Das Dilemma der Autorität

Wenn man den Erfolg populistischer Parteien im Europawahlkampf betrachtet, oder über die Macht autoritärer Politiker wie Erdogan und Putin rätselt, dann ist Richard Sennett eine gute Adresse. Sein Buch „Autorität“ erschien schon 1980, aber es scheint mir aktueller denn je, wie der folgende Ausschnitt zeigt:

Heutzutage besteht das Dilemma der Autorität, die eigentümliche Furcht, die sie uns einflößt, nämlich darin, dass wir uns zu starken Gestalten hingezogen fühlen, die wir nicht für legitim halten. Diese Anziehungskraft ist kein spezifisches Merkmal unserer Zeit. Die mittleren Kreise von Dantes Inferno sind von jenen bevölkert, die Gott liebten und doch dem Satan folgten; aber sie waren Sünder, die zu ihren Lebzeiten gegen die Regeln der Gesellschaft verstießen. Eigentümlich für unsere Zeit ist, dass die formell legitimen Mächte in den dominierenden Institutionen bei denen, die ihnen unterworfen sind, einen nachhaltigen Eindruck von Illegitimität hervorrufen. Und dennoch verwandeln sich diese Mächte in Bilder menschlicher Stärke: in Bilder von Autoritäten, die über Selbstsicherheit und ein überlegenes Urteilsvermögen verfügen, die andere einer moralischen Disziplin unterwerfen und ihnen Furcht einflößen. Diese Autoritäten ziehen andere in ihren Bann, sie wie die Flamme den widerstrebenden Nachtfalter. Eine Autorität ohne Legitimität, die gerade durch das Misstrauen und die Unzufriedenheit zwischen den Menschen zusammengehalten wird – diese merkwürdige Situation können wir nur begreifen, wenn wir verstehen, wie wir verstehen.

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Papst Franziskus und der „naive“ Gott

Als Papst Franziskus letzte Woche die Gedenkstätte Yad Vashem besuchte, sagte er unter anderem den folgenden bemerkenswerten Satz:

The Father knew the risk of freedom; he knew that his children could be lost… yet perhaps not even the Father could imagine so great a fall, so profound an abyss!

Ist sogar Gott selbst erschüttert über das exzessive Ausmaß menschlicher Grausamkeit und Zerstörung, das im Holocaust so unübersehbar wird?

Dieses Gottesbild steht nicht nur in einem bemerkenswerten Kontrast zu den Vorstellungen von absoluter Macht und Wissen, die ultrakonservative katholische Kritiker des Papstes kennzeichnen, sondern auch zu manchen protestantischen Vorstellungen von einem abgebrühten, achselzuckenden Gott, der den Menschen schon immer alles erdenklich Böse zugetraut hat und deswegen eigentlich von gar keiner Brutalität mehr überrascht und erschüttert wird.

Doch in seiner Meditation über „Adam, wo bist du?“ nimmt der Papst die Spannung in der Erzählung von Sündenfall ernst (Gottes Erstaunen wäre andernfalls ja nur gespielt). Mit der Frage nach dem Erstaunen und Entsetzen Gottes steht er auch dem Gottesbild der Propheten bis hin zu Jesus näher als metaphysischen Abstraktionen.

Sich Gott zum Vorbild zu nehmen hieße dann, anderen nicht immer schon das Schlimmste zu unterstellen, auch auf die Gefahr hin, böse Überraschungen zu erleben. Wenn man Frieden stiften und versöhnen möchte in dieser Welt, geht das vermutlich nur so.

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Wertediskussionen

Immer wieder mal bekomme ich Post von Christen, die mit großem Eifer „Werte“ proklamieren. Häufig entsteht dabei der Eindruck, dass andere Menschen gar keine Werte mehr hätten – die traditionalistische These vom „Werteverfall“. Im Blick auf den Europawahlkampf spricht die SZ von der „Sehnsucht nach einem besseren Früher, das es in Wirklichkeit nie gab.“

Werte haben die anderen nämlich durchaus, nur eben andere. Es hat vielmehr ein Wertewandel stattgefunden: Homosexuelle kommen nicht mehr in den Knast, Frauen brauchen die Zustimmung ihres Ehemanns nicht mehr, wenn sie einen Arbeitsvertrag unterschreiben, umgekehrt dürfen Träger eines politischen Amtes ihren Angehörigen und Amigos längst nicht mehr so viele Gefälligkeiten erweisen wie früher, und immer mehr Lebensbereiche (von der Bildung bis zur Liebe) unterliegen den „Gesetzen“ des Marktes – um nur einmal ein paar Beispiele zu nennen und an die Ambivalenz dieses Wandels zu erinnern.

