Im Rahmen einer Fortbildung habe ich am letzten Sonntag einen – durchaus gut gestalteten – agendarischen Gottesdienst besucht. Es war eine eigentümliche Mischung aus Befremden und Wiedererkennen für mich. Und nachdem ich hier schon vor längerer Zeit einmal die Frage gestellt hatte, was eigentlich unsere Liturgie „predigt“, war diesmal mein Gesamteindruck der, dass hier ein sehr starker und – jetzt lehne ich mich aus dem Fenster – auch recht einseitiger Akzent auf Schuld und Vergebung zu spüren war, der von den Chorälen noch unterstrichen wurde.
Dagegen erscheint das Heil in den Formulierungen tendenziell doch eher als etwas zukünftig-jenseitiges, es wird daher erbeten und verheißen, aber nicht so richtig gefeiert und genossen. Zwei Aspekte, die völlig untergehen, sind das Wachsen im Glauben (der Pietismus würden hier von „Heiligung“ reden) und die Sendung der Christen in die Welt (es sei denn, dass man letzteres mit dem Schlusssegen als abgehakt betrachtet).
Dass heute viele Menschen ihre Mühe mit diesem Thema Schuld/Sühne/Vergebung haben, mag nicht nur mit dem Traditionsabbruch und fehlenden Zugängen zu tun haben, sondern auch mit der Überdosis dieses Aspektes, die sich über Generationen angesammelt hat, und die nun an manchen Stellen dazu führt, dass man das Kind mit dem Bad ausschütten will. Aber mein subjektives Empfinden beim Durchgang durch die Liturgie war eben auch, dass sich die Beschreibungen der Liebe Gottes weitgehend darin erschöpfen, dass er barmherzig ist und auf Strafe verzichtet.
Man könnte also sagen, dass von den drei Wegen der Spiritualität – purgatio, illuminatio und unio – nur der erste explizit thematisiert und eingeübt wird. Natürlich kann man mit einem einzigen Gottesdienst nie alles unterbringen. Trotzdem – im Evangelium steckt mehr, als diese Gottesdienstform vermuten ließe.
Was ist ‚agendarisch‘?
„Agendarisch“ ist ein Gottesdienst, wenn er einer „Agende“ folgt.
Wenn es auch in den Chorälen um das Thema ging, vermute ich mal, es war irgendwie das Thema des Gottesdienstes an diesem Sonntag. Es gibt genügend Choräle mit anderen Themen.
Aber tatsächlich, eine „Das Beste kommt noch!“ – Theologie ist wohl in agendarischen Gottesdiensten besonders erkennbar – wenn sie gut gemacht sind.
Du solltest Dir bei Gelegenheit die Erfahrung antun, was ein Kollege oder eine Kollegin, die mit dem Thema Sünde(nvergebung) wenig anfangen kann, aus einem agendarischen Gottesdienst macht. Einfach in die nächstbeste landeskirchliche Gemeinde gehen, von der Du noch nichts gehört hast. Die Reaktion darauf würde ich gern lesen!
(@Trupedo Glastic: „agendarisch“ meint, dass er einer Agende, also einer vorgegebenen Gottesdienstordnung folgt. Wer das Wort „Liturgie“ nicht versteht, bezeichnet solche Gottesdienste gern als „liturgisch“.)
@ Andreas: Nein, das Thema der Lesungen und Predigt war ein anderes. Aber die spätmittelalterlich-reformatorische Tradition ist halt sehr auf dieses Thema fixiert. „Das Beste kommt noch“ wäre ja schon freudige Erwartung, aber die klingt doch eher gedämpft an.
Und das andere kenne ich sehr wohl. Das meinte ich ja mit „das Kind mit dem Bad ausschütten“. Meine Frage ist, ob es zwischen solchen Banalitäten und dem alten Muster nicht noch ein weites Feld an Möglichkeiten gibt.
An Möglichkeiten sicher! 😉
An Beispielen, wo diese auch genutzt werden, hmmm…. ich tu mein Bestes!
