Bloß nix ändern, es ändert sich eh nix…?

Ich bin wohl nicht der einzige, der den Eindruck hat, so lange die Wirtschaftsdaten halbwegs „stimmen“, interessieren sich nicht besonders viele Menschen für die aktuelle Politik. Vor allem, wenn es um komplizierte Themen geht wie Grundrechte, Europakrise oder Klimaschutz und Energiewende, wo einer Ursache zumindest keine unmittelbar spürbare Wirkung mehr zugeordnet werden kann – und das ist in einer komplexen Welt ja der Normalfall.

Solche Zusammenhänge aufzudecken erfordert also einiges an Denkleistung und Diskussion. Es gäbe also durchaus viel zu besprechen und zu entscheiden. Aber wir sind, so sagt Marc Beise von der SZ, selbstzufrieden und träge. Und die Regierungskoalition fördert das durch die Verweigerung so gut wie jeder inhaltlichen Diskussion, weil sie überzeugt ist, dass sie davon – vom Nichtreden und Nichtdenken – profitiert. Angela Merkel scheint ein Dauerabo der Kanzlerschaft zu besitzen wie Ihr Ziehvater Helmut Kohl, weil auch sie den Eindruck erweckt, eigentlich nichts ändern zu wollen.

Dass das auch spirituell eine mehr als bedenkliche Situation ist, hat Walter Brueggemann im Blick auf das langfristig ruinöse, aber mittelfristig leider erfolgreiche Regierungskonzept des Salomo festgestellt. Es ist ganz offenbar ein Vorläufer der modernen Wohlstandsgesellschaft und ihrer satten Apathie, in der Neoliberalismus zur Notwehr geworden ist:

Das königliche Bewusstsein mit seinem Programm machbarer Sättigung hat unsere Vorstellung von Menschsein umdefiniert, und zwar für uns alle. Es hat ein subjektives Bewusstsein geschaffen, das sich nur um die eigene Befriedigung dreht. Es hat die Legitimität der Tradition geleugnet, die es uns abverlangt, uns zu erinnern, der Autorität, die von uns eine Antwort erwartet, und der Gemeinschaft, die uns zur Anteilnahme ruft. Es hat die Gegenwart so inthronisiert, dass die verheißene Zukunft […] undenkbar ist.

Damals war es die Aufgabe der Propheten, all die störenden Empfindungen ins öffentliche Bewusstsein zurückzubringen, die dort nicht erwünscht waren. Nicht nur einen Politikwechsel herbeizuführen, sondern einen drastischen Bewusstseinswandel, durch die „Praxis öffentlicher Belästigung„, wie Jürgen Habermas das nennt. Und wie die alten Propheten findet auch der frische Worte für Krisen, die andere (so funktioniert „Merkels clever-böses Spiel der Dethematisierung“ eben) nur gelangweilt oder resigniert zur Kenntnis nehmen.

Der Mann ist 84. Wer hat das Format und tritt in seine Fußstapfen?

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Tod, Leid und Werbung

Es war gut gemeint und aufrichtig empfunden, und dennoch war ich gestern seltsam unangenehm berührt vom Bild einer Umarmung, in der ein totes Paar aus den Trümmern der eingestürzten Textilfabrik an Bangladesh geborgen wurde. Ein Freund hatte den Link auf Facebook „geteilt“. Irgendwer vor Ort hatte rechtzeitig auf den Auslöser gedrückt und das Bild veröffentlicht – mit riesiger Resonanz.

Klar kann man mit einem solch unter die Haut gehenden Bild nun für ehrenwerte politische Ziele werben. Aber es ist eben trotzdem Werbung. Worte für meinen Widerwillen fand ich kurz darauf bei Carolin Ströbele auf Zeit Online. Sie kritisiert den Ansatz, mit sehr persönlichen Bildern Einfluss nehmen zu wollen:

All diese Arbeiten rechtfertigten sich dadurch, dass sie über ein persönliches Schicksal auf einen sozialen Missstand, ein gesellschaftliches Problem hinwiesen. Doch je mehr Künstler die Elendskarte zogen, desto schwieriger wurde es irgendwann zu unterscheiden, was Kunst war, und was Exhibitionismus. Das Private war nicht mehr politisch, es war einfach nur öffentlich. Die Fotografie als soziales Gewissen funktionierte spätestens zu dem Zeitpunkt nicht mehr, als die Werbung den Begriff der Authentizität für sich entdeckte.

Das Bild hatte nicht mein ästhetisches Empfinden, sondern mein Empfinden von menschlicher Würde verletzt, selbst wenn das vermutlich niemand beabsichtigte. Wäre es nur hässlich oder schockierend gewesen, hätte es keine Zärtlichkeit gezeigt, läge die Sache wohl anders.

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Weisheit der Woche: Echte und falsche Tugenden

Nichts gegen Einsatz, Spielfreude, Biss, Entschlossenheit oder gar ein bisschen Ehrgeiz, aber das ewige Gier-Gelaber im Fußball ist mir schon seit Monaten auf die Nerven gegangen.

Nun scheint sich vielleicht doch eine andere Tugend oben auf der Hitliste zu etablieren, und diesmal wäre es eine echte, wie Christian Eichler in der FAZ online spekuliert – jetzt muss man damit nur noch nachhaltig Ernst machen:

Als die Dortmunder in den vergangenen beiden Jahren Meister wurden, prägten sie mit ihrem bissigen Spiel das neue Modewort der Liga: Gier. Jeder wollte seitdem „gierig“ spielen, auch die Bayern. Im Zusammenhang mit dem Fall Hoeneß hat das Wort seine wahre Bedeutung zurück erlangt. Prompt haben die Bayern ihrer angeblichen Einstellung, mit der man auch als Favorit in ein Spiel gehen will, ein neues Schlagwort verpasst – diesmal ein ethisch einwandfreies. Bayern-Vorstandschef Rummenigge sprach es kürzlich aus: Demut.