Es entbehrt vielleicht nicht einer gewissen Ironie, dass der Begriff „Werte“ ausgerechnet durch Friedrich Nietzsches Moralkritik in die Philosophie eingeführt wurde. Bis dahin beschäftigten sich vor allem die Ökonomen mit Werten. Nietzsche forderte damals ganz unbescheiden die „Umwertung aller Werte“. Nietzsche war also auch überzeugt davon, dass ein Werteverfall stattgefunden hatte, der unbedingt rückgängig gemacht werden muss.

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20 Jahre nach „Toronto“

In einem Gespräch mit Studierenden an der Augustana-Hochschule, die an der Vorlesung Charismatische Bewegung, Fundamentalismus und Esoterik von Prof. Dieter Becker teilnehmen, kamen wir letzte Woche auf den „Torontosegen“. Das ist ja nun genau 20 Jahre her und die Nachfrage hat ein paar Erinnerungen zurückgebracht.

Manche Phänomene, die in den Berichten oft im Vordergrund standen, haben die einen verschreckt und die anderen fasziniert. Das lenkt aber auch vom Wesentlichen ab. Viel interessanter als die Frage, wie jemand auf dem Boden landete, ist die, was dort mit ihm geschah. Wenn also irgendein ausgepowerter Pastor endlich mal eine Stunde ruhen kann, ohne dass jemand etwas von ihm will, dann ist das gut. Wenn dann unterdrückte Gefühle – Trauer, Verzweiflung, Freude, Dankbarkeit – sich melden, auch.

War da manches überdreht und albern? Natürlich, aber eben auch nicht alles. Der eigentlich problematische Aspekt liegt für mich auf einer anderen Ebene:„Toronto“ war von Beginn an auch ein globales Medienereignis, das Pilgerströme auslöste. Wie schon anno 1906 schwang die Erwartung einer großen Welle mit, eines weltweiten Aufbruchs, sprunghaften Gemeindewachstums, eines triumphalen Dominoeffekts. Erst dieser eschatologisch aufgeladene Erwartungshorizont löste die Welle aus, nicht die mystischen Erfahrungen an sich. Und damit wurde den Pilgern die schwere Last einer Erwartung aufgebürdet, die sie, wie sich zeigte, nicht einlösen konnten. Als die Euphorie verflogen war – viele bemühten sich lange und intensiv, die Welle am Laufen zu halten –, war die Ernüchterung mancherorts um so größer. Das Grundproblem war die Verzweckung geistlicher Erfahrungen.

Zur Ruhe kommen, Gefühle zulassen, das sind wichtige Erfahrungen. Statt sich hinzustellen, um dann vielleicht umzufallen, kann man sich freilich auch gleich hinlegen oder -setzen. Wenn man dabei allerdings auf ein bestimmtes Resultat fixiert ist – ein bestimmtes Gefühl, einen „geistlichen Durchbruch“ oder weltweite Erweckung – dann kann das zum mühsamen Krampf werden.

Der Geist Gottes ist an keinen bestimmten Ort gebunden. Und doch hilft manchen Menschen zu manchen Zeiten ein Ortswechsel, innerlich frei zu werden. Man braucht im Grunde auch keine anderen Menschen, keinen Gesang und andere Stimuli um sich herum. Aber manchen hilft auch das. So wie viele von uns Geld für ein Fitnesstudio bezahlen, weil sie wissen, dass sie selbst nicht (oder nicht oft genug) die Disziplin aufbringen, laufen, radfahren oder schwimmen zu gehen.

Henri Nouwen hat einmal geschrieben: „Im geistlichen Leben bedeutet Disziplin, einen Raum zu schaffen, wo etwas passieren kann, das du nicht schon geplant und mit dem du nicht gerechnet hast.“ Neben der Disziplin (ich nehme mir bewusst Zeit) steckt darin auch eine positive Absichtslosigkeit: Ich bin offen und bereit, mich auf das einzulassen, was jetzt tatsächlich passiert. Matthias Drobinski schrieb passend dazu diese Woche in der SZ:

Wer meditiert und sich ins Gebet versenkt, entkommt dem Zweck und findet den Sinn. Der Gläubige kann sich in seinen Nöten und Ausweglosigkeiten vor seinen Gott werfen und den Fall an die höchste Instanz abgeben: Mach du was draus. Das ist zwecklos, aber nicht sinnlos.

