Meer Leidenschaft – muss das sein?

Am Ufer des Zürichsees treffe ich auf einen Strandkorb aus Sylt, auf dem ein Slogan prangt, der irgendwas von Meer Leidenschaft verheißt. Der Begriff „Leidenschaft“ ist ja inzwischen nicht mehr so ganz originell in der Werbung. Es scheint ein gefühltes Leidenschaftsdefizit zu geben, und mit der Aussicht auf Leidenschaft lässt sich scheinbar alles mögliche verkaufen. Freilich bleibt die Frage, wie lange eine von außen induzierte, gekaufte Passion denn hält.

Stimmt die Analyse – sind wir tatsächlich so leidenschaftslos? Und wenn ja, was hat es mit der Konsum- und Wohlstandsgesellschaft zu tun und ihren tausendfachen Zerstreuungen? Oder ist auch „Leidenschaft“ (wie schon „Authentizität“) so ein überbewertetes Verkäufer-Schlagwort geworden, das irgendwie noch an ein paar vage Restsehnsüchte anderweitig übersättigter Menschen appellieren soll? Ist sie denn gezielt herstellbar oder wie Glück eher eine Begleiterscheinung, ein Abfallprodukt ganz anderer Dinge und Tätigkeiten? Kann sie überhaupt ein Ziel sein, oder er-folgt sie nur dann, wenn man es nicht auf sie abgesehen hat? Ist die Forderung nach mehr Leidenschaft vielleicht ähnlich absurd wie das beliebte „sei doch mal spontan?“

Um Ostern herum habe ich eine Diskussion verfolgt, die in eine ähnliche Richtung lief: Warum feiern Christen Ostern nicht ausgelassener, fröhlicher, begeisterter – eben: leidenschaftlicher? Jemand verglich das Ganze mit dem Jubel beim Gewinn der Fußball-WM. Zustimmung rundherum wurde geäußert. Also nicht nur spontane, sondern spontan öffentlich inszenierte Leidenschaft ist das Ziel der Übung. Stille Freude ist deswegen schon so unbefriedigend, weil sie nicht demonstrativ genug ist. Alle müssen es sehen.

Kann man je leidenschaftlich genug sein? Die Selbstbezichtigung fehlender Leidenschaft kommt mir wie ein integrierter evangelikaler Bußreflex vor – eine spätmoderne Variante der mittelalterlichen Selbstgeißelungen. Wer diesen nie-genug-Knopf drückt, erzielt immer Wirkung. Das mag mit dem Selbstbild und dem eigenen Anspruch zu tun haben: Unter viele lauen Christen sind „wir“ nicht nur die besonders engagierten, sondern auch die, die Gott am leidenschaftlichsten lieben. Freilich schwankt der Grad der Leidenschaft im wirklichen Leben, also muss immer nachjustiert werden. Niemand wagt zu sagen, dass es jetzt genug ist. Denn so fängt das Lausein bekanntlich an, das Gott so zuwider ist.

Das kann dann schon Blüten treiben (und in Stress ausarten): In der Diskussion um den Osterjubel habe ich mich gefragt, zu welcher Begeisterung selbst der glühendste Fußballfan (wenn das jetzt die neue Norm ist…) fähig wäre, wenn sein Club vor 2.000 Jahren die Champions League gewonnen hätte. Viel von diesem spontanen Jubel liegt ja an der Ungewissheit im Vorfeld und der Spannung, die sich im Augenblick des Sieges entlädt (hatten wir ja diese Woche erst…). Das aber ist eben nicht beliebig reproduzierbar.

Dass wir nach knapp 2.000 Jahren noch Ostern feiern, obwohl wir nicht mehr mitfiebern müssen, ob Jesus auch dieses Jahr wieder auferstehen wird (und uns sein Tod auch nicht mehr in abgrundtiefe Verzweiflung stürzt jeden Karfreitag), ist doch vielleicht auch schon eine ganze Menge? Soll man die zarte Freude über Gottes große Taten immer dadurch gleich wieder abwürgen, dass man pflichtschuldig darüber klagt, sie mit dem eigenen Gefühl nicht einholen zu können? Lenkt das Schielen auf den emotionalen Puls, mithin auf uns selbst, nicht davon ab. das Fest unbeschwert zu feiern und uns selbst endlich mal nicht so wichtig zu nehmen? Aber wäre nicht das der Punkt, an dem Freude wieder „spontan“ entstehen kann, weil wir – endlich einmal! – unter keinem Erwartungsdruck und unter keiner Beobachtung mehr stehen?

