fusion 2019 geplant. Als kleinen Beitrag zur großen Aufgabe. Wir brauchen ja nicht nur eine neue Theorie, sondern wir müssen einander Mut machen. Und wir brauchen auch einen spirituellen Ort, wo Klage laut werden darf, Abstumpfung geheilt wird, so dass schließlich wieder Neues gedeihen kann.
Nicht nur in der Politik, auch in der politischen Theologie stehen wir vor neuen Aufgaben.
Was Worte doch alles ausrichten: Gute Worte richten auf und machen Mut, geben Energie und sind der Beginn einer wunderbaren Freundschaft: Liebeserklärungen, Komplimente, Aufmunterungen, oder gar Visionen wie die des Mose von Milch und Honig oder Martin Luther Kings Traum. Böse Worte zerstören Beziehungen, Vertrauen, Selbstwertgefühl, sie können uns sogar den Lebensmut rauben, wenn wir sie verinnerlichen.
Dass durch Worte etwas wird, was noch nicht war, das verbindet uns Menschen mit Gott. In der biblischen Schöpfungsgeschichte spricht Gott, und etwas wird, und Gott sieht dann, dass es gut ist. Am Anfang was das Wort: Er ruft die Welt und uns ins Leben. Jeder einzelne Mensch ist gewissermaßen so ein Wort Gottes. „Menschen“, hat Edward Schillebeeckx einmal gesagt, „sind die Worte, in denen Gott seine Geschichte erzählt.“
Ist ein Wort erst einmal in der Welt, dann führt es ein Eigenleben. Seit wir es aufschreiben und mitschneiden können, kann uns unser Wort vorauseilen. Es überlebt sogar unseren Tod. Es wandert durch die Welt der Gedanken und Gespräche und verändert sich dabei. Manchmal erkennen wir dann nicht wieder, was wir gesagt haben sollen. Auch da geht es Gott wie uns: Vieles von dem, was er meint, kommt gar nicht an oder eben ziemlich verzerrt. Seine Worte auf zwei Beinen gehen eigene Wege.
„Rede, dass ich dich sehe“, hat Sokrates einmal gesagt. Was sich im Innersten einer Person verbirgt, das kann nur die Person selbst sagen. Auch das gilt für Gott und Menschen gleichermaßen. Gott läuft durch den Garten und ruft „Adam, wo bist du?“. Er braucht weder Brille noch Fernglas. Aber Adam will sich nicht zeigen, sich nicht erklären, also schweigt er erst einmal.
Manche unserer Probleme mit einander entstehen daraus, dass wir uns im Schweigen verstecken. Sich zu offenbaren heißt, sich verwundbar zu machen. Andere können meine Aussage über mich selbst verdrehen, verspotten oder verreißen. Dann überlege ich mir ganz genau, was ich von mir preisgebe. Manchen Zeitgenossen steht ja quasi auf die Stirn geschrieben: „Alles, was sie sagen, kann gegen sie verwendet werden“.
Den vielen unzuverlässigen Worten dieser Welt setzt Gott das eine entgegen. Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, schreibt der Evangelist Johannes. Es bringt Gnade und Wahrheit in die Welt. Gott erlaubt uns, tief in sein Herz zu blicken. Sünden können bekannt werden, weil die Vergebung gewiss ist und die Verurteilung nicht mehr zur Debatte steht.
In der Bergpredigt lehrt uns das Wort, wie wir mit unseren Worten umgehen sollen:
Redet nicht abfällig. Die Gewalt der Worte ist an sich schon Gewalt und oft auch noch der Auslöser für die Gewalt der Füße und Fäuste. Wer andere beschimpft, disst, verletzt und niedermacht, ob auf Twitter, ins Gesicht oder hinter ihrem Rücken, der steht im Widerspruch zu Gott. Konkretes Verhalten kann und muss man sehr wohl kritisieren, Jesus tut das ja auch. Aber die Würde der Person muss erhalten bleiben und die Tür zur Veränderung und Versöhnung offen.
Das ist viel verlangt, und Jesus setzt noch eins drauf: „Richtet nicht!“ Schreibt keinen Menschen ab, schließt keinen aus der Gemeinschaft aus. Du wirst an deinen eigenen Worte gemessen werden. Also entscheide dich jetzt für Barmherzigkeit oder für Härte. Was du über andere sagst, fällt auf dich zurück. Deine Worte kehren zurück und zerren dich vor Gericht.