Zeit vor und mit Gott hat, wie jede Liebe und jede Freundschaft, ihren Wert aus sich selbst. In diesem Sinne: „Komm, heiliger Geist!“.

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Unbequeme Erinnerung

Es gibt Tage, da kann man in aller Demut stolz sein auf unsere Demokratie. Seit vorgestern gehört dazu: Navid Kermanis Rede zum 65. Jahrestages des Grundgesetzes, die mit folgender Passage für Aufsehen gesorgt hat (vor allem natürlich bei den Kräften, die damals für die „Verstümmelung“ des Textes verantwortlich waren):

Wir können das Grundgesetz nicht feiern, ohne an die Verstümmelungen zu erinnern, die ihm hier und dort zugefügt worden sind. Auch im Vergleich mit den Verfassungen anderer Länder wurde der Wortlaut ungewöhnlich häufig verändert, und es gibt nur wenige Eingriffe, die dem Text gutgetan haben. Was der Parlamentarische Rat bewußt im Allgemeinen und Übergeordneten beließ, hat der Bundestag bisweilen mit detaillierten Regelungen befrachtet. Nicht nur sprachlich am schwersten wiegt die Entstellung des Artikels 16. Ausgerechnet das Grundgesetz, in dem Deutschland seine Offenheit auf ewig festgeschrieben zu haben schien, sperrt heute diejenigen aus, die auf unsere Offenheit am dringlichsten angewiesen sind: die politisch Verfolgten. Ein wundervoll bündiger Satz – „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ – geriet 1993 zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinander gestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: daß Deutschland das Asyl als ein Grundrecht praktisch abgeschafft hat. Muß man tatsächlich daran erinnern, daß auch Willy Brandt, nach dem heute die Straße vor dem Bundeskanzleramt benannt ist, ein Flüchtling war, ein Asylant?

Heute war Europawahl. Ob Kermanis Appell gegen die Abschottung Früchte getragen hat?

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Morgengebet

Thanks to Thee, God,

Who brought’st me from yesterday

To the beginning of to-day,

Everlasting joy

To earn for my soul

With good intent.

And for every gift of peace

Thou bestowest on me,

My thoughts, my words,

My deeds, my desires

I dedicate to Thee.

I supplicate Thee,

I beseech Thee,

To keep me from offence,

And to shield me to-night,

For the sake of Thy wounds

With Thine offering of grace.

aus den Carmina Gadelica

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Nervige Gottesdienste (4): Gottes großer Garten

(hier geht es zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3)

Von Immunisierung war die Rede: Wir leben in einer abgestumpften Welt. Täglich werden wir mit Katastrophenmeldungen aus aller Welt bombardiert. Diese ständige Begleitmusik kann sensible und verantwortungsbewusste Menschen in die Erschöpfungsdepression stürzen. Bei vielen bewirkt sie aber auch genau das Gegenteil, nämlich eine resignative Teilnahmslosigkeit und ein Desinteresse an der Frage nach den Hintergründen und Ursachen gewaltsamer Konflikte, sozialer Ungleichheit oder des ökologischen Raubbaus, in die wir verstrickt sind, und die uns auch dann etwas angehen, wenn wir nicht überall anpacken können, wo gerade Hilfe gebraucht wird.

Welch ein Glücksfall also, wenn uns prophetische Stimmen stören und aufrütteln: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt“, hieß es in einem Flugblatt der Weißen Rose. Eine solche Kritik lässt sich freilich kaum ritualisieren und zum festen Bestandteil unserer mehr oder weniger formellen Liturgie umfunktionieren, sie muss je nach Situation stören und unterbrechen. Wir können allerdings darum bitten, dass solche Störungen geschehen.