Ein konstruktiver Gedanke kam mir dann doch noch zu Ostern. Wenn schon der Fußball das Maß der Dinge ist, warum nicht mal einen Autokorso am Ostersonntag in aller Herrgottsfrühe – hupend und fahnenschwenkend ein paar Stunden durch die Stadt rasen? Ganz authentisch und ganz öffentlich und – da bin ich mir ganz sicher – es wird sehr, sehr leidenschaftliche Reaktionen hervorrufen.

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Voll im Flow

Gestern hatte ich endlich Zeit, den Dokumentarfilm Work Hard – Play Hard von Carmen Losmann zu sehen. Er zeigt den alltäglichen Wahnsinn der Büro- und Personaloptimierer – ob das nun Consultants sind, Architekten, Vertreter von Personalsoftware oder Teamtrainer in Kletterguten. Die FAZ schreibt im Feuilleton ganz treffend über frische Farben und Kaffeenischen:

Man soll sich wohl fühlen, ohne faul zu werden, konzentriert und effektiv arbeiten, aber dabei einen „Flow“ bekommen, weil man sich in diesem Zustand am besten selbst ausbeutet.

Dieser innere Zwang zu Selbstausbeutung, der durch all die Manipulationen des Arbeitsumfelds ausgelöst wird, kommt wirklich gut heraus. Ein Film, den man unbedingt sehen sollte. Nicht wegen des vordergründigen Enthüllungscharakters, er zeigt ja keine Geheimnisse, die verdeckt gefilmt werden mussten. Die Akteure treten sich ja freiwillig auf.

Dennoch wird hier ganz allmählich und leise sichtbar, dass in der Branche zwar viel vom Menschen geredet wird, aber immer nur der Profit gemeint ist. In der Einstiegssequenz über den Neubau von Unilever in Hamburgs Hafencity fordert der Boss in einer grandios uninspirierten Rede eine Verdoppelung des Umsatzes (oder war’s der Gewinn?). Und niemand fragt, ob der alle Tassen im Schrank hat.

Symptomatisch für diese Kombination aus Huxley und Orwell ist vielleicht die Szene, wo bei einem Teamtraining die Crew mit verbundenen Augen durch einen Tunnel robbt, um sinnlose Aufgaben zu erledigen, und der Chef mit den Trainern alles über den Monitor beobachtet und seine Rückschlüsse daraus zieht. Einen Orden für Mut und Ehrlichkeit verdient hat dagegen die Postangestellte, die (nach Einführung des LEAN-Programms) dem Teamleiter auf die Frage, wie der gestrige Tag so verlief, antwortet: „Gut – da war ich auch nicht hier.“

Vielleicht lag es an den Sachen, die ich in den letzten Tagen gelesen habe, aber als ich aus dem Filmhaus kam, habe ich mich gefragt: Hat schon jemand darüber nachgedacht, wie eine Befreiungstheologie für die Frondienstleistenden der schönen neuen Firmenwelt aussehen müsste? Ich muss vielleicht mal bei Walter Brueggemann nachlesen…

Frage zum Schluss: Kann man eigentlich Christ sein und Unternehmensberater? Und wenn ja, was bedeutet das ganz konkret für das Berufsethos? Oder wird man unweigerlich, auch mit den besten Vorsätzen, zum Komplizen derer, die auch noch das letzte Quäntchen Leistung aus ihren Leuten herauszupressen versuchen, weil man ein unmenschliches System stabilisiert, statt es zu bekämpfen?

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Scham – gestern und heute

Ich arbeite heute unter anderem an einer Kreuzwegstation, wo Jesus die Kleider genommen werden. Die Soldaten würfeln um das Obergewand. Der Delinquent ist völlig nackt bei der Hinrichtung (kaum ein Kruzifix bildet das ab…). Zum Schmerz kommt die Demütigung.