Aber vielleicht wäre die freudige Erwartung des „Das Beste kommt noch“ tatsächlich der Schlüssel, die Zukünftigkeit des Heils mit den gegenwärtigen „Schatten“ zu verbinden, die dieses große Ereignis seit der Auferstehung Christi voraus wirft.
(Wobei ich dann fast die Metapher verändern wollte und statt von Schatten von Strahlen reden würde.)
In der Dialektik von „schon jetzt“ und „noch nicht“ des Heils, die sich durch das ganze NT zieht, ist die Gefahr von uns Lutheranern wohl eher, das „noch nicht“ zu stark zu betonen, während man von außen dein Eindruck bekommen kann, dass Charismatiker zu sehr zum „schon jetzt“ tendieren. Es stimmt eben beides, und vielleicht trifft man sich am ehesten in der Vorfreude.
Danke! Wieder was gelernt.
Hmm…das war vermutlich kein württembergischer Gottesdienst? 😉 Hier erlebe ich die Liturgie relativ flexibel – z.B. entfällt ja das sonst klassische Schuldbekenntnis zu Beginn. Entsprechende Choräle kenne ich allerdings auch.
@ Daniel: Nein, die württembergische Liturgie ist etwas reduzierter als die bayerische. Als meine Oma von der Alb nach Franken kam, meinte sie zuerst, die seien „katholisch“ 🙂
und wer aus Nordelbien nach Württemberg kommt, denkt, die wären reformiert.
ja, so ging es mir auch, als ich den ersten Gottesdienst in Tübingen erlebte
Das Evangelische Gottesdienstbuch( eine modernisierte „Agende“ mit mehr fflexiblem Gestaltungsspielraum als in früheren Zeiten) klärt schön übersichtlich über die unterschiedlichen Gottesdienstformen im landeskirchlichen Raum auf und zeigt historische Wurzeln. Während die klassische lutherische Variante, die stark an die Messe angelehnt ist und auf ungeübte Leute „katholisch“ wirkt (wie furchtbar;-) ), noch immer eine kunstvoll ausgeführte Form ist, ist eine zweite Liturgietradition aus dem südwestdeutschen Raum (Baden) etwas unkomplizierter und zugänglicher. Wer ein Gottesdienstbuch hat, lese auf S. 24 und 133 die paar Zeilen …
Wer die lutherische Liturgie auf das Schuldbekenntnis reduziert oder es für zu dominant hält, ist in ein seinem Erleben zu sehr auf diese Elemente fixiert und ignoriert einiges andere, das jeden Sonntag auch ganz selbstverständlich dazu gehört. Für wen die Lobgesänge aber nur inhaltsleere Klnagteppiche sind, auf denen er sanft bis zur Predigt kommen will, dem bleibt die breit angelegte Dynamik der Liturgie natürlich verschlossen …
Ich finde den Aspekt den Andreas einbrachte ein interessantes Detail: „In der Dialektik von “schon jetzt” und “noch nicht” des Heils, die sich durch das ganze NT zieht, […]“
Dieses Spannungsfeld habe ich auch immer sehr bewusst wahrgenommen. Ich hatte den Eindruck, das Jesus das Heil/Seelegkeit/Gottesreich in die Zukunft verlegte, wenn er jemanden ansprach, der noch kein Vertrauen in Gott hatte. Und bei (über-)selbstsicheren Ansprechpartnern hat er Gottes neue Welt in die Gegenwart verlegt.
Bei mir entsteht dabei das Bild, das Jesus den Zweiflern sagen will: „Hey, gib nicht auf, du bist ganz nah dran…“ und den Überheblichen oder Denen mit falscher Erwartung will er sagen „Das Reich Gottes ist nicht das was ihr in Wahrheit wollt. Ihr hängt noch an eurem Ego. Das Reich Gottes ist da wie Musik: Nur für die, die nicht taub sind. Aber euer Ego verstopft eure Ohren.“
Wenn man das „Reich Gottes“ nicht als „kollektives Erlebnis“ versteht, sondern als individuelle Beziehung zu Gott (das Wort „Seligkeit“ versteht heute kaum noch jemand und wirkt auf viele antiquiert), dann ist es kein Widerspruch, das für Einige das Reich noch kommt und für Andere schon da ist. Und einige den „Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“.
