Bell, Bedford-Strohm und die Emergenz

„Ist das Universum fertig?“, fragt Rob Bell in der zweiten Auflage seines „Everything is Spiritual“-Vortrags. Seit 13 Milliarden Jahren dehnt es sich aus, vertieft und entfaltet eine immer vielschichtigere Komplexität. Vom subatomaren Partikeln zur Galaxie, von der Materie zum Organismus, vom Einzelwesen zum Schwarm und vom Unbewussten zum Bewusstsein, das zur Sprache und Selbstreflexion fähig ist. Setzt sich diese Entwicklung fort – und wie würde das wohl aussehen? Mehr noch: was hätte das mit uns Menschen zu tun?

Warum beschäftigt uns die Zukunft überhaupt? Kann es Neues geben, ist die Zukunft offen, oder ist alles schon determiniert durch Vergangenheit und Gegenwart und die bekannten Kräfte und Mechanismen? Muss man also Neuschöpfung streng supranaturalistisch als völlige Diskontinuität zum Bestehenden denken, oder den Gedanken an eine echte Transformation der Welt als überholten Mythos verwerfen?

Ein paar Tage später begegnete mir das Thema in der Pfingstpredigt von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm. Und auch hier ging es um Zukunft und Hoffnung:

Die Spuren des Heiligen Geistes mit seiner Kraft zum Neuen, zum Überraschenden, sind bis in die Wissenschaften hinein zu finden. Ja, auch die moderne Wissenschaft kennt ein Phänomen, das man als Spur des Heiligen Geistes verstehen kann. Die Wissenschaftler nennen es „Emergenz“. Emergenz kommt vom Lateinischen „emergere“ und heißt wörtlich übersetzt „Auftauchen“, „Herauskommen“, „Emporsteigen“) Es bezeichnet „die Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente“ – so kann man es in Wikipedia finden. Das Spannende ist, dass sich diese neuen Eigenschaften nicht aus dem Prinzip Ursache-Wirkung erklären lassen. Wissenschaftler können normalerweise beschreiben, wie Dinge aus anderen Dingen entstehen. Es gibt aber eben auch Phänomene, bei denen diese Erklärung auch aus wissenschaftlicher Sicht ausdrücklich unmöglich ist. Phänomene, die nachweisbar nicht aus irgendwelchen wissenschaftlich im Prinzip beschreibbaren Ursachen zu erklären sind.

Der Physik-Nobelpreisträger Robert B. Laughlin spricht in seinem Buch „Abschied von der Weltformel“ von einem Paradigmenwechsel in der Wissenschaft:

Sosehr mir die Vorstellung von Zeitaltern auch missfällt, so gut lässt sich meiner Ansicht nach vertreten, dass die Wissenschaft mittlerweile von einem Zeitalter des Reduktionismus in ein Zeitalter der Emergenz übergegangen ist, eine Ära, in der die Suche nach den letzten Ursachen der Dinge sich von Verhalten der Teile auf das Verhalten des Kollektivs verlagert.

Die Vorstellung des Reduktionismus war, man könne eine Weltformel finden, indem man die Welt in ihre kleinsten Bestandteile zerlegt und deren Gesetzmäßigkeit ermittelt, und dass mittels dieser Formel exakte Vorhersagen und umfassende Kontrolle möglich würden. Laughlin betrachtet Emergenz – der Begriff stammt ja ursprünglich aus der Biologie – als ein Phänomen, mit dem es alle Wissenschaften zu tun haben:

Emergenz bedeutet Unvorhersagbarkeit in dem Sinn, dass kleine Ereignisse große und qualitative Veränderungen bei größeren Vorgängen verursachen. Emergenz steht für die grundsätzliche Unmöglichkeit der Kontrolle. Emergenz ist ein Naturgesetz, dem die Menschen unterworfen sind.

Wenn Emergenz – und das bekräftigt Laughlin ohne Einschränkungen – auch für menschliches Verhalten und Bewusstsein gilt, dann ist sie auch Thema der Theologie (Michael Welker hat das auf die Pneumatologie bezogen, Berndt Hamm auf die Kirchengeschichte).

Und wenn wir es heute in der Kirche (angesichts emergenter Veränderungen unserer sozialen Strukturen und Ökosysteme) mit einem reaktionären, auf Kontrolle bedachten Traditionalismus zu tun haben, wenn in der Politik die nationale Rolle rückwärts als Schritt zur Wiedererlangung verlorener Herrschaft über komplexe, globale Umstände propagiert wird und monokausale Lösungsstrategien als Heilsbringer angepriesen werden, dann zeichnet sich auch darin ab, dass Emergenz ein Thema ist, das uns auf absehbare Zeit erhalten bleibt. Und dass die Heilsversprechen der Traditionalisten mindestens Illusionen sind, oft aber Behauptungen wider besseres Wissen – Lügen also.