Vorgestern schrieb Tanja Stelzet in der Zeit über die neuen Nackten – warum selbst bekannte und erfolgreiche Frauen sich für ein Playboy-Shooting ausziehen, und was das mit Emanzipation und Selbstbewusstsein zu tun haben könnte. Dabei stellt sie sehr treffend fest, was sich in den letzten Jahren geändert hat:

Man muss ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl haben, um gegenüber einer solchen Schmeichelei [des Playboy-Chefredakteurs] immun zu sein. Sehr viel im Kopf. Oder ein verdammt antiquiertes Schamgefühl. Denn heute schämt man sich nicht mehr dafür, nackt zu sein. Man schämt sich dafür, kein Geld zu haben. Oder nackt mies auszusehen.

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Tödliche Modernisierung

Vor ein paar Tagen hat der rein theoretische (das macht es freilich nicht besser) Vorschlag zweier australischer Wissenschaftler, Kinder noch nach der Geburt auf elterlichen Wunsch zu töten, für einen Proteststurm im Netz.

Am Freitag war in der Zeit diese Geschichte einer jungen Inderin zu lesen, die ihren Mann verklagte, weil der sie mit allen Mitteln zu einer Abtreibung ihrer Zwillingsmädchen zwingen wollte. Die Geschichte ist ein Beispiel für das Schicksal von Frauen in vielen asiatischen Ländern und den unabsehbaren Folgen dieser Katastrophe. Von einem Proteststurm habe ich bislang nichts bemerkt – dabei geht es hier nicht um Ideen, sondern um millionenfache Praxis.

Der Artikel zeigt einige überraschende Zusammenhänge auf: Hatte man früher noch gehofft, Bildung und technischer Fortschritt würden die Missachtung von Frauen und Mädchen allmählich beseitigen, so steht nun fest, dass das Gegenteil der Fall ist:

… drei Dinge haben die Lage der schwangeren Frau verändert: das Ultraschallgerät, das Kalkül der Kleinfamilie und die Abtreibungspille. Heute gibt es kein Geheimnis mehr um das Geschlecht des Kindes. Der Mann zwingt die Schwangere zur Ultraschalluntersuchung. Und wenn es ein Mädchen ist, kann die Mutter nicht mehr so leicht sagen: Dann versuchen wir es später noch mal. Denn auch sie möchte nur noch ein, höchstens zwei Kinder. Früher schon war eine Tochter wegen der höheren Aussteuer eine zusätzliche Last; heute fallen außerdem noch Schul- und Erziehungskosten für sie an. Außerdem will die Familie neben Kindern auch ein neues Auto. Deshalb müssen es weniger Kinder sein – und mindestens ein Sohn muss als Stammhalter her.

Nicht obskures Brauchtum oder irrationale Mythen aus grauer Vorzeit sind die treibende Kraft hinter diesen Morden, sondern die sozialen Aufstiegsträume. Religion (auch der Islam und der Hinduismus) hatten diese Tendenz bisher noch gebremst, so der Artikel. Der Verlust solcher Bindungen hat nun zum ungebremsten Geschlechtermord geführt. Die Konsumgesellschaft, so lautet das bittere Fazit, hat die Sitten verdorben:

»Die Motive für den Mord an der ungeborenen Tochter entstammen einer sehr zeitgemäßen Einstellung – man will große Hochzeiten, große Geschenke und einen stolzen Sohn, aber keine wirtschaftlich unnütze Tochter«, sagt Shanty Sinha, Vorsitzende der Nationalen Kommission für Kinderrechte in Indien. »Es geht um eine Brutalisierung der individuellen Einstellung zum menschlichen Leben, wie sie erst die Modernisierung hervorbringen konnte.«

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Schlüsselfragen

Wir hatten es kürzlich schon von den richtigen oder nicht so richtigen Fragen, auf die das Evangelium eine Antwort gibt (oder eben auch nicht). Im Laufe der Geschichte haben sich diese Fragen immer wieder verändert. Luthers Frage nach dem „gnädigen Gott“ ist heute – sagen wir es vorsichtig – nicht mehr ganz so verbreitet wie im Spätmittelalter. Gottes Ferne und Abwesenheit ist vielleicht eher das Thema als sein Zorn.

Auf der anderen Seite ist das Evangelium eben kaum noch als „gute Botschaft“ zu verstehen, wenn es nicht auf die entscheidenden Fragen antwortet. Dabei geht es für die meisten Menschen um mehr als das persönliche Glück, um einen weiteren Horizont der Hoffnung also. Im Zeitalter der globalen Risikogesellschaft würde ich das – stark verkürzt – so zusammenfassen:

Wie kann diese gefährdete und gefährliche Welt heil werden – und wir in ihr?