Ein bisschen sind wir alle beschädigt durch das, was wir und andere gesagt haben. Manche brauchen viel Zeit und noch mehr Gespräche, um sich davon zu lösen, was ihnen unter die Haut gegangen ist.
Sprich nur ein Wort – das klingt wie das biblische Pendant zu dem Song von „Wir sind Helden“. Ein römischer Hauptmann bittet den jüdischen Heiler um Hilfe für seinen Diener. Und weil er die Macht der Worte kennt, reicht ihm ein Satz von Jesus. Du musst nicht zu mir nach Hause kommen. Gib mir bitte nur ein Wort.
Er bekommt es. Und ein Lob von Jesus obendrauf. So gut hatte das noch niemand verstanden mit den heilenden Worten.
Lutheraner sind unter den Kirchen der Ökumene nicht als große Asketen bekannt. Andere mögen heftig fasten und büßen, wir scheuen eher den Verdacht der Werkgerechtigkeit oder den Vorwurf einer zur Schau gestellten Frömmigkeit. Und verzichten ganz demütig (freilich keineswegs demonstrativ!) aufs Verzichten.
Wobei – nicht ganz. Denn vor allem, wenn Altar und Kanzel lila tragen, während der Advents- und Passionszeit, verzichten wir auf das österlich-frivole Halleluja. Und das ist – überschwänglich und ausgelassen wie wir nun mal sind – wirklich verdammt hart für den gewöhnlichen Lutheraner, sich den Jubel über Wochen hinweg zu verkneifen.
Wir wissen eben, was wirklich weh tut: Dieses kleine Wort zu verschweigen.
Aber nicht nur uns selbst gegenüber sind wir streng, sondern auch gegenüber Gott. Der ist ja der Adressat des entfallenden Halleluja. Ich frage mich manchmal, wie es ihm damit geht, dass wir auch mit auf seine Kosten fasten. Oder ob er sich still und heimlich ein bisschen amüsiert über unsere beeindruckende Enthaltsamkeit?
Eine unregelmäßig wiederkehrende Situation in meinem Alltag ist das Geräusch des Martinshorns auf der Straße oder des Rettungshubschraubers im Anflug auf die Klinik. Eine dieser Unterbrechungen, die Anlass geben zum Gebet. Was hätten die alten Iren gesagt? Mein Stoßgebet fällt so aus:
Himmlischer Tröster und Beistand! Blaulicht und Sirene ziehen vorüber Rotoren schlagen gegen den Himmel.
Retter kämpfen um ein Leben, die Zeit drängt jeder Griff muss sitzen.
Schenke klare Köpfe, beherztes Anpacken, freie Bahn und Rettungsgassen.
Lass uns – Gaffer, Weggucker und Irritierte – unsere Verwundbarkeit spüren und sachte weitergehen.
Jemand weint. Jemand hat Angst. Jemand leidet Schmerzen. Kyrie eleison.
Wir Stadtmenschen erhaschen nur ganz selten einen ungetrübten Blick auf den Nachthimmel. Im Hochgebirge, an der Küste und abseits der modernen Zivilisation gibt es das eher noch so wie in der Welt, in der Jesus lebte: Der Himmel ist klarer zu sehen. Und man hat, wenn man ohne Strom und Internet die Nacht nicht zum Tag macht, auch mehr Zeit, sich damit zu befassen. In Bethlehem, auf fast 800m Höhe und meist in trockener, klarer Wüstenluft muss der Anblick des Himmels für unsere Verhältnisse spektakulär gewesen sein.
Für die Menschen im Altertum war ganz selbstverständlich: Zwischen Himmel und Erde existiert ein Zusammenhang. Was oben passiert, hat mit dem zu tun, was unten passiert. Alles steht in Verbindung, alles kommuniziert. Das müssen wir heute erst wieder entdecken, dass die Atmosphäre (der „erste Himmel“) und die Erdoberfläche nicht Rohstoff oder Kulisse ist, sondern dass es Wechselwirkungen hin und her gibt (Simon de Vries schrieb diese Woche über Bruno Latour und sein Terrestrisches Manifest, in dem das eine große Rolle spielt).