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5 Antworten auf „Bell, Bedford-Strohm und die Emergenz“

  1. Ich mag interdisziplinäre Wissenschaft, Versuche, ähnliche Muster in ganz verschiedenen Gebieten zu finden und grundsätzlich alles, was hilft, die Gräben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zuzuschütten.

    Gleichzeitig bin ich skeptisch, wenn Kirche, die sich bis heute weithin eine für mich nicht nachvollziehbare Ignoranz gegenüber den Grundlagen von Naturwissenschaften leistet, bei komplexen Themen wie naturwissenschaftlicher Emergenz plötzlich einsteigen will.

    In dem zitierten Wikipedia-Artikel steht z. B. auch: „Die Beschreibung einer Eigenschaft als emergent ist demnach oft nur eine Entschuldigung für mangelnde Einsicht oder Intelligenz des Betrachters, der die komplexen Zusammenhänge in einem System nicht versteht und vereinfachend als emergent bezeichnet.“

    Nur als skeptisches Korrektiv, damit man nicht gepflegt aneiander vorbei redet.

    1. Deswegen zitiere ich ja auch einen Nobelpreisträger und keine Wikipedia. Ich halte „die Kirche“ andererseits für ganz und gar nicht ignorant im Blick auf die Wissenschaften. Wohl aber fällt sie nicht auf den Szientismus herein (es gibt nur das, was naturwissenschaftlich „festgestellt“ werden kann), aber das hatten wir ja schon einmal.

  2. Vielen Dank! Ich find ja das Emergenz Thema immer noch spannend. Und ja: es wäre ein großer Schritt, quasi ein qualitativer Umschwung, wenn die Naturwissenschaft ihr albernen naturaltischen Reduktionismus hinter sich ließe und auf das Irreduzible und das Neue eingehen lernte.
    Und natürlich: wenn auf falsche Weise die Diskontinutität zwischen alten und neuem betont wird (als würde daraus ein einfaches: vorher-nacher), dann landet man in der gnostischen Weltverneinung.
    Jedoch wo zu stark die Kontinuität betont wird, landet man in der weltverfallenen Ontottheologie, als einer Re-Sakralisierung der Welt und einer Legitimierung des Bestehenden oder im Fall der Emergenz: des Entstehenden. Man muss genau gucken, wie Emergenz gefasst wird: ist Emergenz nicht letzlich doch nur eine Entfaltung des Bestehenden auf nicht vorhersehbare Weise? Wäre nicht eine andere Perspektive die des „Engels der Geschichte“ bei Walter Benjamin, der auch eine Entfaltung der Geschichte beobachtet, der aber auf die Trümmerhaufen der Geschichte zuerst schaut?
    Mir leuchtet Dalferth immer mehr ein (der sich in „radikale Theologie“ auch zur Emergenz-Metaphysik äußert; S. 240f.): es gibt kein einziges Phänomen, dass an sich „göttlich“ ist. Die Welt darf nichts als Welt sein. Oder wie Jüngel sagt: die Welt ist um ihrer selbst willen interessant. Und „Schöpfung“ ist kein Erklärungsbegriff sondern ein Orientierungsbegriff. Er zeigt nicht ein beschreibbares Phänomen auf (Emergenz oder erster Beweger oder so) sondern wirft ein neues Licht auf alle Phänomene.

    1. Ich halte es für legitim, den Gedanken der Emergenz im Blick auf die Neuschöpfung ins theologische Gespräch zu bringen, nachdem es ja im Blick auf Schöpfung und Kosmologie auch gelungen ist, Analogien und deren Grenzen zu benennen ohne damit schon wieder bei einer „Metaphysik“ zu landen. Geschichte ließe sich – auch im Sinne von Emergenz – einschließen, weil Bewusstsein und Sozialität auch als emergente Phänomene thematisiert werden können. Will man vorsichtig sein, dann spricht man eben von Strukturanalogien. Mit denen haben wir es ständig zu tun. Jede Metapher setzt sie voraus.

  3. Öh… Ich glaube aber, da hat Herr Bedford-Strohm etwas falsch verstanden. Welche Phänomene sollen das sein, „die nachweisbar nicht aus irgendwelchen wissenschaftlich im Prinzip beschreibbaren Ursachen zu erklären sind“, und wo soll sich dieser Nachweis finden?
    Und das Prinzip Ursache-Wirkung ist ja in der Physik bekanntlich eh nicht universell gegeben, aber Emergenz würde ich dafür für kein so gelungenes Beispiel halten.

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