Fremdschämen

Gestern Abend in einem kleinen orientalischen Imbiss nahe Paddington. Ich warte auf mein Essen, vor mir stehen zwei Mittfünfziger in der Schlange und unterhalten sich auf Deutsch. Ich versuche, nicht hinzuhören, aber es funktioniert nicht. Die beiden reden während des Wartens (vielleicht auch wegen der Wartezeit) darüber, was hier alles nicht richtig läuft und was man tun müsste, wenn man wirklich Geld verdienen wollte. Die eigenen Landsleute sind erst in der Fremde so richtig peinlich.

Mag sein, dass das eine oder andere Körnchen Wahrheit drin war. Ist das vielleicht eine nationale Krankheit, dass wir immer Zensuren verteilen und allen anderen erklären müssen, was sie falsch machen? Die Angestellten in dem Imbiss haben es zum Glück nicht verstanden, hoffe ich. Ich hatte keine Lust, mich in das Gespräch einzuschalten. Das Essen war gut, die Leute waren freundlich, der Preis war anständig – alles gut.

Es erinnerte mich an ein Gespräch, das mein Sohn mit ein paar bayerisch sprechenden älteren Damen auf der Zugspitze führte. Im Gipfelrestaurant trafen wir verschwitzen Wanderer ein sehr internationales Publikum. Offenbar veranlasste das die beiden zu dem abfälligen Kommentar, „ganz Arabien“ sei ja inzwischen hier versammelt. Mein Sohn erzählte von und fand dann missbilligend, die beiden hätten sich doch besser freuen sollen, dass Touristen kommen und einen Haufen Geld im Land ausgeben.

Ich war mehr als nur ein bisschen stolz auf seine Reaktion…

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Wo (das) Fleisch ist, da ist Freiheit

Sascha Lobo stellte gestern in seinem Fazit zur Wahl nicht ohne Befremden fest: „Die Bürger fürchten den Veggie-Day in der Firmenkantine mehr als die Totalüberwachung des Internets.“ Fleischtöpfe statt Freiheitsrechte, das ist ein Thema, das auch in der Bibel schon gelegentlich vorkam.

Nun sind wir gesamtgesellschaftlich bei der Umkehrung des Freiheitsgedankens angelangt, den Paulus in 2.Kor 3,17 formuliert: Die Option des Konsumenten, Fleisch (oder was auch immer sonst) zu konsumieren – und zwar wann, wo, wie oft und in wie viel er will – wird als wichtige Freiheit behauptet. Das ist auch eine Art, sich über die fortschreitende Fremdbestimmung unseres Lebens hinwegzutrösten. Offenbar eine bevorzugte, weil sie uns weder mit den komplexen äußeren Ursachen dieser Unfreiheit konfrontiert noch unsere innere Verstrickung in dieselben beleuchtet.

Die Freiheit des Geistes, von der Paulus spricht, würde bedeuten, sich genau diesen Themen zu stellen und die Angst vor der Auseinandersetzung mit sich selbst wie mit den treibenden Kräften hinter unseren Ohnmachtsgefühlen zu verlieren, um am Ende sogar zu der Hoffnung zu gelangen, dass das Wunder der Freiheit nicht nur in der Innerlichkeit des einzelnen, sondern auch in gesellschaftlichen Beziehungen passieren kann.

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Gottes weiter Horizont: Keltische Spiritualität entdecken

Ich habe mich sehr über die Einladung gefreut, am 18. und 19. Oktober hier in der Region, im Spirituellen Zentrum im Eckstein einen Vortrag (Freitag) und ein Seminar (Samstag) über keltisch-christliche Spiritualität zu halten. In diesem Jahr habe ich ja wieder einige Entdeckungen gemacht und einige Ursprungsorte besucht.

Das Ganze war sehr inspirierend und bereichernd, weil sich hier Dinge schon verbunden hatten, die wir heute erst wieder mühsam zusammenbringen müssen. Und ich gebe die Einladung auch deshalb gern weiter an alle, die es interessiert. Wer unentschlossen ist, kann auch am Freitag Abend kommen und sich dann noch kurzfristig für den Samstag anmelden. Hier ist der offizielle Kurztext zum Thema:

Die Geschichte des keltischen Christentums zeigt: Mönche aus Irland und Britannien waren die Missionare des frühen Frankenreiches. Begegnen wir in dieser Kirche also den Wurzeln des eigenen Glaubens, dem Ursprung der Christianisierung Bayerns? Wie das Evangelium das untergehende römische Reich hinter sich ließ und bei den Kelten Fuß fasste, fasziniert bis heute: Denn es zerstörte deren Kultur nicht, sondern verlieh ihr einen kreativen Schub. Nicht zuletzt finden sich im Leben der letzten Kelten und ersten Christen Impulse für eine frische und nachhaltige Mystik, in die wir heute wieder meditativ einüben können.