Die Weisen (Mt 2,1-12) waren Sterndeuter, keine Esoteriker, sondern Intellektuelle der damaligen Zeit, die nicht unterschied zwischen Astronomie und Astrologie. Wir unterschieden das heute zu Recht. Außer Mond und Sonne haben die Himmelskörper keinen erkennbaren Einfluss auf das private und öffentliche Leben. Horoskope sind Humbug. Den Himmel sehen wir trotzdem gern an – ich komme später darauf zurück.
Sterne spielten anders als heute auch in der Politik eine Rolle. Im Jahr 44 v. Chr., kurz nach der Ermordung Cäsars, stand Berichten zufolge ein Komet am Taghimmel über Rom. Das Volk glaubte damals, Cäsar sei aufgenommen worden unter die Götter. Augustus sah es als günstiges Zeichen über die Spiele, die er zu der Zeit als Nachfolger und Erbe Cäsars abhalten ließ. Der Historiker Plinius kommentiert: „ …in seinem Innern aber war er mit Freude davon überzeugt, dass der Stern für ihn aufgegangen sei, und dass er mit ihm aufgehe – und zwar, wenn wir die Wahrheit sagen wollen, zum Heile der Welt.“ Ein Stern, ein Heilsbringer, eine neue Zeit.
Aber nun, vierzig Jahre später, strahlt ein neuer Stern am Himmel. Weise machen sich auf den Weg – aus Persien oder dem Zweistromland – und kommen nach Jerusalem. Und wir erleben ein Drama mit vertauschten Rollen: Die Heiden haben lange vor Herodes und seinen Leuten kapiert, dass der Messias geboren wird.
Das jedoch wäre das letzte, was Herodes brauchen kann. Der hat weder einen Stern gesehen, noch Besuch von einem Engel bekommen, und wohl auch von ganz anderen Dingen geträumt: Prunkbauten, die seinen Namen tragen eventuell…
Herodes erwartet von dem kommenden Messias alles das, was er selber tun würde und worin er geübt war: einen blutigen Machtkampf. Im Übrigen hat er keine Ahnung vom voraussichtlichen Geburtsort des Messias. Er hält sich selbst für den Messias – oder möchte zumindest so gesehen werden. Dafür hat er den Tempel in Jerusalem prunkvoll erneuert, schöner und größer als je zuvor. Und nun herrscht er von Gottes – und mindestens so sehr von Augustus’ – Gnaden in Jerusalem. Mit harter Hand.
Daher der Schrecken. Wir wissen, was folgt: Blutvergießen im großen Stil.
Geschichte wiederholt sich
Herodes ist in dieser Erzählung des Matthäus der Schurke. Die größte Gefahr droht dem Messias also aus den eigenen Reihen. So weit ist es mit Israel gekommen.
Aber vielleicht ist das ja öfter der Fall: Den schlimmsten Schaden haben unserem Land die Nationalsozialisten zugefügt. Nicht die Russen, Franzosen oder Amerikaner.
Den schlimmsten Schaden haben den Kirchen nicht die Christenverfolgungen zugefügt, sondern machtgierige, prunksüchtige Kirchenfürsten, kontrollwütige Kleriker, verlogene und selbstgerechte Fromme.
Hier steht nun der wahre König der Juden gegen den falschen. Und der wahre Heilsbringer für den Erdkreis gegen den falschen. All die Geschichten, die jetzt noch folgen, werden das entfalten.
Dieser Messias „gehört“ nicht seinem Volk und auch keinem anderen. Er ist größer als der Gegensatz zwischen Juden und Heiden und die Konflikte, die daraus folgen. Er gehört auch nicht den christlichen Kirchen. Er ist niemandes Besitz. Wenn, dann verhält es sich genau umgekehrt. Wieviel darf er von mir haben, von uns, von dieser Welt?
Nochmal von vorn
Herodes tritt hier in die Fußstapfen des Pharao aus dem Buch Exodus. Auch der ließ um des Machterhalts willen kleine Jungs umbringen. Und Jesus ist der neue Moses, der dem Gemetzel entgeht, der in der Wüste verschwindet und als Prophet zurückkommt, um sein Volk in die Freiheit zu führen.
In Jesus nimmt Gott die Geschichte Israels auf, er rekapituliert sie und führt sie seinem großen Ziel entgegen. Die Weisen sind ein Hinweis darauf, dass wir uns dieses Ziel nicht zu klein vorstellen dürfen.