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Den Apfel madig machen: Lektionen in Unzufriedenheit

Was ist nicht wieder alles geschrieben worden über Apple in den letzten Tagen. Der Börsenkurs bricht ein, die Innovationskraft sei erlahmt, ja ganz Amerika drohe womöglich nun der technologische Abstieg. Jeder schien plötzlich seinen Senf dazugeben zu müssen, dass wir nicht wie inzwischen scheinbar gewohnt schon „the next big thing“ geliefert bekommen haben.

Ein Artikel jedoch schien gegen den Strom geschrieben: Schneller, flacher, Stopp vom Sophie Crocoll in der SZ. Sie erinnert daran, dass vor der Veröffentlichung des iPhone sage und schreibe fünf Jahre lang das Motorola Razr stilprägend war. Heute liegen die Produktzyklen bei sechs bis neun Monaten, nur Apple kann sich längere Pausen leisten als die Konkurrenz aus Korea und Taiwan.

Oder sollte ich sagen: konnte?

Immherin haben sie unter Steve Jobs gleich mehrmals das Rad mit Erfolg neu erfunden. Aber das geht eben nicht unbegrenzt oder auf Knopfdruck. Neulich postete ein Fanboy auf Facebook, Apple habe seine Zuneigung bald verspielt, wenn nicht der nächste große Wurf käme. Nur: Wie sollte der aussehen? Crocoll stellt nüchtern fest:

Aus der Revolution ist aber eine Evolution geworden. Und selbst die ist oft kaum zu erkennen. … Den Wettbewerb um die Kunden gewinnt, wer die beste Marketingmaschine bewegt. Längst zelebriert nicht mehr nur Apple seine Produktvorstellungen als Event. Bei jedem Branchentreffen präsentieren die Hersteller das flachste, das schnellste Handy der Welt – bis auch das, oft nur wenige Wochen später, seinen Status wieder verliert.

Bei William Cavanaugh bin ich auf den Begriff der „fabrizierten Unzufriedenheit“ (manufactured dissatisfation) gestoßen. Sie ist ein Schlüsselfaktor der Konsumgesellschaft: Kaum hat man ein Produkt erworben, kommt eine noch attraktivere und leistungsfähigere Version auf den Markt, die Begehrlichkeit weckt. Ebay lebt zum großen Teil davon, dass man die alten Geräte dort vertickt, weil man sich gerade wieder das Neueste geleistet hat. Crocoll dazu:

Früher haben die meisten Menschen ein neues Handy gekauft, wenn das alte kaputt ging. Nun wechseln sie das Gerät spätestens, wenn nach zwei Jahren der Vertrag mit dem Mobilfunkanbieter ausläuft. … Die Kunden sind auf das Karussell aufgestiegen und sie treiben es an: Wer stets das neueste Smartphone kauft, so scheint es vielen, bleibt selbst modern. Auch, wenn er den zusätzlichen Speicherplatz oder das bessere Mikrofon weder braucht noch nutzt.

Erfinder dieses Prinzips der „fabrizierten Unzufriedenheit“ war Charles Kettering von General Motors. Im Jahr 1929 (!) schrieb er einen Artikel mit der Überschrift: Keep the consumer dissatisfied. Aber die ganze Entwicklung führt in die Sackgasse: Finanziell, ökologisch, sozial und psychisch – wer sich ständig die Karotte vor die Nase hängen lässt, zieht den Karren der Konzerne bis zur völligen Erschöpfung. Wer sich einmal hat vorgaukeln lassen, dass sein Lebensglück an einem Gerät aus der Massenproduktion hängt, der liefert brav sein Geld ab, wenn das nächste überflüssige Detail verbessert wurde. Vielleicht sieht man das heute, über 80 Jahre nach Kettering und vier Jahre nach der „Abwrackprämie“, besser denn je. Wir hängen nicht mehr an unseren Sachen, schreibt Cavanaugh. Kaum haben wir sie, wollen wir sie schon wieder loswerden.

Falls irgendwer mal wieder einen echten Quantensprung hinlegt, sagt mir Bescheid. Es muss nicht Apple sein, vielleicht wird ja was aus dem fair produzierten Smartphone. Ich habe zum Glück keine Aktien aus Cupertino und die Computer habe ich gekauft, weil man nicht so oft einen neuen brauchte wie bei der Konkurrenz. Denn das ist der Punkt: Wenn Kunden und Konzerne nicht auf die Bremse treten (und sich Zeit nehmen zum Nachdenken, was sinnvoll wäre), dann gibt es keine richtigen Neuentwicklungen mehr, schreibt Crocoll.

Könnte jemand vielleicht die Werbung und das Konsumverhalten neu erfinden? Oder, besser noch, die Zufriedenheit?

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Endlich Wochenende!

Ist das in den letzten Jahren schlimmer geworden? Vor allem Radiomoderatoren blasen mächtig ins Wochenendhorn: dick aufgetragene Eulogien verstopfen den Freitagabendäther. Das klingt so, als ob man aus fünf Tagen Frondienst nun in die vorübergehende Freiheit entlassen würde, und weniger nach legitimer Freude über das, was man geschafft hat und was gelungen ist.

