Die Debatte läuft auf vielen Kanälen. Benjamin Isaak-Krauß hat in der „Eule“ einen sehr gründlichen und lesenswerten Überblick über die Argumente für gewaltlosen Widerstand verfasst. Die Skepsis gegenüber gewaltsamen Konfliktlösungen, die ja auch in der Einleitung zu Butlers Buch eine große Rolle spielt, bekommt dort ausführlich Raum.
Inzwischen wird weiter geschossen und gebombt, fliehen und sterben Menschen in der Ukraine. Putin ist die handstreichartige Übernahme des demokratischen Nachbarstaates misslungen. Nun scheint sich seine Armee auf die unmenschlichen Taktiken zu verlegen, die sie schon in Syrien angewandt hat. Im Unterschied dazu erinnert der Kampf der Ukrainer an den erfolgreichen Widerstand der zahlenmäßig unterlegenen Finnen im Winterkrieg von 1939.
Antje Schrupp denkt in diesen Tagen laut darüber nach, wie sich „Bullies“ in die Schranken weisen lassen.
Im Übrigen stellt sich die Frage nach Blutvergießen und der Bereitschaft, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, sowohl beim bewaffneten wie beim gewaltlosen Kampf. John F. Harris hat diesen Mut in den letzten Jahren im ‚Westen vermisst. Wir Deutschen diskutieren gerade erst einmal, welchen ökonomischen Preis wir zu zahlen bereit sind, um Putin zu stoppen (Filmtipp für die Zeit, als diese Frage sich schon einmal stellte: München – im Angesicht des Krieges. Und die irische TV-Serie „Rebellion“ zum Easter Rising 1916 zeigt das verzweifelte Elend des militanten Aufstands gegen die englischen Besatzer. Trotz ihres vordergründigen Scheiterns gilt die Aktion heute als Wendepunkt in der Geschichte Irlands).
Judith Butler zu lesen erfordert einen größeren Abstand zu den aktuellen Kriegsereignissen. Sie schreibt gerade keine praktische Anleitung, wie das bei Gene Sharp oder auch Srdja Popovic (OTPOR) der Fall ist. Sie antwortet auch nicht auf Alternativen wie: Waffen liefern oder nicht? Flugverbotszone oder nicht? Stattdessen fragt sie danach, was wir immer übersehen, wenn wir zum Beispiel über Selbstverteidigung als Legitimation von Gewalt diskutieren und die Alternative gewaltlos/gewaltsam als Thema individueller Moral betrachten.
Die Robinson-Illusion
Vor allem übersehen wir, dass wir viel weniger autark und autonom sind, als uns lieb ist. Fast ein wenig amüsiert betrachtet sie das Menschenbild der Aufklärung, den Menschen im Naturzustand bei Rousseau und Hobbes: Männlich, erwachsen, weiß und Herr seiner selbst – wie Robinson Crusoe. Eine Fiktion, die verschweigt und verbirgt, dass wir alle von Frauen geboren werden und nur dank der Fürsorge anderer überleben. Im Lauf des Lebens nimmt diese Abhängigkeit nicht ab, sie ändert nur ihre Form.
Diese Interdependenz leugnen wir nicht nur als einzelne, auch unsere politischen und ökonomischen Systeme sind darauf ausgelegt, sie unsichtbar zu machen. Im Konflikt mit Putin taucht das Verdrängte nun wieder auf: Unsere Abhängigkeit von Energielieferungen, unsere Erpressbarkeit durch Atomwaffen und drohende nukleare Unfälle an ukrainischen Atommeilern, Fluchtbewegungen ungekannten Ausmaßes, Inflation und Nahrungsmittelknappheit. Umgekehrt gilt das freilich auch, daher auch die Sanktionen.
Die Perspektive der Interdepenz macht es erstens möglich, über globale Pflichten gegenüber Mitmenschen und Mitgeschöpfen zu sprechen, ganz besonders da, wo deren Leben und Wohlbefinden bedroht und in Frage gestellt wird. Zweitens lässt sich Gleichheit dann neu denken: Nicht als etwas, das dem Individuum zukommt und von diesem eingefordert wird, sondern relational – als Merkmal sozialer Beziehungen. Denn diese sozialen Verhältnisse sichern nicht nur unser Überleben, sie machen uns auch verletzbar und angreifbar.