Ein Evangelium, das nur individuelles Glück für wenige verspricht und dessen Eskapismus das Heil der gesamten Welt ausblendet, ist keine gute Botschaft, sondern nur eine in frommes Vokabular verpackte und leicht vergeistigte Version desselben handfesten Egoismus, der unsere Konsumkultur an den Rand des Abgrunds und gebracht hat und der den Anderen und alles Fremde als Bedrohung empfindet, die ausgelöscht werden muss.

Andererseits: Ein Evangelium der totalen Selbstaufopferung und des Verlusts jeglicher Individualität im Überlebenskampf der Menschheit oder Natur mit ungewissem Ausgang ist auch noch keine gute Botschaft. Und der falsche Trost von einer ohne Gott immer schon heilen Welt klingt auch schal.

Das biblische Evangelium spricht von Gott, der sich einmischt und selbst zum Verlierer wird, um alle zu gewinnen. Das ist die gute Botschaft – die alte Ordnung von Siegern und Verlieren, das System des gnadenlosen Wettlaufs und Konkurrenzkampfs wird auf den Kopf gestellt. Und wer gewonnen wurde, kann im Chaos der Geschichte alles riskieren, um andere zu gewinnen und – egal wie vorläufig und unvollkommen – Heilung weiterzutragen. Heilung für die Kranken und Leidenden. Heilung für die Wunden der ausgebeuteten Schöpfung. Heilung für die Systeme und Ordnungen unseres Zusammenlebens.

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Mutig führen…?

Wolfgang Kessler vom ökumenischen Publik Forum und Autor von Geld regiert die Welt. Wer regiert das Geld? spricht in einem Interview mit Telepolis über das Verhältnis von Arm und Reich in Deutschland, das nun mit wachsendem Einfluss deutscher Politik auch noch mehr zum europäischen Normalfall zu werden droht:

In Deutschland ist in den vergangenen Jahren immer mehr Geld aus hohen Gewinnen, hohen Vermögen und Erbschaften auf die Finanzmärkte geflossen. Deutschland besteuert die Reichen im europäischen Vergleich, sogar im Vergleich mit den USA, eher gering. Wir haben keine Vermögenssteuer, die Erbschaftssteuer ist gering und die Spitzensteuern wurden von 53 Prozent unter Kohl auf knapp über 40 Prozent gesenkt.

Die Auseinandersetzung mit der Finanzmarktlobby scheut die Bundesregierung bis heute, und zwar keineswegs mit überzeugenden Argumenten. Dem Staat entgehen so geschätzte 66 Milliarden pro Jahr. Stattdessen profilieren sich unsere Regierenden auf andere Weise:

Die Regierung hält sich immer dann für mutig, wenn sie unpopuläre Maßnahmen gegen schwächere Gruppen durchsetzt. Sie scheut sich aber seit Jahren, steuerliche Maßnahmen für mehr Gerechtigkeit zu ergreifen, obwohl das Argument der Abwanderung nicht gilt, weil andere Länder viel höhere Steuern in diesen Bereichen verlangen.

Wer also die Gelegenheit hat, seinem Abgeordneten mal ins Gewissen zu reden – das wäre doch ein gutes Thema.

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Schicke Schichten

Die meisten haben ihre Geschenke inzwischen wohl ausgepackt, aber für das nächste Weihnachten gibt es Geschenkpapier, das man sich – zumal in der richtigen Stapelung – gern noch einen Augenblick anschaut, und das unter Sternchen, Zweiglein, Engelchen und Flöckchen mal etwas Abwechslung in den weihnachtlichen Papierkrieg bringt:

Gift Couture from Gift Couture on Vimeo.

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Sport wird grüner

Neuich habe ich den Pastor der FeG Herzogenaurach stolz mit einer Adidas-Tasche auftreten sehen und mich gefragt, ob wohl keines seiner Gemeindeglieder bei Puma arbeitet. Vom kleinen Bruder der Streifenmarke sind dieser Tage nämlich gute Nachrichten zu vernehmen: Man hat eine offizielle Ökobilanz erstellt und wird auf deren Grundlage weitere Maßnahmen ergreifen.