Mal ganz abgesehen davon, dass es auch Leute wie mich und viele andere nicht zutrifft, weil wir da arbeiten müssen, was sagt das über das Verhältnis des Durchschnittsdeutschen zu seinem Beruf aus? Nicht viel Positives, scheint mir. Offenbar sind wir damit nicht allein. William Cavanaugh schreibt in seinem kleinen, aber sehr feinen Buch Being Consumed. Economics and Christian Desire:

Viele Menschen betrachten ihre Arbeit nicht als sinnvoll, nur als Mittel zum Gehaltsscheck. Die eigene Arbeit ist zur Ware geworden, die man einem Arbeitgeber verkauft, um im Gegenzug Geld zu bekommen, mit dem man Sachen kauft. Für viele Menschen ist die Arbeit zu etwas geworden, was den Geist tötet.

Ist das die bittere Kehrseite des Wochenendkultes? Ich vermute, Cavanaugh hat Recht. Und die wenigsten populären Wochenendaktivitäten sind in der Lage, den angeschlagenen Geist wieder ins Lot zu bringen. Vor allem nicht jene, die primär mit Geldausgeben zu tun haben.

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Feuer ohne Folgen?

Die Nachricht schaffte es nicht auf die Titelseiten: Am Wochenende starben in Bangladesch 112 Frauen in einer Näherei, weil unter anderem H&M und Gap sich (im Unterschied zu Tchibo und PVH) bisher weigerten, von ihren Produzenten einen strengeren Feuerschutz zu verlangen und ein Abkommen mit Arbeitnehmervertretern zu schließen. Es gibt Proteste, aber die Aussichten auf deren Erfolg sind begrenzt. Die Mitverantwortlichen in den Chefetagen der Textilkonzerne, in deren Auftrag dort produziert wird, hüllen sich derweil in Schweigen. Erst im September gab es in Pakistan eine noch verheerendere Brandkatastrophe bei einem KiK-Zulieferer.

Es gibt einen historischen Präzedenzfall, der vielleicht ein bisschen hoffen lässt: Der Brand der Triangle Shirtwaist Factory 1904 in New York mit 146 Toten hatte zur Folge, dass die Stadtverwaltung die Fabrikanten schließlich doch zu Verbesserungen bei der Sicherheit zwang.

Wer Gap hoffentlich ein bisschen Feuer unter dem Hintern machen will, kann das hier tun. Und H&M am besten boykottieren, so lange sich da nichts tut!

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Kein Schwein zeigt mich an…?

Das ist schon lustig: Pete Rollins schreibt auf seiner Facebookseite, dass es seinem neuen Buch gut täte, wenn ihm irgendein Hardliner via Twitter den Ketzerhut verpassen würde. Allerdings hat sich Rollins selbst schon hinlänglich als Häretiker inszeniert.

Die einzige Möglichkeit, hier noch etwas umsatztreibend Skandalöses hinzukriegen, wäre also die, ihn für orthodox zu erklären: ein Imprimatur, eine Empfehlung auf desiring god – etwas in der Art.

Rollins denkt ja gern um eine Ecke mehr als der Normalbürger. Das müsste er bei seinem versuchten Rebel Sell jetzt eigentlich auch noch hinkriegen.

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Verzehr, Vernunft und Verordnungen

Die Zeit berichtet über gesundes und ungesundes Essverhalten und die Frage, was neben vernünftigen Erwägungen noch so alles unsere Ernährungsgewohnheiten steuert. Interessant fand ich diese Beobachtung zur Auswirkung von Verordnungen und Vorschriften:

Fischbach und ihre Kollegen gaben zwei Gruppen von Probanden identische Müsliriegel zu essen. Der einen Gruppe beschrieben sie den Snack als einen Gesundheitsriegel, der anderen als Schokoriegel. Einige durften selbst aussuchen, ob sie den vermeintlich gesunden oder lieber den leckeren probieren wollten, die anderen bekamen einen zugeteilt. Diejenigen, die den angeblich gesunden Riegel essen mussten, hatten hinterher mehr Hunger als die andere Gruppe. Diesen Effekt gab es dagegen nicht bei denen, die freiwillig den gesunden Riegel gewählt hatten.

Bevormundung führt schnell zu Trotz und bewirkt dann das Gegenteil des erwünschten Verhaltens. Daraus lässt sich jetzt sicher keine allgemeine Regel stricken, derart etwa, dass Regeln erst recht regelwidriges Verhalten fördern. Eher wäre es die Bestätigung dafür, wie wichtig es ist, das Richtige aus echter, eigener Überzeugung zu tun. Erst dann wird es offenbar zu einer wirklich befriedigenden Erfahrung.

(Nachtrag – Richtig peinlich ist diese Feststellung der nationalen Verzehrstudie: „Fast 40 Prozent der deutschen Männer haben noch nie einen Pfannkuchen zubereitet, fast die Hälfte hat noch nie eine Tomatensoße gekocht.“)

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Gib dem Affen Zucker(wasser)

Da haben sich die richtigen gefunden: Der Hersteller des ebenso klebrigen wie ungesunden Softdrinks „Dr. Pepper“ wirbt mit einer Evolutionsgrafik – und US-Kreationisten beweisen mit ihrer reflexartigen Empörung, dass zumindest die Evolution des Humors an ihnen komplett vorbei gegangen ist.

Es gibt viele gute Gründe für einen Homo Sapiens, das Zeug nicht zu trinken. Dass die Firma einfältigen Gemütern suggerieren will, ihr Stoff mache den Konsumenten erst zum Menschen, ist dabei kaum der wichtigste. Zur Evolution von Karies und Übergewicht hingegen dürfte er nachweislich beitragen.

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Essen-tielle Lektüre

Ich sitze gerade über Jesaja 55, wo sich der Prophet über Israels Bereitschaft beklagt, viel Geld für mieses Essen auszugeben. Nebenbei erinnere ich mich an die eine oder andere überteuerte und lieblos zubereitete Mahlzeit im Urlaub (es gabt auch andere!!).