Wahre Weisheit
Herodes ist also nicht das Vorbild in dieser Geschichte, die Weisen sind es. Sie machen eine ganze Menge richtig. Das zum Beispiel:
Sie suchen Gott (bzw. den Messias / die Wahrheit) um seiner selbst willen, ohne ihn für sich vereinnahmen zu wollen.
Sie hören auf ihre jüdischen Kollegen, die Schriftgelehrten und führen (so würden wir das heute sagen) ein respektvolles, fruchtbares interreligiöses Gespräch.
Sie bringen Geschenke, ohne sie mit Erwartungen zu verbinden. Ein Neugeborenes hat ohnehin nichts, was es zurückgeben könnte.
Sie denken nicht nur analytisch, sondern sie stehen auch in gutem Kontakt mit ihrem Inneren. So können sie aus Träumen die richtigen Schlüsse ziehen. Sie lassen Jerusalem und Herodes links liegen und gefährden das Kind nicht.
Wir haben heute keinen Stern am physischen Himmel, der uns hilft bei der Suche nach Gott. Aber wir haben unsere Sehnsucht als Kompass. Es könnte sich lohnen, ihr zu folgen. Sehnsucht nach dem Wahren, Schönen und Guten (für die Intellektuellen und Ästheten), nach Frieden und Gerechtigkeit (für die Aktivisten), nach der Heilung der Welt (für die Leidenden und Mitfühlenden) kann uns auf die richtige Spur bringen.
Und weil auch uns Aufgeklärte mit all der Naturwissenschaft im Hinterkopf der Blick zu den Sternen, wenn sie mal wieder gut zu sehen sind, an diese Sehnsucht erinnert, sollten wir uns den Nachthimmel, so oft es geht, gönnen. Und uns von Gott ergreifen lassen.
Das Jahr mit den größten Veränderungen seit langer Zeit ist zu Ende. Viele haben gefragt, wie es so geht. Ganz gut soweit eigentlich. Ich versuche einfach mal einen kurzen Abriss für alle, die mehr Details möchten:
Der Examenstunnel
Die erste Hälfte verlief eher anstrengend. Das zweite Examen überschattete alles ein bisschen. Insgesamt lief es ganz okay, ich war wegen einiger privater Sorgen allerdings reichlich zerstreut. Die eigentliche Prüfung lag für mich (und für viele der Kolleg*innen) darin, es auszuhalten, von Leuten bewertet zu werden, die nicht allesamt den souveränsten Eindruck machten. Kurz: Ich war froh, als alles vorbei war. Ein paar Tage nach der letzten Prüfung ging ich eine Runde spazieren und hatte dabei das Gefühl, wieder ein paar Zentimeter gewachsen zu sein. Schon seltsam, wie der Körper auf all das reagiert.
Naturgemäß waren Prüfungsstress, Prüfungsfrust oder Prüfungsangst immer wieder ein Thema im Kollegenkreis. Und wenn das Stichwort „Examen“ fällt, erzählen auch nicht akut Betroffene – die Älteren. Dabei hat mich erstaunt, wie nachhaltig belastend solche Prüfungen offenbar sind, und wie sehr das bei ganz vielen Jahrzehnte später noch sehr präsent ist. Da handeln wir uns Probleme ein, indem wir das staatliche Prüfungswesen zum Vorbild nehmen. Der Staat aber möchte – im Unterschied zur Kirche, wo das häufig beschworen wird – von seinen Vertreter*innen nicht geliebt werden. Insofern kann er sich das leisten.
Der Abschied
Es folgten Wochen des Abschieds. ELIA-Gottesdienste, Teamsitzungen, Gemeindeversammlungen, auf denen schon Dinge verhandelt wurden, die ich nicht mehr miterleben werde. Das letzte Mal predigen, die letzte Seminarreihe, alles bekam ein anderes Gewicht und eine besondere Stimmung. Im Juli fand dann das große Abschiedsfest statt. Menschen und Erinnerungen aus 25 Jahren kamen zusammen; mehr gute Worte, als ich in so kurzer Zeit richtig aufnehmen konnte. Ich brauchte erst wieder ein paar Tage, um emotional Boden unter die Füße zu bekommen.
Und doch war es kein schwerer Abschied. Das lag im Wesentlichen daran, dass ich nie ins Zweifeln oder Grübeln kam, ob das der richtige Schritt zur richtigen Zeit war. Parallel wurde die Frage entschieden, wo ich ab September eingesetzt werde. Das waren noch ein paar spannende Wochen im Sommer. Und mit ein paar Verzögerungen hat sich auch die Nachfolge bei ELIA geklärt – im März kommt Martin Benz aus Basel/Lörrach mit seiner Familie, nicht nur für mich eine gute Nachricht.