Und dann es gibt es ja auch noch das: Ab und zu mutet die Perikopenordnung des Kirchenjahres uns einen sperrigen Text zu, an dem wir uns reiben können. Manchmal greift eine mutige Predigt den Anstoß auf. Das riskante Wagnis der Stille trägt dazu bei, dass wir unsere Selbsttäuschungen erkennen. Und gelegentlich findet man auch Lieder, die uns den Blick auf eine leidende Welt offen halten, zum Beispiel dieser Text der schottischen Pfarrerin Kathy Galloway aus dem Liederbuch der Iona Community:

Zieh dich nicht zurück in deine private Welt

jenen Ort der Sicherheit, geborgen vor dem Sturm

wo du deinen Garten pflegst und deine Seele suchst

und mit deinen Lieben am warmen Feuer ruhst.

Einen Garten zu pflegen ist etwa Kostbares

aber noch wertvoller ist der, den alle betreten dürfen

das Unkraut von Gift, Armut und Krieg

verlangt nach Deiner Aufmerksamkeit, wenn die Erde dein Zuhause ist.

Wir brauchen es also nicht ausschließlich den Propheten zu überlassen, uns immer wieder daran zu erinnern, dass wir in der Begegnung mit Gott nicht nur die Freude, sondern auch seinen Schmerz teilen, und dass wir dieser Begegnung mit seinem Schmerz nicht ausweichen können, wenn es uns um eine echte und tiefe Beziehung zu ihm geht.

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Die Lobpreis-Traditionen sind ja vergleichsweise jung. Vielleicht steckt ja noch Entwicklungspotenzial darin. Ich frage mich seit einigen Monaten, ob wir nicht über eine Erweiterung des Repertoires an Metaphern, Begriffen, theologischen Konzepten nachdenken müssten, die uns dabei helfen, Gottes und unseren Bezug zur Welt stärker in den Blick nehmen. Die Dank und Klage, Freude und Trauer, reines Herz und Hunger nach Gerechtigkeit verbinden. So dass am Ende alle den Gottesdienst verlassen, um draußen in der Stadt wie Mutter Theresas Schwestern zu schauen, wie Jesus sich heute wohl wieder verkleidet hat.

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Intellektuelle

„Intellektueller“ scheint mir ein seltsames Wort zu sein. Intellektuelle – ich habe noch nie welche getroffen. Ich habe Leute getroffen, die Romane schreiben, und andere, die mit Kranken arbeiten. Leute, die ökonomische Analysen machen, und andere, die elektronische Musik komponieren. Ich habe Leute getroffen, die lehren, Leute, die malen, und Leute, bei denen ich nicht so recht verstanden habe, ob sie überhaupt etwas machen. Aber Intellektuelle, nie. Ich habe indessen viele Leute getroffen, die über den Intellektuellen reden. Und durch vieles Zuhören konnte ich mir ein Bild davon machen, was dieses Lebewesen sein mag. Es ist nicht schwer, es ist der, der Schuld hat. Schuld an allem Möglichen: zu sprechen, zu schweigen, nichts zu tun, sich in alles einzumischen… Kurz, wo es um Rechtsfindung, Aburteilen, Verurteilen und Ausschließen geht, muss der Intellektuelle her.

Michel Foucault

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Nervige Gottesdienste (3): Steil nach oben

(Hier geht es zu Teil 1 und Teil 2)

Die Sprache des Konsums ist in den meisten Gemeinden längst angekommen und zeigt an, wie sehr sich die dazugehörige Mentalität verbreitet hat. Als Ausdruck dieser Mentalität lässt sich der folgende Liedtext lesen: „Mein Freudeschenker, mein Heimatgeber, mein Glücklichmacher und mein Schuldvergeber, mein Friedensbringer und mein Worteinhalter, mein Liebesspender bist Du.“ Die Sequenz zusammengesetzter Substantive beschreibt die Gottesbeziehung ausschließlich in der Sprache der Funktionalität und der Wirkung auf das individuelle Wohlbefinden.

Viele Christen kommen in den Gottesdienst, um nach eigenen Worten dort „aufzutanken“, etwas „mitzunehmen“ – aber kaum, um zusätzliche Lasten auferlegt zu bekommen, etwa weil sie dort mit Fragen nach sozialer Gerechtigkeit konfrontiert werden, auf die es keine einfache und schnelle Antwort gibt.

Der ausgewiesene Zweck des Gottesdienstbesuchs ist es in diesem Fall, bis zum nächsten Sonntag möglichst reibungslos zu funktionieren, in der Familie und natürlich auch im Beruf, wo man auf göttlichen Beistand hofft, um auf immer ungewisseren Karrierepfaden doch irgendwie den Aufstieg zu schaffen (oder wenigstens den Abstieg zu vermeiden).

