Mein Problem mit vielem, was da praktiziert wird, ist ein doppeltes: Selbst wenn man “Wort Gottes” und Bibel (bzw. Heilige Schrift) mal etwas simpel in eins setzt, ist es ja doch immer nur ein relativ willkürlicher Ausschnitt, der da in der Regel proklamiert wird. Weil es ein selektiver Ausschnitt ist, geht die Geschichte, die alles verbindet, dabei schnell verloren. “Wort Gottes” wird eklektisch atomisiert. Mit dem Kontext geht auch viel der eigentlichen Bedeutung und tieferer Inhalt verloren. Alan Hirsch sagte heute, die ersten Christen waren “people of the story, not people of the book”.
Zweitens, und das wiegt noch schwerer, wird hier Schrift und Wirklichkeit oft falsch bzw. überhaupt nicht verknüpft. Es ist ja Gottes Wirklichkeit und Gottes Welt, in der wir leben; Gottes Wort sollte uns diese Welt tiefer aufschließen und eine Sehhilfe sein, sein Wirken um uns her wahrzunehmen – auch und gerade in den schweren Zeiten. So aber entsteht eine Überlagerung und eine Verleugnung der Wirklichkeit. Leute bringen ihr tatsächliches Leben und Gottes Wort nicht zusammen, sondern es entsteht eine Spaltung der Realität, die sicher hier und da Auswirkungen hat (irgendwas wirkt und passiert also schon), aber die sind oft sehr gemischt.
Dallas Willard hat in Divine Conspiracy eine tolle Art entwickelt, Gott und unser Leben oder Himmel und Erde zusammen zu sehen und zu denken. Dann erklärt er auch, warum und wie beten die Wirklichkeit beeinflusst und warum Bitten und Antworten statt fordern und beanspruchen der Weg zur Veränderung sind.
“The Divine Conspiracy : Rediscovering Our Hidden Life In God” (Dallas Willard)
Du sprichst etwas meiner Meinung nach sehr Wesentliches an: Das Schriftverständnis. Dass wir uns in weiten Teilen darauf gestürzt haben, „people of the book zu sein“ scheint mir Symptom für ein ganz tiefes Missverständnis zu sein. Über Gott, über die Welt, über uns … Ganz auf dieser Linie ist die gern bemühte Floskel „Das Wort Gottes sagt …“
Wenn ich Deine Beiträge lese, merke ich immer wieder, dass Du mit Deinen Fragen mal mehr, mal weniger offensichtlich an dieses in frommen Kreisen eingebürgerte Schriftverständis rührst und es hinterfragst. – Müsste man sich darüber nicht einmal ganz grundsätzlich Gedanken machen? Ich wäre sehr dankbar dafür.
Das Buch interessiert mich, allerdings ist ein Sachbuch in Englisch leider kein wahres Lesevergnügen für mich, mal schaun …
Erstaunlich finde ich immer wieder, wie im Neuen Testament Paulus und die anderen Herren Apostel Schriftstellen zitieren und in ihre Argumentation integrieren, z.T. nur Halbsätze aus vordergründig völlig anderem Zusammenhang (z.B. Röm. 9,15 zitiert 2.Mose 33,19 um die freie Gnadenwahl zu untermauern, die Geschichte geht aber um Mose, der die Herrlichkeit Gottes sehen will), bei mir im Studium wäre diese Zitierpraxis nicht durchgegangen. Warum steht sie in der Bibel? Ich meine, weil die „Story“ tatsächlich eine größere ist und auch das Unsichtbare miteinschließt, ich denke, die Welt, in der wir leben ist eben nicht nur eine Sichtbare, wo uns biblische Aussagen Trost und Erläuterung sind. Warum sollte, um bei Römer zu bleiben, Röm. 10, 10 sagen: „Denn wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.“? Wenn man auf das Sichtbare schaut, gibt es keinen Grund anzunehmen, daß allein irgend ein ausgesprochenes Bekenntnis zu irgendetwas zur „Rettung“ meiner Person beitragen sollte, keine physikalische Kausalkette oder psychologische Theorie könnte erklären, warum auch immer das zur „Rettung“ von jemand dienen sollte (Rettung von was eigentlich im Sichtbaren?). Und doch glaube ich, daß es irgendwo schon da ist. Klar, das hat mit der geschauten Wirklichkeit aktuell vielleicht nichts zu tun, aber gerade durch den Glauben an solche Aussagen verleugnen wir nicht die Wirklichkeit, sondern stellen gerade damit den Zusammenhang mit der größeren Story her, weil es einen Raum gibt, wo solche Aussagen gelten. Und durch den Glauben können wir vorhandene Wahrheiten in unsere sichtbare Welt „reinglauben“, ob eine stolze Anspruchhaltung Gott gegenüber die richtige Haltung ist wage ich zu bezweifeln, nicht bezweifle ich allerdings, daß Gott uns noch viel mehr daraus für unser Leben entdecken lassen möchte.
Guter Kommentar – das mit den eigenwilligen Zitierformen stimmt. Allerdings stimmt eben die Story bei Paulus und den anderen „Herren“, während vieles bei uns viel selbstbezogener und kurzsichtiger ist.
Das Sichtbare und das Unsichtbare: Da bin ich mir nicht sicher, ob der Gegensatz so existiert. Gott ist ja in dieser Welt sichtbar und hörbar geworden, und genau darauf bezieht sich der Glaube. Er ist nur eine andere Art des „Sehens“, und das habe ich mit dem tieferen Verstehen der Welt sagen wollen. Eben, wie Du sagst, mehr als Kausalketten und immanente Dynamik, sondern eine Welt, die immer und an jedem Punkt offen ist für Gott und das Unerwartete.
Dann gibt es das „Noch nicht Sichtbare“ – und das ist der Bereich der Hoffnung. Hoffnung, das das nicht alles ist oder sein muss, was wir aktuell erleben, die „Sachzwänge“ etwa. Aber die Hoffnung wird stärker, wenn wir sie als eine Geschichte verstehen und erzählen lernen, in die unsere Geschichte verwoben ist. Sie besteht dann weiter, wenn wir Enttäuschungen und Rückschläge erleben und nicht alles aufgeht und glatt läuft. Und richtig verstanden ist das dann auch eine Leistung des Glaubens, uns durch solche Momente zu tragen, auch wenn die Umstände sich nicht verändern. Klar gibt es da viel zu entdecken!
sehr cooler post – bzw. postreihe.