Plötzlich Pfarrer…
Vier Monate sind inzwischen vergangen seit meinem Dienstantritt zum ersten September an der Auferstehungskirche in Zerzabelshof. Mitte September war die Ordination durch Regionalbischof Ark Nitsche zusammen mit drei Kolleg*innen im idyllischen Barthelesmaurach. Mein Freund Jason Clark war eigens aus London gekommen, das war ein ganz wunderbares Geschenk. Zwei Tage vor dem Termin starb mein Schwiegervater mit 83 Jahren und meine erste Amtshandlung nach der Ordination war dann auch, ihn zu beerdigen. Freude und Trauer waren nicht zu trennen.
Ein Platz bleibt leer…
Da es meine Stelle bisher gar nicht gab, gibt es in Zabo auch keine Dienstwohnung. Was bedeutet, dass ich von Erlangen aus pendele. Kenne ich schon, nur ist es noch ein bisschen weiter als zuletzt nach Sündersbühl. Ich versuche, das Auto möglichst stehen zu lassen und bin mit Öffentlichen und/oder Fahrrad unterwegs. Im Schnitt bleibt so etwa eine Stunde in jeder Richtung auf der Straße/Schiene liegen.
Es war natürlich auch kein zusätzliches Büro vorhanden. Meine Zelte vor Ort schlage ich nun im Jugendhaus „Arche“ auf. Da ist von Mittags bis halb vier überwiegend fröhlicher Kinderlärm um mich herum und es riecht nach Essen auf dem Flur – zuletzt Fisch. Schrank, Schreibtisch und Sofa stehen inzwischen, ein paar Bilder hängen an der Wand und das eingerostete WLAN tut es auch wieder. Es fühlt sich trotzdem noch etwas nach Camping an. Das hat auch mit der zeitlichen Befristung auf drei Jahre zu tun. Aber ich habe ja Erfahrung mit Provisorien und Unschärfen.
Die Gemeinde hat mich sehr freundlich aufgenommen. Schnell bekam ich Hilfsangebote für Konfirmandenarbeit und andere Projekte, etwa das Krippenspiel im Familiengottesdienst am Heiligabend. Hin und wieder spricht mich jemand auf der Straße oder beim Einkaufen an, der mein Bild im Gemeindebrief gesehen hat. Auch das ist für mich eine neue Erfahrung und eigentlich gar nicht großstadttypisch.
„Zabo ist ein ein Dorf“
Der Satz fällt oft im Gespräch mit Zaboranern. Er bedeutet je nach Kontext, dass man einander kennt, dass man Anteil nimmt und hilft, dass man gute oder auch schwierige Vorgeschichten miteinander hat. Und dass hier und da auch kräftig geratscht wird, oder Gerüchte sich in Windeseile verbreiten.
Im Zerzabelshofer Forst
Wer nach Zabo hinein möchte, muss entweder durch den Wald oder durch den Tunnel einer der vielen Bahnunterführungen. Das – die klaren Konturen und baulichen Barrieren – erklärt vielleicht auch, warum viele sagen, der Stadtteil sei „doch recht für sich“. Es gibt tatsächlich einen winzigen dörflichen Kern mit einer Handvoll alter Häuser. Darum herum gruppieren sich heute allerlei Geschäfte. Stilprägend sind jedoch die Genossenschaftsbauten aus den zwanziger Jahren. Die Straßennamen deuten das noch an: Heimgartenweg, Waldluststraße, Siedlerstraße. Dazu passen Restaurant- und Kneipennamen wie „Heidekrug“ oder „Sängerlust“. Mittendurch fließt der Goldbach, und seit der nasse Dezember die hartnäckige Dürre beendet hat, ist er auch wieder mehr als nur das kleine braune Rinnsal auf dem Foto.
Niedrigwasser im September
Ein paar Premieren
Zu den neuen Erfahrungen gehört das erste Clubspiel, das ich live miterlebte: Die Wasserschlacht gegen Leverkusen vom November. Immerhin unentschieden.
Oder die Waldweihnacht im Tiergarten am dritten Advent, mit echtem Schnee und echten Schafen um mich herum.