In der Sportartikelindustrie scheint nun doch einiges in Bewegung zu sein. Neulich schon interviewte die Zeit Hannah Jones von Nike, die einige Fortschritte erläutert, die der Weltmarktführer in Sachen Nachhaltigkeit gemacht hat. Ohne internationale Proteste wäre das sicher nicht geschehen.

Derweil stand vor allem Adidas dieses Jahr wieder in der Kritik, was Lohn und Arbeitsbedingungen der Zulieferer angeht. Das ist neben der Ökobilanz das andere heiße Eisen.

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Albern – warum eigentlich nicht?

Ausgerechnet Joachim Gauck hat „Occupy Wall Street“ als „unsäglich albern“ bezeichnet. Vermutlich ist ihm dabei gar nicht bewusst gewesen, dass er den Leuten damit ein Kompliment macht, denn viele haben sich den Rat „stay foolish“ aus Steve Jobs‘ legendärer Stanford Adress zu eigen gemacht – hungrig sind sie schon längst, dafür hat der Turbokapiltalismus des letzten Jahrzehnts und die Banken-/Schuldenkrise gesorgt.

Sie sind albern genug, zu fragen, ob es nicht auch ganz anders gehen könnte. Nur denken sie dabei nicht über elektronische Helfer nach, die sie selbstverständlich nutzen, sondern über unser Wirtschaftssystem, das zu ändern unsere Politiker nicht den Mut hatten, als sie es konnten. Allen voran Barack Obama, der mit seinen stets halbherzigen Aktionen massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat.

Johnathan Askin nennt im Huffington Post die Demonstranten treffend die Generation „What if“. Sie sagen nicht mehr „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“, sondern sie wenden dieselbe Logik auf andere Dinge an. Sie sind im digitalen Zeitalter groß geworden und haben gelernt, sich alle die Zukunft in allen möglichen Farben und Formen auszumalen und durchzuspielen. Und nun wenden sie diese Phantasie (klingt nach Margot Käßmann, oder?) auf die reale Welt an.

Natürlich kann man nun mit Gauck, einem Vertreter des letzten großen Umbruchs, „ja, aber…“ sagen. Aber vielleicht folgt der vor uns liegende Umbruch ja anderen Mustern als der zurückliegende. Vielleicht stehen uns manche Erinnerungen und Erfahrungswerte dabei eher im Weg? Im biblischen Bild gesagt: Als David die schwere Rüstung wieder auszog und mit seinem Steinschleuderchen gegen Goliath ins Feld zog, da empfanden Saul und seine Generäle das mit Sicherheit auch als „unsäglich albern“.

Nicht nur die (Ost-)Revolutionäre von gestern, auch die in stabilen Verhältnissen groß gewordenen Baby-Boomer im Westen erscheinen im Licht dieser Ereignisse als „Generation Unbedarft“. Sie haben immer noch zu viel zu verlieren, um unbefangen zu fragen: „Was wäre, wenn?“. Ihr revolutionäres Restpotenzial scheint vom Wohlstand aufgezehrt, schreibt Paul Campos, und nun sind sie unerträglich selbstgefällig geworden. Gänzlich unbedarft waren heute auch die Nürnberger Nachrichten, die rätselten, was den Bankenprotest mit einem „religiösen Fanatiker“ wie Guy Fawkes zu tun haben sollte. Der Autor hat offenbar V wie Vendetta nicht gesehen, wo das Volk auf die Straße geht und seine Unterdrücker abschüttelt. Die Botschaft der Maskerade heißt nichts anderes als „Wir sind das Volk“, beziehungsweise eben: „we are the 99%“. Fürchtet Gauck insgeheim, dass die neue Revolution – wenn es denn eine werden sollte – die alte in den Schatten stellt?

Occupy Wall Street ist, sagt Askin, nur der öffentliche Beta-Test der Generation What If“. Brian McLaren hat in Naked Spirituality den Begriff der TAZ – temporary autonomous zone – verwendet, den er von Kester Brewin übernommen hat. Damit meint er zum Beispiel Festivals (Askin erwähnt „Burning Man“) und Events, wo die gängigen Verhaltensnormen außer Kraft gesetzt sind. Natürlich ist das eine zwiespältige Sache: Schon Rom kannte Brot und Spiele als Mittel, die herrschenden Verhältnisse zu stabilisieren. Aber vielleicht verdient neben der Funktion als Überdruckventil und Anästhetikum auch der Aspekt Beachtung, ob hier – vor allem eben bei den Demos – alternatives Handeln hypothetisch diskutiert und experimentell eingeübt werden kann.