Die andere Variante wäre, das es verschiedenen „Reiche“ gibt. Eines was unsichtbar jetzt schon „mitten unter uns ist“. Und noch ein kommendes „tausendjähriges“ (Offenbarung).
@ Werner Busch: Mein Gesamteindruck war eben so, wie ich ihn beschreibe. Vorab war ich auf gar nichts fixiert, das ergab sich eher rückwirkend. Aber vielleicht gibt es eben auch einen charakteristischen Unterschied zwischen der Binnenperspektive des Vertrauten und dem Blick dessen, der das eher von außen betrachtet.
Den gibt es sicher. Und dann noch den zwischen den verschiedenen Blicken von außen, je nachdem, was dem Blickenden sonst vertraut ist (Der Quäker wird im lutherischen Gottesdienst vielleicht anderes vermissen als der Charismatiker ;-). Von Atheisten und Muslimen gar nicht zu reden!).
Ich erinnere mich noch gut, wie ich im Gottesdienst die allgemeine Beichte kennenlernte (und das ausgerechnet in Württemberg): Jedesmal, wenn uns die Sündenvergebung zugesprochen wurde, wollte ich innerlich jubeln wie wenn ich den Job bekomme, um den ich mich beworben habe. Es täte dem Bild für den Betrachter von außen wohl ganz gut, wenn dieser Jubel nicht nur innerlich bliebe. 🙂
Aber auch dann wird der eine den Kopf schütteln, worüber ich mich denn da freue, ich sei doch gar kein Sünder, und der andere darüber, dass ich mich „mit so wenig zufrieden“ gebe und gar nicht nach Gottes Gaben für mein jetziges Leben verlange, und auf den dritten wird der Jubel einladend wirken.
Wir werden auf Dauer nicht umhin kommen, auch unsere theologischen Unterschiede zu thematisieren.
Bleibt der Jubel jedoch innerlich, dann wird es zu diesem Austausch schwieriger kommen.
@ Peter: Ich wollte damit nur sagen, dass in der agendarischen Liturgie wahre geistliche Schätze verborgen sind. Betonung liegt auf „Schätze“ und auf „verborgen“. Die geistliche Dynamik eines agendarischen Gottesdienstes auszuschöpfen, ist an Bedingungen geknüpft, über die man spontant nicht so ohne weiteres verfügt:
– besondere existentielle Fragestellungen, die mich auf bestimmte Themen und Aspekte intuitiv hinlenken
– Übung und Vertrautheit mit der Dichte und Konzentration agendarischer Dramaturgie
– Und natürlich eine wache, geistesgegenwärtige und den Menschen zugewandte „Inszenierung“ der Liturgie durch den Liturgen. Wenn sie gedanken- oder gar herzlos abgespult wird, leidet die Gemeinde und findet den inneren Anschluss nicht.
@Werner Busch
Deine Beschreibung würde auch zu einer Tee-Zeremonie passen. Ehrlich gesagt würde ich der „agendarischen Liturgie“ auch nicht mehr spirituelle Kraft/Wirkung als einer Tee-Zeremonie zubilligen. Das gilt aber für jede andere Menschen gemachte Liturgie. Letztlich ist es nichts anderes, als Aberglaube oder „christlicher Schamanismus“. Im besten Falle nutzlos. Im schlimmsten Falle verstellt es die Sicht auf das wesentliche.
Naja, diese Sicht auf den Gottesdienst ist auch nicht wirklich verwunderlich, wenn man als Glaubenssatz verkündet:
„Um diesen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, das Evangelium und die Sakramente gegeben, durch die er als durch Mittel den Heiligen Geist gibt, […] Und es werden die verdammt, die lehren, daß wir den Heiligen Geist ohne das leibhafte Wort des Evangeliums durch eigene Vorbereitung, Gedanken und Werke erlangen.“ (Augsburger Bekenntnis, Artikel 5)