Es war Zeit, ein paar Radioandachten zu schreiben und aufzunehmen – in Nürnberg mit Christoph Lefherz und in München mit Melitta Müller-Hansen.
Auch ein Novum, freilich weniger erfreulich, war die Brandstiftung in der Auferstehungskirche nach dem dritten Advent, als ein Transparent, das wir in der 11-Uhr-Kirche zuvor aufgehängt hatten, von Unbekannten abgefackelt wurde. Zum Glück entstand kein größerer Schaden. Aber es war für alle ein Schreck und die Kirche bleibt tagsüber nun erst einmal geschlossen.
Der im Herbst neu gewählte Kirchenvorstand nimmt nun seine Arbeit auf und dann werden wir im neuen Jahr sehen, wohin die Gemeinde sich entwickelt und wie unternehmungslustig alle sind. Ich bin ganz zuversichtlich, dass ich etwas Sinnvolles dazu beitragen kann.
Im Vikariat habe ich meine Gitarre wieder öfter ausgepackt und bin auf den Geschmack gekommen. Meine bescheidenen Fertigkeiten möchte ich im neuen Jahr ein bisschen kultivieren. Seit vorgestern steht eine neue neben meinem Schreibtisch. Jetzt muss die Hornhaut auf den Fingerkuppen schnell zulegen.
Draußen böllert es immer lauter. Das neue Jahr ist nicht mehr weit. Wer weiß, was es in 365 Tagen zu erzählen gibt… Ich wünsche Euch allen Gottes Segen auf Schritt und Tritt.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.
Joh 1,14
Worte werden Fleisch
Das ist eine alltägliche Sache, im Großen wie im Kleinen.
Parolen, Polemik und Propaganda setzen Dinge – Ideen, Forderungen, Stimmungen – in die Welt. Sie bewegen Menschen, gehen ihnen schließlich in Fleisch und Blut über und führen ein Eigenleben. Dann folgen menschliche Köpfe, Hände und Füße einem Aufruf zum Streik, sie begehren auf, stimmen ab, randalieren. Und weil Propaganda immer ein problematisches Verhältnis zur Wirklichkeit hat, kommt dabei derzeit oft nichts Gutes heraus.
Aber auch Lieder und Liebeserklärungen „werden Fleisch“. Menschen fassen Vertrauen und versprechen sich einander. Sie bekommen Kinder, für die sie sorgen und die irgendwann ihre eigenen Liebeserklärungen wagen. Keine glückliche Beziehung ohne Gesten und Worte der Zuneigung. Keine soziale Bewegung ohne diesen Treibstoff.
Entscheidend ist, welches Wort genau Fleisch wird. Und wo. Und wozu.
Sagen, was wird
Das Wort, von dem hier die Rede ist, ist nicht irgendein Wort unter anderen. Es ist das Wort des schöpferischen Anfangs. Nicht so sehr eines zeitlichen Anfangs, der mit jedem Jahr in größere Ferne rückt, sondern der verlässliche, tragende Grund der Wirklichkeit.
Es ist keine „Information“, sondern ein Anruf – an die Sterne, das Meer und die Menschen: „Tretet ins Leben“ – „zeigt euch“. Und seither geschieht es, andauernd: Leben entsteht und erneuert sich. Beziehungen entstehen und entfalten sich. Geschöpfe antworten auf die An-Sprache Gottes, der sie beim Namen ruft, mit ihrer eigenen Stimme.
Das Wort, mit dem Gott sagt, was wird, ist also der Grund-Satz, der uns in die Wirklichkeit stellt und dort erdet. Vor aller Zwiespältigkeit, Verzerrung und Lüge, die es nun freilich auch gibt. Die Lüge aber ist eben deshalb ein Skandal, weil es Wahrheit gibt und weil Vertrauenkönnen für uns so wichtig ist.
Die Lüge sagt das, was nicht ist, so, als wäre es der Fall.
Sagen, was (nicht?) ist
„Sagen, was ist.“ Das Motto des Spiegel-Begründers Rudolf Augstein ist das Mantra des deutschen Journalismus. In der vergangenen Woche hat dieser ehrgeizige Anspruch auf Wahrhaftigkeit durch den Skandal über erfundene – erlogene! – Reportagen von Claus Relotius schwer gelitten. Eine Flut von Erklärungen, Kommentaren und Diskussionen war die Folge.