Und vielleicht tun wir gut daran, Sonntage und Gottesdienste auch als solche Gelegenheiten zu verstehen und zu leben: Freiräume, in denen man nicht ins nächste Korsett gedrückt wird und funktionieren muss, sondern dem Alltagstrott den Rücken kehrt, um zu fragen, ob das alles eigentlich so sein muss – von der persönlichen Lebensgestaltung bis hin zur Weltwirtschaft. Wo wir das kommende Reich Gottes so feiern, dass der Vorgeschmack allein schon die Risse im Fundament scheinbar unüberwindlicher Gegebenheiten sichtbar werden lässt. Was ist denn die Bergpredigt, wenn nicht ein großes „was wäre eigentlich, wenn?“, das nicht nur weltfremd oder weltflüchtig ein utopisches Ideal zelebriert, sondern das Alternativen in Sicht- und damit tatsächlich auch in Reichweite rückt? Das jedes politische und soziale System diesem Zweifel aussetzt, ob menschenwürdiges Leben nicht auch anders und besser aussehen könnte als unter den vermeintlichen Sachzwängen.

Zum Glück gibt es auch unter Christen eine emergente Generation „What if“, die nicht nur hinter die herrschenden gesellschaftlichen, sondern auch kirchlichen Verhältnisse ein Fragezeichen setzt. Ohne immer gleich auch schon sagen zu können, wie die Zukunft definitiv aussehen muss.

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Eine Schale Reis: Ausgekühlt

Eine weitere Beobachtung aus dem Selbstversuch mit einer Schale Reis muss ich hier noch erzählen. Mit wenig Brennbarem im Bauch wird einem spürbar schneller kalt, und wenn wie heute die Temperaturen gefallen sind, dann friert man auch deutlich schneller.

Wieder – kein Problem in der Wohlstandszone: Da zieht man sich wärmer an oder dreht die Heizung hoch, wie ich gerade. Was aber, wenn die Hütte ungeheizt und zugig ist? Es leben ja nicht alle unterernährten Menschen in den Tropen. Und das bedeutet, man wird sehr wahrscheinlich leichter und häufiger krank, wenn man wenig zu essen hat (von Vitaminen ganz zu schweigen).

Keine guten Aussichten…

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Der Reis ist heiß…

Nach dem kleinen Intermezzo gestern bin ich wieder auf einer Schale Reis unterwegs. Heute gibt es daher keine neuen Erfahrungen zu berichten außer dass ich die deutlich längere Kochzeit des Bio-Vollkorn-Reis (sagt man „des Reises“?) unterschätzt hatte. Sieht man mal, wie viel Ahnung ich bisher von Reis hatte…

Zum Lesen kam mir in den Nachrichten heute ein Artikel aus der SZ gerade Recht, der sich mit den Folgen des weltweit ansteigendes Fleischkonsums für Umwelt und das Preisgefüge von Nahrungsmitteln überhaupt befasst. Dazu tragen sogar Hunde und Katzen bei, die im Schnitt 20 kg Fleisch im Jahr verputzen, während der Durchschnittsdeutsche (tolles Wort) 60 kg schluckt. Die Bezugsgröße Flächenbedarf zeigt (ähnlich wie der „Carbon-Footprint“) die Verhältnisse sehr eindrücklich:

Um den Fleischhunger eines Einzelnen zu befriedigen, ist eine Futteranbaufläche von 1000 Quadratmetern pro Jahr nötig, für den Jahresverbrauch an Kartoffeln reichen dagegen 15 Quadratmeter Acker aus. Umgerechnet auf Mahlzeiten bedeutet dies, dass ein Hamburger mit Pommes und Salat auf 3,6 Quadratmeter kommt, Spaghetti mit Tomatensauce dafür nur auf 0,5 Quadratmeter.

Das benötigte Tierfutter importiert Deutschland weitgehend. Mit unserem raumgreifenden Fleischkonsum fördern wir also andernorts (!) den Wassermangel, verschlechtern die Böden und verderben anderen, ärmeren Menschen die Preise für ihr Essen. Gestern im Alpha-Kurs haben wir vegetarisch ganz passabel gespeist.