Interessanterweise läuft derzeit die Diskussion wieder an, endlich auch mal ohne einen Lebensmittelskandal. Auf Spiegel Online schreibt Bastian Henrichs darüber, dass wir Europäer zuviel Essen an Tiere verfüttern und so indirekt Menschen in anderen Regionen der Welt die Nahrung wegessen (ganz zu schweigen von der grauenhaften Massentierhaltung, die unser billiges Fleisch erst möglich macht).

Und schon vorletzte Woche prangerte Berit Uhlmann in der SZ den Etikettenschwindel der Lebensmittelindustrie an und zitierte dabei unter anderem den Amerikaner Michael Pollan, der schlicht und einfach sagt:

Meiden Sie Lebensmittel, die Ihnen unbekannte, unaussprechliche oder mehr als fünf Zutaten haben.

In diesem Sinne: Allen BlogleserInnen ein schmackhaftes Wochenende!

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Alpha analysiert (1): Kochbuch-Methodismus und Zahlenverliebtheit

Zur Erinnerung: Ich hatte neulich meine positiven Erfahrungen mit Alpha und die guten Seiten dieses Konzepts gründlich beleuchtet. Jede Stärke hat freilich auch ihre Schattenseite, und auch die lässt sich klar benennen. Ich versuche das hier mal aus meiner begrenzten Perspektive.

1. Die quasi „magische“ Rezeptur:

Zugegeben, Alpha hat eine beeindruckende Erfolgsgeschichte geschrieben. Auf die statistische Seite komme ich später noch zurück, den ökumenischen Aspekt habe ich schon erwähnt. Da liegt es nahe, nach dem Grundsatz „never change a winning team“ zu verfahren, zumal sich auch bald herausstellte, dass viele eigenwillige Adaptionen (wir lassen ein paar Abende/Themen weg, wir verzichten auf das Wochenende etc.) keineswegs Verbesserungen darstellten.

So darf es durchaus inhaltliche Elementarisierungen wie Jugend-Alpha geben, und jede(r) Referent(in) vor Ort kann eigene Beispiele und Erfahrungen in seine Kursvorträge einbauen, man verzichtet auch auf „Zertifizierungen“ oder „Lizenzierungen“ (das gibt es bei anderen Konzepten durchaus auch). Der Freiheit des Anwenders entspricht aber eine starke Betonung der Werktreue. Nicky Gumbels Questions of Life ist unter der Hand zu einer Art sacred text geworden. Verständlicherweise: Man kann durchaus, vor allem wenn man in London lebt, wo gefühlt alle Welt Englisch zu sprechen scheint und die Interessenten aus aller Herren Länder einem die Tür einrennen (während man die Skeptiker und die Enttäuschten nie zu Gesicht bekommt), den Eindruck gewinnen, dass Alpha ohne jede mühsame „Portierung“ immer und überall „funktioniert“.

Das klappt bei Coca-Cola ja auch bestens: die geheimnisvolle Rezeptur verkauft sich überall auf der Welt so gut, dass man sie möglichst unangetastet lässt. Also hat nach 20 Jahren selbst Nicky Gumbel seinen Text nur ganz leicht bearbeitet. Ausgetauscht wurden ein paar Zitate und Beispiele, gleich blieb die modernistische Apologetik á la C.S. Lewis und Nicky Gumbels Rhetorik im Stile des After-Dinner-Talks. Bei Schulungen und Trainingstagen wird – mit einem gewissen Recht – dann auch empfohlen, sich zunächst einmal möglichst so genau ans „Rezept“ zu halten, wie man das als Laie bei einem Kochbuch von Jamie Oliver tun würde.

Eine (nicht nur mir) aus hunderten von Gesprächen mit Leuten an der „Basis“ bekannte Tatsache ist aber auch, dass dieser Ansatz viele überfordert. Intuitiv merken „Anwender“, dass Stil und/oder Inhalt gewisse Inkompatibilitäten mit dem eigenen Kontext aufweisen. Und dann entstehen aus der Verlegenheit heraus problematische Adaptionen, die wiederum nur den Appell zu größerer „Werktreue“ verstärken. In der Schweiz hatte der katholische Pfarrer Leo Tanner das Problem schnell erkannt und das Material für seinen Kontext bearbeitet. Es war und blieb jedoch ein inoffizieller Schritt, dem keine weiteren mehr folgten.

Angesichts der Tatsache, dass unsere Gesellschaft seit Anfang der Neunziger viel postmoderner geworden ist, dass Deutschland mit seinem Drittelmix aus Protestantismus, Katholizismus und Atheismus in Glaubensdingen anders „tickt“ als die Briten, und angesichts der spürbaren Veränderungen, die der 11. September 2001 in der öffentlichen Debatte über Religion in der Gesellschaft ausgelöst hat, hätte hier gedanklich mehr investiert werden müssen. Nicky Gumbel dagegen ist keiner, der unentwegt theologisches und gesellschaftliches Neuland erkundet, sondern ein Meister des Recyclings. Egal ob er auf Dawkins oder den Da Vinci Code antwortet, er greift immer wieder auf seine eigenen Argumente zurück, die er in Why Jesus, einer Auskopplung aus Questions of Life, vor gut 20 Jahren geschrieben hat.