Vom Aufstieg ist interessanterweise auch in vielen modernen Lobpreisliedern die Rede: Um dem erhabenen Gott zu begegnen, muss erst ein spiritueller Höhenunterschied bewältigt werden. Statt den in unsere Welt heruntergekommenen Gott zu feiern, der sich (wie etwa Luther unaufhörlich betonte) nur in aufreizender Niedrigkeit einer Krippe und dem bitterem Leid am Kreuz zu erkennen gibt, dreht sich nun wieder viel um sterile Herrlichkeit und Hoheit, um Glanz und Pracht, Gold und Engel.

Das sind zwar auch alles biblische Aussagen. Aber sie waren ursprünglich trotzige Gesänge im Munde einer gefährdeten Märtyrerkirche. Nun sind es Himmelsvisionen eines Christentums, das in Gott die Steigerung und ultimative Erfüllung seiner Wohlstandsideale zu finden meint, und nicht etwa deren radikale Kritik im Namen einer humanen und gerechten Welt für alle.

Und so vermittelt das bei gleichem Wortlaut eine völlig andere Botschaft. Ein ähnlicher Zwiespalt tut sich auf in zahlreichen Tempel-Analogien, die uns in Liedgut und Liturgie begegnen. Sie verschweigen und verdunkeln geradezu die Bewegung Gottes in die Welt hinaus oder vom Himmel herab und erwecken letztlich den Anschein, man müsse dem Alltag und den Mitmenschen erst bewusst den Rücken kehren, um ihm dann zu begegnen. Wenn man so denkt, dann rechnet man kaum noch damit, dass man Gott anderswo antreffen könnte als im Außergewöhnlichen.

Dazu kommt: Wo in diesem Kontext dann tatsächlich vom Kreuz die Rede ist, da steht es oft für die rückstandfreie Entsorgung unserer Schuld und dafür, dass Jesus die Zeche für uns bezahlt hat, damit wir einigermaßen sorglos und unbehelligt weiterleben können. Vom gegenwärtigen Leid unserer Mitmenschen und Mitgeschöpfe ist dabei nur ganz selten die Rede, wie in dem oben zitierten Text dominiert nicht das „wir“, sondern das „ich“. So droht der Gottesdienst hier drinnen zur Immunisierung gegen das Leid der anderen „da draußen“ zu werden.

(Fortsetzung folgt)

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„Nervige“ Gottesdienste (2): Augen zu und durch?

(Hier geht es zu Teil 1)

Nun ist die Sehnsucht nach einer heilen Welt nichts Falsches, solange sie uns nicht zum Selbstbetrug verleitet – zum Rückzug aus der leidenden Welt, zu einer Spiritualität des Wegschauens. Diese Aufforderung zum „Wegschauen“ ist mir am Beginn vieler Gottesdienste schon begegnet, und insofern sie sich darauf bezieht, dass ich aufhöre, ständig um mich selbst zu kreisen und meine Sorgen und Bedürfnisse als den Mittelpunkt der Welt zu betrachten, sind sie durchaus angebracht. Wo, wenn nicht im Angesicht Gottes, kann ich mich selbst einmal im besten Sinne des Wortes vergessen?

Oft aber sind das auch Aufforderungen gewesen, sich auf Gott unter Absehung vom zwiespältigen Zustand seiner (und unserer) Welt auszurichten. Wir laufen damit Gefahr, aus dem „Himmel“, von dem wir in unseren Liedern so gerne singen, ein hohles Wolkenkuckucksheim zu machen. Im alten Israel hat Gott diesem Hang zur Verdrängung drastisch widersprochen (Amos 5,21-24):

Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie

und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt,

ich habe kein Gefallen an euren Gaben und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen.

Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören,

sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Amos hatte es mit einer Situation zu tun, in der die Kluft zwischen Arm und Reich sprunghaft angewachsen war. Die Oberschicht schottete sich – wie heute das reiche Europa zweifellos überzeugt davon, dass sie ihre Privilegien „verdient“ hatte – vom Leid der Verlierer ab. Armut wurde (wie heute vielfach wieder) als selbstverschuldet verstanden und als Makel behandelt. Wohlstand hingegen galt als ein Zeichen des göttlichen Segens, und um diesen zu feiern, ließ ein Besserverdiener im Tempel auch mal ordentlich was springen. Doch dann stört dieser ungehobelte Partyschreck im Namen Gottes die andächtige Stimmung mit dem Hinweis darauf, dass Gott die ganze Sache stinkt.