Wenn es um Nachhaltigkeit geht, wäre vielleicht ein Monat ohne Fleisch die ideale Nachfolgeaktion zu „eine Schale Reis“. Vielleicht inspiriert das Leute, auch dauerhaft auf Fleisch zu verzichten oder den Konsum spürbar zu drosseln.

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Tag 3: Der „ewige Reis“

Zwei Tage mit je einer Schale Reis liegen hinter mir. Körperlich geht es mir gut, ich schlafe weniger mit dem relativ leeren Magen, aber gestern habe ich mich 15 km aufs Rad gesetzt und das ging ohne Probleme. Manchmal meine ich zu merken, dass ein Pölsterchen hier und da schwindet, was für mich erst mal nett wäre, weil ich ja nicht wie über 2 Milliarden andere Menschen damit rechnen muss, dass dieses Essen nun mein täglich Brot auf Jahre hinaus sein wird. Dann wäre nämlich jeder Substanzverlust beunruhigend.
Der andere Faktor ist die Monotonie. Unglaublich, wie viele verschiedene Sachen meine Familie in diesen beiden Tagen schon gefuttert hat! Wenn hier auch nur drei Tage dasselbe Essen auf den Tisch käme, gäbe es sehr lange Gesichter. Ich habe zur Abwechslung gegenüber dem Vortag ein paar Spritzer Sojasauce verwendet und mich bei dem Gedanken ertappt, ob nicht Jamie Oliver nicht mal ein peppiges Kochbuch mit tollen Ideen zu kleinen, einfachen Reisgerichten schreiben könnte. Aber im Ernst: Viele würden vielleicht sagen „ich kann den ewigen Reis nicht mehr sehen“, aber es gibt schlicht keine Alternative…
Die Beiträge auf der Website zu „Eine Schale Reis“ fielen anders aus, als ich das erwartet hatte. Ich hätte mir ein paar eher meditative Impulse gewünscht, die mein Erleben vertiefen und erschließen helfen. Stattdessen stehen da längere Aufsätze, die sicher ganz gut sind, aber meinem Hirn fehlt derzeit vielleicht doch auch der nötige Zucker, um die textlastigen Erläuterungen zu „verdauen“.
Spannend fand ich dagegen, dass gerade der Welthungerindex 2011 erschienen ist. Vor allem die Weltkarte, auf der man verfolgen kann, wo die Lage prekär ist, wo schlecht, und wo sie akzeptabel bis gut ist wie bei uns. Wer will, kann einfach mal reinklicken:

PS: Heute Abend muss ich für Gäste kochen, das gemeinsame Essen unterbricht dann das Experiment für einen Moment.
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Fast bloß eine Schale Reis

Ich fange wieder mit der körperlichen Seite an. Meinen Reis auf zwei Portionen zu verteilen klappte relativ gut. Beim Essen verglich ich meine Portion mit denen der anderen am Tisch und versuchte ich mir dann vorzustellen, dass über zwei Milliarden mit mir am Tisch saßen und auch Reis aßen.

Später am Abend genehmigte ich mir noch einen halben Apfel dazu und merkte mit einem Schlag, welch ein Luxus sogar ein mickriger halber Apfel für jemanden sein muss, der von einer Schale Reis am Tag lebt. Und – positiv formuliert – wie dankbar ich für einen halben Apfel sein konnte.

Überhaupt wird meine Erfahrung ja dadurch behindert und zugleich erleichtert, dass ich weiß, im Notfall (und den definiere ich selbst…) kann ich jederzeit so viel essen, wie ich mag. Erleichtert, weil das Ende immer schon in Sicht ist. Behindert, weil ich durch das absehbare Ende die Konfrontation mit dem Mangel nicht so ernst nehmen könnte.