Dieser Hang zum Methodismus und die Konzentration auf eine zentrale Figur zeigen sich auch an anderer Stelle: Die Einheit der Kirchengemeinde Holy Trinity Brompton mit ihren vielen Gottesdiensten, die etwa in der Frage von Uhrzeit, Musikstil und Ambiente durchaus eine gewisse Vielfalt aufweist, hängt vor allem am Aushängeschild oder der Galionsfigur des Predigers, und so muss Nicky sich gelegentlich aus einem laufenden Gottesdienst ausklinken, um rechtzeitig am nächsten Veranstaltungsort zu erscheinen, wenn er nicht gleich per Video als digitale Konserve dort eingespielt wird. Oder darin, dass neben Alpha alle möglichen Kurse entwickelt und von einem engagierten Vertriebsteam verbreitet worden sind: Allen voran der Marriage Course (das Gesamtprogramm Ehe und Familie firmiert unter „Relationship Central„), dazu kommt zum Beispiel „Worship Central“ oder „God at Work“ aus der Feder des Investment-Bankers und HTB Ken Costa, der zwar einen ethischen Kapitalismus möchte, aber eine europäische Bankensteuer vehement ablehnt.

Der Begriff „Zentrale“ fällt keineswegs zufällig, er spiegelt eine bestimmte Mentalität wider: Vor zwei Jahren traf ich den Leiter des missionarischen Amtes einer deutschen Landeskirche, der gerade aus London zurückkam und etwas konsterniert bemerkte, dort werde ja für jede Lebenslage ein Kurs angeboten. Ich bin sicher, dass viele Menschen von diesen Kursen profitieren. Zugleich entsteht aber auch der Eindruck, dass da im Prinzip schon alle Antworten irgendwo vorfabriziert und abrufbar sind. Es kommt viel heraus aus diesem Pool, aber man ist (wie bei so manchen Megachurches) nicht immer sicher, ob da auch noch viel von Außen hineingeht.

Zurück zu Alpha: Ich vermute ja, dass weniger der theologische Gehalt der Vorträge den Kurs so populär gemacht hat als vielmehr der informelle Stil, die schon lobend erwähnte Kultur der Gastfreundschaft und – sofern er live oder (in vielen Kursen außerhalb von London) via DVD erscheint – die sympathische Ausstrahlung von Nicky Gumbel.

2. Verliebt in Zahlen

In den ersten Jahren verlief das Wachstum von Alpha spontan und tatsächlich exponentiell. Natürlich hält eine solche Entwicklung nie unbegrenzt, und so begannen die Kurven flacher zu werden. Nun könnte man sich damit begnügen, die guten Erfahrungen der Gemeindebasis weiterhin für sich selbst sprechen zu lassen. Dann hätte sich ein verzweigtes, aber vielleicht auch etwas unübersichtliches Netzwerk entwickelt. In den letzten Jahren wurde allerdings die Tendenz immer deutlicher, aus Alpha eine Art Franchise-System zu machen: Man lizensiert ein Erfolgskonzept an einen regionalen oder nationalen Vertriebspartner, der vor Ort zwar selbständig agiert, aber mit sehr klaren Vorgaben und Erwartungen.

Der überraschende Anfangserfolg wie die beschriebene Entscheidung zur Vertriebsstruktur bedingen eine gewisse Zahlenverliebtheit, die bis heute ein hervorstechendes Merkmal der Öffentlichkeitsarbeit von Alpha ist, wie das Video oben zeigt. Wenn aber das Selbstbild mit der ansteigenden Kurve gekoppelt ist, kann das zur Falle werden. Zum einen wecken diese Kurven unrealistische Erfolgserwartungen bei Leuten, die Kurse anbieten wollen. Zum anderen wirken sinkende Zahlen nach innen verunsichernd, weil sie vom System her nicht vorgesehen sind, das sich auf die Geschichten von Wachstum und Erfolg spezialisiert hat, die sich in Zahlen darstellen lassen. Als wir die Statistik für Deutschland vor ein paar Jahren kräftig nach unten korrigierten – nicht aufgrund eines echten Rückgangs, sondern weil Kurse, deren Daten in den letzten 12 Monaten nicht aktualisiert wurden, jetzt automatisch nicht mehr erschienen – hat das reichlich Unruhe ausgelöst auf beiden Seiten des Ärmelkanals.

Es ist gewiss auch gesunder Pragmatismus, wenn man versucht, immer auf das Positive zu sehen, die Erfolge zu feiern, sich mit Problemen und Niederlagen nicht lange und schon gar nicht allzu öffentlich aufzuhalten. Statt lange über die Gründe des Scheiterns zu philosophieren, steht man lieber auf, blickt nach vorn, beschreitet andere Wege oder findet neue Partner. Geht man diesen Schritt aber zu schnell, dann verpasst man die Gelegenheit, über tiefere Fragen nachzudenken als die Arithmetik der Kennzahlen – und dabei etwas über sich selbst zu lernen, das einen schließlich auch verändern kann. Erfolge zu feiern und über Niederlagen zu trauern ist kein Widerspruch, sondern nur ein gesundes Gleichgewicht. Mit der sprichwörtlichen britischen stiff upper lip funktioniert das für mein Empfinden eher schlecht.

Der britische Theologe John Drane hat schon 2008 recht scharf formuliert:

Alpha is highly rationalized, and though to some people the label of ‚McDonaldization‘ is a bad thing, ab by-word for oppressive structures, narrow-mindedness and personal exploitation, Nicky Gumbel repeatedly cites the business model associated with this label as a way of justifying the imposition of a rigid form of control that insists that Alpha must conform to a particular scheme wherever it is delivered, regardless of the local cultural context. … In spite of the fact that discussion and questioning appears to be encouraged, the reality is that Nicky Gumbel always ha the right answer. Alpha tries to address this criticism though its informal style, the emphasis on meals, time spent in groups, and going away for weekends. … To use a communal model effectively, we need to trust the process, and Alpha (at least in its official formulations) fails to to this because all the outcomes need to be tidy.