„In Sozialen Netzwerken und unwahrhaftigen Medien entstehen Debatten bar jeder Wahrhaftigkeit. Von Lügen angetrieben, lösen sie eine Welle der Empörung aus, die sich in tausenden Kommentaren und Wutausbrüchen Bahn bricht. Getreu der Regel, „Sagen, was ist.“ beziehungsweise „Nachricht oder keine Nachricht“ ist völlig klar, dass die falsche Information nicht berichtet wird, weil sie keine Nachricht ist. Allerdings ist die Empörung im Netz eine wahre Nachricht. So erschaffen Populisten Berichterstattung über Dinge, die nicht sind, indem sie eine Welle aus Wut erzeugen, die dann wahrhaft da ist und damit auch berichtet wird. […] Genau diesem Prinzip folgt die Strategie Donald Trumps. Er lügt und ist sich der Kritik seiner Lüge gewiss. Damit schafft er es, dass jeden Tag gesagt wird, was nicht ist.“
Skrupellose Widerworte und die vergeblichen Erwiderungen darauf. Gnade und Wahrheit verschüttet unter Lügen. Licht mitten in der Finsternis.
Kein Wunder, dass DAS Wort in eine Welt kommt, die nichts begreift, es nicht wahr- und aufnimmt. Es trifft ja nicht auf Stille des Anfangs, sondern auf ein Gewirr von Stimmen und Worten. Zu viele Lügen. Zuviel Misstrauen. Zuviel Resignation. Damals wie heute.
Übersetzt man Joh 1,14 wörtlich, dann steht da: „Das Wort wurde Fleisch und zeltete unter uns.“ Eine Anspielung auf den nomadischen, vagabundierenden Gott Israels, der mit seinem Volk umherzieht und sich in keinen Tempel einmauern lässt. Und auf den umherziehenden, mobilen Messias, der das Wandern in der Fremde wieder aufnimmt.
Ich wohne in einem Reihenhaus. Ein Bekannter hat einmal gesagt: Im Reihenhaus wohnst du wie auf dem Campingplatz. Und er hat Recht: Man bekommt alles mit: Bellende Hunde, Klavierstunden, Partys, den Qualm vom Grill, maulende Kinder und schimpfende Eltern. Das kann nerven, aber auch tröstlich sein. Eine Nachbarin sagte neulich zur anderen „Es hat mir so gut getan, zu hören, wie du dein Kind angeschrien hast“. Deswegen ist es ganz zutreffend, dass Eugene Peterson hier statt „zeltete unter uns“ übersetzt: „Das Wort wurde Fleisch und Blut und zog in die Nachbarschaft.“
Nachbarschaft. Ich halte diese Predigt ja zweimal, und zwar in benachbarten Gemeinden: Zabo und Mögeldorf. In Zabo hat es in der jüngeren Vergangenheit mächtig geknirscht. Neulich sagte ein Gemeindeglied traurig und ein bisschen beschämt: „Jetzt reden sogar die Mögeldorfer über uns“. Ich habe dann nur gesagt: „Mag sein. Aber ich könnte mir vorstellen, die Mögeldorfer sind vor allem froh, dass gerade nicht über sie geredet wird.“ So ist das eben unter Nachbarn. Mal hat die eine die Krise, mal der andere.
Man wird mit seinen Nachbarn häufig in einen Topf geworfen, nach dem Motto: „Mitgefangen, mitgehangen“: „Die Zaboraner zanken.“ „Die Mögeldorfer wollen immer das letzte Wort haben.“ Das kann ärgerlich sein oder lustig, und ab und zu auch gefährlich.
Gefährliche Nachbarschaften
Ich habe in diesem Jahr den Begriff der „gefährlichen Nachbarschaft“ gelernt. Da geht es um gesellschaftpolitische Fragen. Zum Beispiel so: Pegida kapert traditionelle Weihnachtslieder und gibt ihnen damit eine völkische, fremdenfeindliche Bedeutung. Es wird plötzlich schwerer, sie unbefangen zu singen, weil wir ja das genaue Gegenteil damit verbinden: Den menschenfreundlichen Gott, der alles nationale Pathos ins Leere laufen lässt. Aus ähnlich gegensätzlichen Motiven hängen Menschen seit diesem Jahr Kreuze auf (oder lassen es bleiben).