Auf der Website zur Aktion stand gestern eine Bibelauslegung. Irgendwie fand ich keinen Zugang zu dem Text, was vermutlich mehr an mir lag als am Autor. In der Nacht lag ich dann eine Weile wach, aber vermutlich eher wegen eines aufwühlendes Gesprächs am Tag zuvor und weniger, weil der Magen knurrte. Auf n-tv lief eine Dokumentation über den ersten Weltkrieg. Die Bevölkerung in Deutschland litt im Winter 1916 an Hunger, man ernährte sich von Steckrüben und pro Kopf standen etwa 1.000 Kalorien zur Verfügung. Trotzdem ist das immer noch mehr als diese eine Schale Reis…

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Eine Schale Reis: Der Einstieg

Das Sonntagsmenü stand schon, also habe ich den Beginn des angekündigten Selbstversuchs auf heute verschoben. Die ganze letzte Woche hatte ich einen etwas flauen Magen und eher mäßigen Appetit, aber gestern nachmittag und Abend zog das Hungergefühl – sicher auch, weil ich wusste, was mich diese Woche erwartet – deutlich an.

Wenn man nur so eine überschaubare Essensration vor sich hat, dann schiebt man die erste Mahlzeit vielleicht besser etwas hinaus, dachte ich mir und verzichtete auf ein paar Löffel Reis zum „Frühstück“. Im Lauf des Vormittags fragte ein hungriger Leidensgenosse an, ob der Reis in trockenem oder gekochten Zustand 100g schwer sein sollte. Ich hatte die Anleitung so verstanden, dass er vor dem Kochen gewogen wird.

Mittags war mir dann langsam kalt mit leerem Magen. Ich setzte den Reis auf und kippte, weil kein Brühwürfelchen mehr da war, ein paar Krümel Bratenfond ins Wasser, um etwas Geschmack zu erreichen. Mit mäßigem Erfolg. Der Rest der Familie aß auch Reis, freilich mit Huhn und eindringlich duftender Currysoße. Ich verspeiste gut die Hälfte meiner Portion und packte den Rest weg fürs Abendessen.

Das Verdauungstief fällt nach der leichten Mahlzeit weniger massiv aus, einen (freilich fairen!) Kaffee gönnte ich mir trotzdem und entschied, dass Milch auch ok ist, auch wenn die natürlich etwas Fett und Protein enthält. Für meine Mitmenschen bin ich so vermutlich genießbarer als wenn ich bloß Wasser zu mir nehme. Der Körper muss sich ja erst mal umstellen. Mit Alkohol sieht es dagegen schlecht aus. Ein 0,2l Glas Apfelsaft enthält laut Packung ein Fünftel des täglichen Bedarfs an Zucker, aber ein kleines Schorle ist vielleicht auch noch drin irgendwann heute.

Mein Fastenkollege schreibt gerade, er habe schon drei Viertel der Tagesration verdrückt und immer noch Hunger. Mal sehen, was das noch wird heute…

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Wie schmeckt Armut?

Die Micha-Initiative ruft für die kommende Woche zu einer – für alle, die sich ihr anschließen – enorm eindrücklichen Aktion auf: Unter dem Motto Reicht Fast(en)? kann man sich verpflichten, täglich eine Schale Reis (100g, ca 350 kcal) zu essen. Blank, wenn’s geht, mit etwas Salz.

Mehr nicht, denn das ist die tägliche Essensration für ein Drittel der Weltbevölkerung – über 2 Milliarden Menschen! Die eine Milliarde, die tatsächlich im „technischen“ Sinn hungert, hat noch weniger…

Letzte Woche haben wir in einem Teamtreffen über die Aktion gesprochen und die meisten fanden das schon ziemlich happig. Einer aus der Runde meinte, dann würde er lieber ganz fasten, dann stellt sich wenigstens kein Hunger ein. Andere schüttelten den Kopf und meinten, sie müssen ja arbeiten, da geht so etwas nicht.

Andererseits: Vielleicht muss man es ja gerade deshalb am eigenen Leib erfahren! Denn die Leute mit der einen Schale Reis am Tag arbeiten ja auch. Also: Wo sind diejenigen, die es drauf ankommen lassen? Egal, wie lange jede/r durchhält – einen Versuch sollte es uns allemal wert sein. Also jetzt bitte nicht gleich „Reis aus nehmen“ – es sei denn, jemand hat Untergewicht oder gesundheitliche Probleme. Als Diät ist das Ganze übrigens auch nicht gedacht (zunehmen wird man freilich kaum).

Man lebt billig in so einer Woche. Das ist die andere Seite. Das gesparte Geld kann man dann spenden, um Armut und Hunger zu bekämpfen. Die Flyer für die Aktion kann man übrigens noch hier bestellen.

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