Ich weiß nicht, ob etwa Graham Tomlin auf Dranes Bedenken irgendwo geantwortet hat. An anderer Stelle (vgl. z.B. den Godpod des St. Paul’s Theological Centre, wo auch Jane Williams – die Frau von Rowan Williams – mitwirkt) wird ja durchaus offen und mit weitem Horizont diskutiert. Vielleicht wirkt sich das irgendwann auch einmal auf andere Bereiche des HTB-Kosmos aus.

Mir geht es mit diesem Zitat nur darum zu zeigen, dass eben immer wieder dieselben Punkte hinterfragt werden. Und aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass solche Kritik organisationsintern auf den internationalen Alpha-Treffen, an denen ich teilgenommen habe, nirgendwo diskutiert wurde. Man breitet einfach den Mantel des Schweigens darüber – vielleicht auch nur aus Hilflosigkeit. Aber manchmal ist keine Antwort für das Gegenüber eben auch eine Antwort. Im Alpha-Kurs, das habe ich gleich zu Beginn gelernt und seither auch immer beherzigt, sind alle Fragen erlaubt. Meine Hoffnung ist, dass die Organisation, die daraus entstanden ist, das auch eines Tages noch lernt.

Mehr als das Hochglanz-Marketing, schreibt John Drane am Ende des oben zitierten Artikels, ist vielleicht ja die ehrliche Verletzlichkeit derer, die im Alpha-Kurs mitarbeiten, das Geheimnis seines offensichtlichen Erfolges.

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Bäh, langweilig!

„Mir ist langweilig!“ Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz aus einem Kindermund im Laufe der Jahre gehört habe. Die meisten Unterrichtsfächer in der Schule wurden als „langweilig“ eingestuft; mag sein, dass der eine oder andere Pädagoge auch seinen Teil dazu beitrug, vor allem aber konnte das System Schule eben kaum anstinken gegen Youtube, Xbox und iPod und die Fixierung auf deren Inhalte. Selbst Joggen im Wald ohne Berieselung auf den Ohren galt schon wieder als „langweilig“: Am besten ein Klamauk- oder Actionvideo gucken und nebenher noch chatten mit den Freunden.

Das Urteil „langweilig!“ erklingt meist im Ton der Majestätsbeleidigung. Als gebe es ein Grundrecht auf Dauerbespaßung durch die Mediengesellschaft, das einem in diesen Augenblicken boshaft verwehrt wird. Und das ist es, was mich unruhig macht: Wie lässt sich früh genug vermitteln, dass Langeweile zum Leben dazugehört? Dass jede Arbeit langweilige Anteile hat, dass es auch in der besten Beziehung nicht in einer Tour „funkt“, dass geistliches Leben immer auch Wüstenzeiten und Durststrecken enthält und dass jede persönliche Entwicklung scheitert, wenn man in solchen Momenten aussteigt und nach einem neuen Reiz sucht?

Anders gefragt: Ist es nicht ein Schlüsselthema für jegliche Art von Bildung, Menschen an Langweile zu gewöhnen? Es hat viel mit der Fähigkeit zu tun, sich selbst zu beruhigen und zu motivieren. Und sich zu interessieren, Anteil zu nehmen, Fremdheit zuzulassen! Wenn Langeweile keine Fluchtreflexe mehr auslöst, kann sie den gewohnheitsmäßigen Konsumenten zur Kreativität verleiten, zum Blick in die Tiefe ermuntern und den eingeschränkten Horizont erweitern.

Wenn mich immer jemand vor meiner Langeweile gerettet hätte, wäre ich heute kein Christ. Ich fing überhaupt erst richtig zu suchen und zu fragen an, als ich länger krank war, alle spannenden Bücher ausgelesen hatte und weil damals Fernsehen erst um 17.00 begann und ab 19.00 Uhr schon wieder langweilig wurde. Der Weg zu einem erwachsenen Umgang mit sich selbst und dem Leben führt nicht an der Langeweile vorbei, sondern durch sie hindurch. Nur: wie vermitteln wir das all den indignierten kleinen Majestäten? Ich habe schon vor einer Weile einmal Christian Schüle aus einem Beitrag für die Zeit zitiert:

Langeweile ist eine Erfindung der Beschleunigungsgesellschaft, deren Mitglieder fürchten, zu sich selbst kommen zu müssen und Leere zu finden.

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Erst auspowern, dann auftanken?

Work hard, play hard – erst auspowern und dann auftanken – ist ein verbreitetes Mantra der Leistungs- und Konsumgesellschaft. Wer reichlich Erfolg und dafür hart gearbeitet hat, hat auch genug Geld, um sich nötige Wellness zuzukaufen, von der lila Pause oder dem Ayurvedatee bis zum von hilfreichen Geistern umschwärmten Aufenthalt in einem Luxusresort. Die Aufgabe der Regeneration wird also zunehmend delegiert, und es finden sich bereitwillig Anbieter, die uns das dafür nötige Denken und Planen professionell abnehmen. Beruflich oder in der Familie stresst uns die Verantwortung ja schon genug. Zum umsichtigen Durchatmen bleibt da nicht mehr so viel eigene Energie.

