Propheten (3): Die Abstumpfung überwinden

Die satte und leidenschaftslose Mentalität, die Salomo und Pharao an den Tag legen, verdrängt das Wissen von der eigenen Endlichkeit und Begrenztheit. Der Prophet muss zu allererst die Freiheit schaffen, sich eine Alternative überhaupt wieder vorzustellen. Eine kreative Aufgabe:

Ich vermute, dass unser Selbstkonzept als Propheten in spe meistens zu ernst, realistisch und sogar verbissen ist. Doch […] der charakteristische Weg eines Propheten in Israel ist der der Poesie und Lyrik. Der Prophet engagiert sich im Ausmalen der Zukunft. Der Prophet fragt nicht, ob die Vision umgesetzt werden kann, denn Fragen der Umsetzung sind ohne Folgen, bis man sich die Vision vorstellen kann. […] Unsere Kultur kann fast alles implementieren, aber fast nichts imaginieren.

Phantasie und Vorstellungskraft sind eine Bedrohung für jedes Regime, weil es an der Stabilisierung seiner Macht interessiert ist, nicht an dem was sein könnte.


Daher sind Kunst und Poesie so gefährlich für die arrangierte Prosa (“managed prose”) des Imperiums. Menschen täuschen oder zerstreuen sich selbst und stumpfen ab, auch und vor allem im Hinblick auf den drohenden Tod. Denn spätestens der Tod erinnert unausweichlich daran, dass nicht alles machbar ist und gemanagt werden kann. Dem gegenüber ist es die Aufgabe des Propheten

  • Symbole anzubieten, mit denen man dem Schrecken entgegen tritt, der die Abstumpfung und Verdrängung nötig gemacht hat. Dazu können auch Symbole aus der Tradition belebt werden.
  • Die Ängste und den Schrecken ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, den wohl einzelne empfinden, aber den die Gemeinschaft unterdrückt.
  • Mit Gottes Leidenschaft über unsere erschreckende Todverfallenheit und ihre Auswirkungen zu sprechen.

Der Prophet schilt und tadelt nicht. Der Prophet verleiht der Furcht vor dem Ende einen öffentlichen Ausdruck, dem Zusammenbruch unserer Eigenmacht, den Barrieren und Hackordnungen die uns absichern auf Kosten der jeweils anderen und der furchterregenden Praxis, vom Tisch eines hungrigen Bruders oder einer hungrigen Schwester zu essen.

Das Beispiel par excellence für diesen Zusammenhang ist Jeremia. Er bietet keine Lösungen an, sondern entlarvt den tödlichen Selbstbetrug seiner Generation und trauert – weil sein Volk untergeht und weil es niemanden zu kümmern scheint. Sein Schmerz und sein Klagen ist der Schmerz und das Klagen Gottes. Aber der Untergang ist nicht mehr abzuwenden, keiner will hören.

Der Prophet ist in einen Kampf um die Sprache verwickelt, im Bemühen, eine andere Epistemologie zu schaffen, aus der eine andere Gemeinschaft entstehen könnte. Der Prophet spricht keine Verhaltensprobleme an. Er drängt nicht einmal auf Umkehr. Er hat nur die Hoffnung, dass der Schmerz Gottes die Taubheit der Geschichte durchdringt. (…)

Jesus, sagt Brueggemann, hat das verstanden: Nur wer weinen und trauern kann, ist bereit für das Neue. Niemand möchte dem Tod ins Auge sehen. Weinen ist radikale Kritik. Könige weinen daher selten, weil sie zu Recht fürchten, sie könnten ihren Thron verlieren.

Propheten als weinende Dichter, die Menschen helfen, radikal ehrlich mit sich selbst zu sein und die Beschwichtigungsmechanismen aushebeln, die diese Einsicht verhindern – das ist starker Tobak. Wir alle hätten doch lieber Propheten, die trösten und verbinden, statt erst einmal Wunden aufzureißen. Wir alle hätten lieber Lösungen als quälende Fragen. Kontinuität und Berechenbarkeit sind uns lieber als Veränderung, die aus Gottes Leiden an der Welt (und an uns) geboren wird. Aber ohne Sterben ist kein Neubeginn möglich.

Manchmal frage ich mich, ob nicht manche Künstler prophetischer sind als viele Christen. Sowohl in ihrer Fähigkeit, den Schmerz spürbar zu machen, als auch in der Art, wie sie von einer anderen Welt träumen, malen, singen und schreiben. Und ob der erste Schritt zu einer prophetischen Kirche der wäre, ihnen auch dann noch zuzuhören, wenn es uns weh tut. Das wird davon abhängen, wie gut wir mit offenen Fragen leben können oder ob wir immer gleich einfache, “implementierbare” Antworten brauchen.

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