Dabei sind, um die Kritik des Propheten noch etwas weiter zu entfalten, keineswegs nur die Lieder das Problem, es können auch die Predigten sein: Als im 19. Jahrhundert das Industrieproletariat entstand, bezeichnete kein Geringerer als Goethe die Predigten des Erweckungspredigers Friedrich Wilhelm Krummacher, die zwar die persönliche Moral, Heiligung und den rechten Glauben betonten, aber die sozialen Missstände unberührt ließen, als „narkotisch“. Friedrich Engels, Sohn eines frommen Fabrikanten aus Wuppertal, fand noch viel drastischere Worte.

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„Nervige“ Gottesdienste (1): Die Tücken der Konsumkritik

Den folgenden Text habe ich für eine Mitarbeiterhilfe des CVJM geschrieben, und diesen ersten Teil auch vor einigen Monaten schon einmal gepostet unter dem Titel „Die Singkrise“. Damit auch die folgenden Gedanken nachvollziehbar werden, stelle ich das nun erneut ein und lasse den Rest in kurzen Abständen folgen. Wer’s schon kennt, kann warten bis zum zweiten Teil.

Kürzlich nahm ich als Gast bei Freunden an deren Gottesdienst teil und die Lobpreisband spielte Matt Redmans berühmtes Lied “Heart of Worship”. Die Story dazu ist nicht nur unter Insidern bekannt: Redmans Gemeinde – die Jugendkirche „Soul Survivor“ im englischen Watford – stellte fest, dass ihre Lobpreismusik dabei war, zum Selbstzweck zu werden und Gott selbst in den Schatten zu stellen – gerade weil sie so angesagt und mitreißend war. Also verschrieb man sich eine Phase der Entwöhnung und verzichtete auf die Musik – wie die Katholiken auf die Glocken in der Karwoche (da fliegen diese angeblich nach Rom). In dieser Zeit entstand das Lied, das davon handelt, dass es nicht um Lieder und Musik geht, sondern um die Liebe zu Gott. So weit, so gut. Ich finde, es ist wirklich ein schönes und bewegendes Lied.

Und es kann einen zum Nachdenken bringen!

Bei Soul Survivor haben sie längst wieder begonnen zu singen und “Heart of Worship” hat überall auf der Welt begeisterte Aufnahme gefunden. Vielleicht, weil es ein Dilemma anspricht, das viele ganz ähnlich empfinden: das Medium entwickelt eine Eigendynamik, es verdeckt mehr als dass es noch Hinweischarakter hätte, geistliche Musik wird zum Konsumartikel. Auch dazu wurde schon viel gesagt.

Aber reicht es denn schon aus, in einem Lied (unter etlichen anderen) darüber zu singen, dass Singen nicht alles ist und manchmal mehr von Gott ablenkt als zu ihm hinführt, ohne dann auch tatsächlich den Ausknopf zu drücken und zu sehen, was denn wirklich passiert, wenn wir mit leeren Händen dastehen, die Stille mühsam aushalten, in der der innere Lärm und die Störgeräusche von nichts mehr übertönt werden – und können wir glauben, dass Gott uns dann auch darin begegnet? Sollte man so ein Lied eigentlich singen, ohne sich die damit verbundenen Herausforderungen tatsächlich zugemutet zu haben? Anders gefragt: Verhindert es am Ende vielleicht genau den Erneuerungsprozess, den es beschreibt? Ist es genug, dass wir den Gedanken oder die unbehagliche Ahnung „eigentlich müsste man etwas ändern“ zwar ausdrücklich zu Protokoll geben, die tatsächliche Beschäftigung mit diesem Thema dann aber umgehend wieder vertagen?