Da wir – nicht ganz zu Unrecht, aber vielleicht zu ausschließlich – das geistliche Leben mit Regeneration verbinden, bieten alle möglichen christlichen Institutionen nun „Verwöhntage“ und Ähnliches an, selbst jene, die eine Anpassung an den Zeitgeist sonst strikt ablehnen. Mag sein, dass es die alte Anknüpfungsstrategie ist, mit der man Glauben wieder praktisch relevant zu machen versucht. Und freilich gibt es „aus biblischer Sicht“ einiges Aufmunternde zu sagen über müde Seelen (und wenn sie schon mal für ein Wochenende da sind, kann man sie physisch und psychisch auch kurz wohlig durchkneten). Entsprechend reden viele (durchaus dankbar, aber leider in einem Bild, das Passivität suggeriert) vom „Aufatmen“, „Auftanken“ oder „Akkus Aufladen“.

Kann es trotzdem sein, dass allein der Rahmen, in den wir Dinge wie die Beschäftigung mit Gott und dem eigenen Innenleben einordnen, ihnen die eigentliche Spitze nimmt? Deklarieren wir sie unter der Hand um zur Freizeitbeschäftigung, ein „nice-to-have“, wie es neudeutsch heißt, eine Art mentalen Energieriegel oder ein Maskottchen für unseren Weg auf der imaginären Siegerstraße? Und ist es so betrachtet vielleicht auch kein Wunder, dass wir dem praktischen Dualismus von Leistung und Konsum, Selbstausbeutung und Fremdverwöhnung, Aktionismus und Passivität, durchökonomisierter „Welt“ und apolitischer, eskapistischer Spiritualität oft so wenig entgegenzusetzen haben?

Die wirkliche Relevanz des Glaubens besteht darin, dass er uns helfen kann, eben diese Schizophrenie zu überwinden. Dann aber dürfen wir ihn nicht in die Wellness-Schublade stecken, nicht als weitere Freizeitaktivität (miss)verstehen, sondern als den bewussten Schritt über die alten Gegensätze hinaus an einen Ort, wo uns weder die Ansprüche von außen noch die eigenen Bedürfnisse so besetzen können, dass wir ihrer Eigendynamik ausgeliefert sind. Funktionieren wird das aber nur, wenn wir Gott als den Urgrund der inneren wie der äußeren Welt nicht nur als ein gedankliches Konzept behandeln, sondern als ein nahes, lebendiges Gegenüber erfahren.

Hier zerbricht der oben skizzierte Gegensatz schon deshalb, weil diese Erfahrung einerseits nicht machbar ist, Gott sich andererseits aber von denen finden lässt (oder die findet), die ihn suchen. Mit einem lahmen „melde dich doch bei Gelegenheit“, das dem anderen die Initiative überlässt, ist es im geistlichen Leben daher nicht getan. Es ist die eine Sache, wo wir mit ganzem Herzen, ganzer Seele und all unserer Kraft gefordert sind. Franz Jalicz sagt es in seinem jüngst erschienenen Buch über geistliche Begleitung

Die Hektik der Welt hat auf uns ihren ausschließlichen Anspruch verloren. Wir schauen mehr auf das Ewige als darauf, was auf Erden geschieht, und doch bewirken wir durch Jesus mehr auf Erden also vorher.

Mit der Ewigkeit ist nicht ein „später“ gemeint (das „Leben nach dem Tod“), sondern die Dimension Gottes, die wir im allzu „irdischen“ Alltag oft aus dem Blick verlieren. Wenn sie durchbricht, dann verändert sie nicht nur unser Inneres, sondern auch unsere Umgebung.

(Ein paar Impulse zur praktischen Umsetzung habe ich aktuell hier gepostet)

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Meer Leidenschaft – muss das sein?

Am Ufer des Zürichsees treffe ich auf einen Strandkorb aus Sylt, auf dem ein Slogan prangt, der irgendwas von Meer Leidenschaft verheißt. Der Begriff „Leidenschaft“ ist ja inzwischen nicht mehr so ganz originell in der Werbung. Es scheint ein gefühltes Leidenschaftsdefizit zu geben, und mit der Aussicht auf Leidenschaft lässt sich scheinbar alles mögliche verkaufen. Freilich bleibt die Frage, wie lange eine von außen induzierte, gekaufte Passion denn hält.

Stimmt die Analyse – sind wir tatsächlich so leidenschaftslos? Und wenn ja, was hat es mit der Konsum- und Wohlstandsgesellschaft zu tun und ihren tausendfachen Zerstreuungen? Oder ist auch „Leidenschaft“ (wie schon „Authentizität“) so ein überbewertetes Verkäufer-Schlagwort geworden, das irgendwie noch an ein paar vage Restsehnsüchte anderweitig übersättigter Menschen appellieren soll? Ist sie denn gezielt herstellbar oder wie Glück eher eine Begleiterscheinung, ein Abfallprodukt ganz anderer Dinge und Tätigkeiten? Kann sie überhaupt ein Ziel sein, oder er-folgt sie nur dann, wenn man es nicht auf sie abgesehen hat? Ist die Forderung nach mehr Leidenschaft vielleicht ähnlich absurd wie das beliebte „sei doch mal spontan?“

Um Ostern herum habe ich eine Diskussion verfolgt, die in eine ähnliche Richtung lief: Warum feiern Christen Ostern nicht ausgelassener, fröhlicher, begeisterter – eben: leidenschaftlicher? Jemand verglich das Ganze mit dem Jubel beim Gewinn der Fußball-WM. Zustimmung rundherum wurde geäußert. Also nicht nur spontane, sondern spontan öffentlich inszenierte Leidenschaft ist das Ziel der Übung. Stille Freude ist deswegen schon so unbefriedigend, weil sie nicht demonstrativ genug ist. Alle müssen es sehen.