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Wahrheit als Gemeinschaft

Ich hatte es ja kürzlich schon einmal kurz angerissen – Parker Palmer entwickelt in To Know as We Are Known eine biblisch-theologische Grundlegung des christlichen Wahrheitsbegriffs, die sich für mein Empfinden wirklich sehen lassen kann.

Palmer beginnt mit dem Johannesevangelium, in dem Jesus den Anspruch erhebt, die Wahrheit in seiner Person zu verkörpern. Das frühe Christentum hat diese Aussage bestens verstanden (das keltische Christentum im Übrigen auch!), dass es hier nicht primär um Logik und Lehrsätze geht, sondern um Menschen und deren Leben. Deswegen erzählen die Evangelien auch eine Geschichte, anders lässt sich lebendige und persönliche Wahrheit gar nicht ausdrücken.

Den Kontrast zu Jesus bildet Pilatus mit seiner Frage „Was ist Wahrheit?“, als er sich Jesus gegenüber sieht. Das „was“ deutet schon an, dass Pilatus Wahrheit als Gegenstand versteht, als Objekt der Betrachtung, das für den so distanzierten Betrachter selbst etwas Äußeres bleibt. Pilatus versucht Jesus im Folgenden zu objektivieren, etwa mit dem Etikett „König“. Jesus sperrt sich gegen eine Kategorisierung, die ihn auf bestimmte Kriterien und Eigenschaften (z.B. „Freund“ oder „Feind“) reduziert. Stattdessen konfrontiert er den Pilatus mit seinem persönlichen Anspruch und seiner einzigartigen Geschichte, aber auf dem Ohr ist Pilatus taub. Er will sich auf keine Beziehung einlassen, die ihn verändern könnte.

Palmer folgert: Im christlichen Verständnis ist Wahrheit kein externer Gegenstand und auch keine Lehraussage über einen solchen. In Jesus wird das Wort Fleisch und damit besteht die Verbindung zu Gott in dieser menschlichen, persönlichen Beziehung:

Wenn Jesus sagte „Ich bin … die Wahrheit“, dann stellte er damit keine eigenwillige Behauptung über eine Privatperson auf, er lud zu keiner Beziehung ein, die entweder alles wäre, was wir wissen müssten, oder die sich von allem anderen abkoppeln ließe. Er behauptete weder, dass er alle Wahrheiten in seinem Kopf hatte, noch dass uns seine Wahrheit der Aufgabe enthebt, die Wahrheit in ihren vielfältigen Formen zu suchen. Stattdessen kündigte er ein neues Verstehen der Wirklichkeit und unserer Beziehung zu ihr an und verkörperte das auch. Die Wahrheit – wo immer und in welcher Gestalt man sie auch findet – ist persönlich und man erkennt sie durch persönliche Beziehungen. Die Suche nach dem Wort der Wahrheit wird zur Suche nach der Gemeinschaft miteinander und der ganzen Schöpfung. (S. 49)

Arne Bachmann hat in einem Post über Zizek und Badiou jüngst einen ähnlichen Gedanken beschrieben: „In einem Wahrheits-Ereignis zeigt sich immer etwas Partikulares (hier: Jesus von Nazareth) als etwas Universelles.“ Palmer verweist an dieser Stelle auf Martin Buber, der die tiefere Dimension der Wirklichkeit als Ich/Du-Verhältnis beschrieb. Und er fügt gleich hinzu: Ein solches Verständnis von Wahrheit als Beziehung bedeutet nicht, dass Christen das Wissensmonopol besäßen. Denn wenn Wahrheit persönlich ist, dann ist sie auch (nicht nur, aber auch) in jedem Menschen anzutreffen, egal welchem Glauben er angehört.