Der Philosoph und Gesellschaftskritiker Slavoj Zizek hat in den letzten Jahren immer wieder angemerkt, dass unsere Konsumkultur und der moderne Kapitalismus längst einen Weg gefunden haben, die Kritik am System zum Teil des Systems zu machen. Ohne dass sich das System an sich ändert, das – Papst Franziskus hat es erst kürzlich scharf kritisiert – alles und jeden zur Ware macht, die man kauft, benutzt und wegwirft, kann sich der Konsument etwa durch ethisch „guten“ Kaffee für einen gewissen Aufpreis von seinem schlechten Gewissen loskaufen. Das Rädchen, das zu quietschen drohte, läuft nun wieder wie geschmiert.

Zizek bestreitet nicht, dass „fairer Konsum“ die Lage mancher Erzeuger tatsächlich verbessert, er zweifelt nicht an den guten Absichten der Beteiligten, aber er fragt, ob die gute Absicht konsequent genug umgesetzt wurde, oder ob wir es am Ende doch mit einer Alibi-Aktion zu tun haben, die nur die hässlichen Symptome kaschiert und die wahren Ursachen unberührt lässt. Würden wir nach diesen Ursachen fragen, dann müssten wir uns unseren Ohnmachtsgefühlen angesichts dieser trostlosen Lage stellen, der Resignation und Gleichgültigkeit, die uns lähmen oder zur Flucht in heile Welten drängen: virtuelle Phantasiewelten, die (spieß-)bürgerliche Idylle oder fromme Subkulturen. Zieht man den Horizont nur eng genug, bleiben all die verstörenden Dinge außer Sichtweite.

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Unrein: Vom Essen, Ekel und dem Evangelium

Barmherzigkeit statt Opfer – auf diese Formel bringt Jesus seinen Konflikt mit den Pharisäern in Matthäus 9. Hinter diesen beiden Begriffen stehen gegensätzliche Weltbilder und Lebensweisen, mit denen wir bis heute ringen. Vor allem aber ein mächtiges Gefühl, das in Kirche und Theologie gravierende Folgen nach sich zieht.

Statt eines „normalen“ Blogposts stelle ich heute den Mitschnitt und die Präsentation meiner Predigt von gestern hier ein. Sie beruht in vielem auf dem ungemein hilfreichen und erhellenden Buch Unclean: Meditations on Purity, Hospitality, and Mortality von Richard Beck, das ich seit einigen Tagen mit einer ganzen Serie von Aha-Effekten lese. Vielen Dank an Rainer Behrens für den Tipp, und viel Spaß beim Zuhören. (Leider ist der Ton in den ersten Sekunden durch ein Versehen meinerseits etwas hallig, das hört aber gleich auf)

Weitere Posts zu Becks spannenden Thesen werden folgen.

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Der Wald, der Weg und die Angst

Die Bayerische Staatsforsten GmbH ist ein Unternehmen, das sich durch besondere Großzügigkeit auszeichnet. Einerseits, weil sie seit ein paar Jahren selbstlos den russischen Holmulti Ilim Timber mit einem langfristigen Liefervertrag zum Tiefstpreis beglückt, andererseits, weil man beim Schottern der – inzwischen für den Schwerlastverkehr zum Abtransport eben dieses Holzes verbreiterten – Forstwege mit dem Material auch sehr freigiebig umgeht. Als Radfahrer schwimmt man förmlich im losen Mikrogeröll. Und gelegentlich sind als kostenlose Zugabe sogar extra große Steine auf dem Weg zu finden.

Wie dem auch sei: Nach einer Weile bilden sich auf den üppig geschotterten Waldwegen kleine, fußbreite Spurrillen, in denen man halbwegs gefahrlos Radfahren kann. In einer solchen war ich heute ein paar Kilometer weit unterwegs und staunte nach einer Weile, wie gut und flott das doch ging.

Hätte ich stattdessen auf einem ebenso breiten Balken radeln müssen und auf beiden Seiten wäre es einen, oder ein paar hundert Meter steil bergab gegangen, wäre mir das nicht so leicht gefallen. Vermutlich wäre ich vor lauter Nervosität gestürzt. Nicht, weil der Balken zu schmal gewesen wäre, sondern die Angst zu groß.

Ist es da noch ein Wunder, dass Menschen, die in einem Klima der Angst leben müssen (vor dem Staat, vor dem Chef, vor dem wirtschaftlichen Absturz) nicht etwa besser und motivierter bei der Sache sind als andere, sondern häufiger Fehler machen, und dass umgekehrt Angstfreiheit Menschen zu erstaunlichen Dingen fähig macht?

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