"Wie dargelegt, besteht die Aufgabe meines Erachtens nicht darin, Selbstgenügsamkeit durch die Überwindung von Abhängigkeiten zu erlangen, sondern darin, Abhängigkeit als Voraussetzung für Gleichheit zu akzeptieren." (S. 65f.)
Emanzipationsprozesse, die für den unterdrückten Teil der Bevölkerung dieselbe Souveränität und Dominanz anstreben wie zuvor für die Unterdrücker, führen nur in endlose Konflikte und verhindern ein „postsouveränes Verständnis des Zusammenlebens“, schreibt Butler mit Blick auf die Kolonialgeschichte und ihre Nachwirkungen bis heute.
"Meine Gegenthese zur Naturstandshypothese lautet, dass kein Körper sich aus eigener Kraft erhalten kann. Der Körper ist kein und war nie ein selbstgenügsames Wesen und unter anderem aus diesem Grund war die Metaphysik der Substanz mit ihrer Auffassung des Körpers als ausgedehntes, von Grenzen umgebenes Wesen nie ein besonders guter Rahmen, um zu verstehen, was ein Körper ist. Der Körper ist für sein Bestehen auf andere verwiesen, er ist auf andere Hände angewiesen, bevor er seine eigenen gebrauchen kann. […] das verkörperte Subjekt ist gerade durch seinen Mangel an Selbstgenügsamkeit definiert."
Gewalt und Notwehr
Das relationale Selbst spielt eine entscheidende Rolle für die Frage nach Gewaltlosigkeit. In der Regel wird das Tötungsverbot da eingeschränkt, wo es um Notwehr und Selbstverteidigung geht. Zu diesem geschützten Selbst gehört meist auch das engere persönliche Umfeld der Familie, in einem weiteren Sinne (und darum geht es beim Krieg in der Ukraine) dann auch alle, die so sind wie ich oder mit denen ich mich identifiziere. Die Frage, wann Gewaltanwendung rechtens ist, wird also demografisch beantwortet, folgert Butler. Sie führt unmittelbar ins konfrontative Gegenüber von „uns“, die Schutz verdient haben, und „denen“, die nicht nur keine Solidarität verdienen, sondern auch immer schon eine latente Gefahr für „uns“ darstellen – und damit schürt sie die Kriegslogik:
"Wenn das stimmt (dass ich manche zu verletzen oder zu töten bereit bin im Namen anderer, mit denen ich meine soziale Identität teile oder die ich in der einen oder anderen Art liebe, die für mein Selbstsein wesentlich ist), dann gibt es eine moralische Rechtfertigung von Gewalt, deren Basis demografischer Art ist." (S. 75)
Keine demografischen Ausnahmen verspricht nur die „radikale Gleichheit der Betrauerbarkeit“. Gleichheit zwischen Menschen ist so lange nicht erreicht, wie Betrauerbarkeit nicht für jedes Leben im gleichen Maß gilt. Und diese gleiche Betrauerbarkeit müsste das Prinzip werden, „nach dem die soziale Organisation von Gesundheitsversorgung, Nahrungsverteilung, Wohnung, Arbeit, Liebesleben und bürgerlichem Leben geregelt wird.“ Hier hätte möglicherweise der Schutz vor Bullies seinen Platz, von dem Antje Schrupp schrieb.
Neben der Kriegslogik lässt vor allem der Rassismus paranoide Versionen von „Selbstverteidigung“ entstehen. Die politische Rechte lebt ja davon, immer schon Notwehr und Ausnahmezustand zu propagieren. Um Gewalt aktiv einzudämmen, müssen wir uns also erst einmal gründlich die Frage stellen: Wessen Leben erscheint als Leben und wessen Verlust gälte als Verlust?
Hier endet das erste Kapitel und ich erinnere mich an das weitgehende Achselzucken der westlichen Öffentlichkeit angesichts der erschütternden Nachrichten aus Syrien über die letzten Jahre. Irgendwie waren hier zwar alle gegen Assad, aber Putin durfte die Städte der Rebellen, ihre Kliniken und Kindergärten bombardieren. Die Appelle von Adopt a Revolution lösten eher überschaubare Resonanz aus. Und so haben wir damals schon wertvolle Zeit verloren und Gelegenheiten vertan, den Aggressor energisch zur Rechenschaft zu ziehen. Menschen arabischer Herkunft und muslimischen Glaubens sind bis heute nicht im gleichen Maß betrauerbar wie Europäer.
Über dem nächsten Kapitel steht: „Das Leben der anderen bewahren“. Was für eine Aufgabe!