Aber es betrifft nicht nur religiöse Fragen: Die Feministin Antje Schrupp skizzierte vor einer Weile die äußerliche Nähe zwischen den Anstrengungen zur gesellschaftlichen Anerkennung unbezahlter (in der Regel weiblicher) Haus- und Pflegearbeit auf der einen Seite und einer Verklärung des hausfraulichen Apfelkuchenbackens à la Eva Herman auf der anderen. Die einen wollen Gleichbehandlung unterschiedlicher Tätigkeiten, die anderen patriarchale Geschlechterrollen festschreiben. Schrupp stellt fest, dass diese Nachbarschaft zu schwierigen Reflexen führen kann:
»Sagen sie „Heimat“, erklären wir das Wort für prinzipiell unbrauchbar. Kritisieren sie die „Systempresse“ müssen wir die Medien auf jeden Fall in Schutz nehmen. Jede Position, die Rechte vertreten, wird prinzipiell problematisch, weil man damit automatisch in den Verdacht gerät, ebenfalls rechts zu sein: Was, du backst gerne Apfelkuchen? Aber Eva Herman!!!«
Mir fällt ein Bekannter ein, der immer ausgesprochen progressiv (und im damaligen Sinne „links“) war. Dann hat er sich wie Thilo Sarrazin zum zornigen Islam- und Migrationskritiker mit repressiven Tendenzen gewandelt. Wir haben äußerlich immer noch einiges gemeinsam, trotzdem sind wir uns fremd geworden.
Ich könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen. Aber zurück zur Bibel:
In genau solche Nachbarschaften mit ihren Animositäten, Allergien und Vorurteilen begibt sich das Wort: Noch im selben Kapitel lesen wir, wie Nathanael fragt: „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?“ Damit beginnt eine ganze Reihe von Urteilen, die über Jesus gefällt werden:
„Was, du willst den Römern nicht an die Gurgel? Dann bist du ein Verräter an der Sache Gottes! Oder einfach nur ein Feigling?“
„Was, du gibst dich mit Sündern ab und verurteilst sie nicht? Du setzt dich über die Reinheitsvorschriften unserer Religion hinweg? Du störst den Opfergottesdienst im Tempel? Dann bist du ein falscher Prophet.“
„Was, du verkündest das Reich Gottes in dieser Welt? Dann bist Du ein Aufrührer und Terrorist. Besser, wir bringen dich gleich um.“
Das leibhaftige Wort umgibt sich mit Menschen, die ihrerseits eine gefährliche Nachbarschaft bilden: Simon, der Zelot (ein Terrorsympathisant), Levi, der Zöllner (ein Profiteur der Besatzung), Petrus, der Hitzkopf – und natürlich Judas…
Die Tür in der Nähe
In dieser Nähe liegt nicht nur ein Problem, sondern auch eine Hoffnung. „Rechts“ und „links“ liegen nicht Lichtjahre auseinander. Das eine ist nicht in jeder Hinsicht das komplette Gegenteil des anderen. Irgendwann hat sich mein autoritaristischer Nachbar oder Bekannter entschlossen, durch diese problematische Tür ganz in der Nähe zu gehen. Die Nähe braucht mich aber nicht zu irritieren oder zu alarmieren, auch nicht die Gemeinsamkeiten wie der Apfelkuchen.
Weihnachten heißt: Das Wort hat sich auch in meine gefährliche Nachbarschaft begeben. In dem „unter uns“ des Evangelisten Johannes sind ja auch wir Heutigen eingeschlossen. Meine Fehler und Dummheiten, meine Versäumnisse und Verstrickungen fallen auf ihn zurück. Gott nimmt das ganz bewusst in Kauf. Und für mich ist eine Tür offen in ein neues, anderes Leben. Ganz in der Nähe. Überall da, wo ich falsch abgebogen bin und Lügen auf den Leim gehe oder mich selbst betrüge. Denn das mit der Tür funktioniert auch in umgekehrter Richtung – von der Ausgrenzung zur Umarmung, von der Feindschaft zum Frieden.
Kann ich das auch: Zankenden und zeternden, zugänglichen und zauberhaften Menschen ein guter Nachbar sein? Vielleicht handle ich mir das eine oder andere Missverständnis ein. Aber das hier ist nun eben die Nachbarschaft, in die Gott mich stellt. Wie schön, dass Sie alle dazugehören. Und wenn wir dieser Spur folgen – wer weiß, was wir nächstes Weihnachten einander alles über Gnade und Wahrheit erzählen können?
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