Kann man je leidenschaftlich genug sein? Die Selbstbezichtigung fehlender Leidenschaft kommt mir wie ein integrierter evangelikaler Bußreflex vor – eine spätmoderne Variante der mittelalterlichen Selbstgeißelungen. Wer diesen nie-genug-Knopf drückt, erzielt immer Wirkung. Das mag mit dem Selbstbild und dem eigenen Anspruch zu tun haben: Unter viele lauen Christen sind „wir“ nicht nur die besonders engagierten, sondern auch die, die Gott am leidenschaftlichsten lieben. Freilich schwankt der Grad der Leidenschaft im wirklichen Leben, also muss immer nachjustiert werden. Niemand wagt zu sagen, dass es jetzt genug ist. Denn so fängt das Lausein bekanntlich an, das Gott so zuwider ist.

Das kann dann schon Blüten treiben (und in Stress ausarten): In der Diskussion um den Osterjubel habe ich mich gefragt, zu welcher Begeisterung selbst der glühendste Fußballfan (wenn das jetzt die neue Norm ist…) fähig wäre, wenn sein Club vor 2.000 Jahren die Champions League gewonnen hätte. Viel von diesem spontanen Jubel liegt ja an der Ungewissheit im Vorfeld und der Spannung, die sich im Augenblick des Sieges entlädt (hatten wir ja diese Woche erst…). Das aber ist eben nicht beliebig reproduzierbar.

Dass wir nach knapp 2.000 Jahren noch Ostern feiern, obwohl wir nicht mehr mitfiebern müssen, ob Jesus auch dieses Jahr wieder auferstehen wird (und uns sein Tod auch nicht mehr in abgrundtiefe Verzweiflung stürzt jeden Karfreitag), ist doch vielleicht auch schon eine ganze Menge? Soll man die zarte Freude über Gottes große Taten immer dadurch gleich wieder abwürgen, dass man pflichtschuldig darüber klagt, sie mit dem eigenen Gefühl nicht einholen zu können? Lenkt das Schielen auf den emotionalen Puls, mithin auf uns selbst, nicht davon ab. das Fest unbeschwert zu feiern und uns selbst endlich mal nicht so wichtig zu nehmen? Aber wäre nicht das der Punkt, an dem Freude wieder „spontan“ entstehen kann, weil wir – endlich einmal! – unter keinem Erwartungsdruck und unter keiner Beobachtung mehr stehen?

Ein konstruktiver Gedanke kam mir dann doch noch zu Ostern. Wenn schon der Fußball das Maß der Dinge ist, warum nicht mal einen Autokorso am Ostersonntag in aller Herrgottsfrühe – hupend und fahnenschwenkend ein paar Stunden durch die Stadt rasen? Ganz authentisch und ganz öffentlich und – da bin ich mir ganz sicher – es wird sehr, sehr leidenschaftliche Reaktionen hervorrufen.

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Voll im Flow

Gestern hatte ich endlich Zeit, den Dokumentarfilm Work Hard – Play Hard von Carmen Losmann zu sehen. Er zeigt den alltäglichen Wahnsinn der Büro- und Personaloptimierer – ob das nun Consultants sind, Architekten, Vertreter von Personalsoftware oder Teamtrainer in Kletterguten. Die FAZ schreibt im Feuilleton ganz treffend über frische Farben und Kaffeenischen:

Man soll sich wohl fühlen, ohne faul zu werden, konzentriert und effektiv arbeiten, aber dabei einen „Flow“ bekommen, weil man sich in diesem Zustand am besten selbst ausbeutet.

Dieser innere Zwang zu Selbstausbeutung, der durch all die Manipulationen des Arbeitsumfelds ausgelöst wird, kommt wirklich gut heraus. Ein Film, den man unbedingt sehen sollte. Nicht wegen des vordergründigen Enthüllungscharakters, er zeigt ja keine Geheimnisse, die verdeckt gefilmt werden mussten. Die Akteure treten sich ja freiwillig auf.

Dennoch wird hier ganz allmählich und leise sichtbar, dass in der Branche zwar viel vom Menschen geredet wird, aber immer nur der Profit gemeint ist. In der Einstiegssequenz über den Neubau von Unilever in Hamburgs Hafencity fordert der Boss in einer grandios uninspirierten Rede eine Verdoppelung des Umsatzes (oder war’s der Gewinn?). Und niemand fragt, ob der alle Tassen im Schrank hat.

Symptomatisch für diese Kombination aus Huxley und Orwell ist vielleicht die Szene, wo bei einem Teamtraining die Crew mit verbundenen Augen durch einen Tunnel robbt, um sinnlose Aufgaben zu erledigen, und der Chef mit den Trainern alles über den Monitor beobachtet und seine Rückschlüsse daraus zieht. Einen Orden für Mut und Ehrlichkeit verdient hat dagegen die Postangestellte, die (nach Einführung des LEAN-Programms) dem Teamleiter auf die Frage, wie der gestrige Tag so verlief, antwortet: „Gut – da war ich auch nicht hier.“

Vielleicht lag es an den Sachen, die ich in den letzten Tagen gelesen habe, aber als ich aus dem Filmhaus kam, habe ich mich gefragt: Hat schon jemand darüber nachgedacht, wie eine Befreiungstheologie für die Frondienstleistenden der schönen neuen Firmenwelt aussehen müsste? Ich muss vielleicht mal bei Walter Brueggemann nachlesen…

Frage zum Schluss: Kann man eigentlich Christ sein und Unternehmensberater? Und wenn ja, was bedeutet das ganz konkret für das Berufsethos? Oder wird man unweigerlich, auch mit den besten Vorsätzen, zum Komplizen derer, die auch noch das letzte Quäntchen Leistung aus ihren Leuten herauszupressen versuchen, weil man ein unmenschliches System stabilisiert, statt es zu bekämpfen?

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