Wahrheit finden wir nicht im Kleingedruckten unserer Theologie oder der Zugehörigkeit zu einer Organisation, sondern in der Qualität unserer Beziehungen – zu einander und zur geschaffenen Welt. (S. 50)

Das größte Hindernis auf dem Weg zur Wahrheit ist der Objektivismus, der sich innerlich unbeteiligt aus den Beziehungen herausnimmt und damit immer auch die Tendenz zu Spaltung, Manipulation und Unterdrückung in sich trägt. Zudem verengt er die Wahrnehmung auf Empirie und Vernunft, statt den ganzen Menschen als das „Instrument“ zu betrachten, das die Wirklichkeit in sich aufnehmen und abbilden kann. Nur dieses umfassend verstandene Selbst, das mehr ist als die Summe seiner Teile und Eigenschaften, sondern in sich schon ein vielstimmiger Mikrokosmos, kann in Beziehung mit seiner Umwelt treten:

Die Beziehungen des Selbst erfordern nicht nur Sinneseindrücke vom anderen; nicht nur logische Verbindungen zwischen Ursache und Wirkung; sie erfordern auch ein inneres Verstehen des anderen, das durch Empathie entsteht; ein Gespür für den Wert des anderen, der durch Liebe entsteht; ein Gefühl für seine Herkunft und sein Ziel, das aus dem Glauben kommt; und eine Achtung seiner Integrität und seiner Selbstheit, die daher rührt, dass wir auch unsere eigene achten. (S. 52f.)

Anders als beim Objektivismus, der Wahrheit auf Empirie und Vernunft reduziert, ist dieser Ansatz keine erkenntnistheoretische Einbahnstraße, er die Beziehung setzt eine Wechselwirkung voraus, in der der Erkennende sich zugleich auch erkennen und verändern lässt. Aber weil die Wahrheit gemeinschaftlich ist, erweist sich auch der Subjektivismus als Sackgasse. Dessen Aufspaltung der Wirklichkeit in „meine“ und „deine“ Wahrheit, die fortan beziehungslos nebeneinander stehen, greift ebenfalls zu kurz. Denn wenn alles an den persönlichen Empfindungen und Bedürfnisse gemessen und durch keine äußere Wahrheit mehr erweitert und bereichert wird, isoliert sich das Selbst, es verliert sich in seiner eigenen Welt und alles andere (andere Menschen und deren Welt) wird zu einem Objekt ohne Bedeutung.

Wir begegnen hier einem wichtigen Paradox: Indem der Objektivismus die Welt auf eine Ansammlung von Gegenständen reduziert, stellt er den Erkennenden in ein Feld stummer und lebloser Objekte, die passiv seinen Definitionen ihrer selbst unterliegen. In dieser Hinsicht erschafft der Objektivismus die subjektivste aller Welten, eine Welt von Dingen, die sich nicht wehren und ihre Selbstheit behaupten können. (S. 55)

Wahrheit als Beziehung ist Wahrheit auf Gegenseitigkeit. Etwas wirklich zu kennen bedeutet, eine innere Verbindung herzustellen und es zu einem Teil von mir werden zu lassen. Palmer zitiert Abraham Heschel, der gesagt hat, man könne die Wahrheit nicht finden ohne sich zu verlieben. Wenn wir von Wahrheitssuche reden, dann wird diese aus christlichem Verständnis weniger dadurch kompliziert, dass die Wahrheit verborgen wäre und sich uns entzieht, sondern dass wir uns der Wahrheit entziehen, die uns aufsucht. Darin lag das Geheimnis der Wüstenväter: Sie zogen in die Einsamkeit und Stille, damit die Wahrheit sie finden und stellen konnte.

Und so kann es sein, dass mich die Wahrheit auch in Gestalt einer Romanfigur verfolgt und einholt. Palmer sagt, wenn man die Metaphern des Objektivismus aus der Festkörperphysik auf den Erkenntnisprozess anwenden kann, dann lassen sich auch Natur- und Sozialwissenschaften in den Begrifflichkeit von Person und Beziehung ausdrücken und die nichtmenschliche Schöpfung wird Teil einer lebendigen Gemeinschaft der Wahrheit, die zu uns „spricht“. Wissen, das personifiziert, ist kein anthropomorph verzerrendes oder minderwertiges Wissen, so wie die Inkarnation in christlichem Verständnis Gott auch nicht auf ein plattes Menschsein reduziert. Stattdessen öffnet sie einen weiten Raum:

Das Band des Zuhörens hält die kosmische Gemeinschaft zusammen – das vorsichtige, verletzliche Hören darauf, wie die Dinge von diesem Standpunkt aus aussehen und von jenem und jenem, ein Hören, das es uns erlaubt, den anderen nicht nur zu kennen, sondern auch von seinem Standpunkt aus erkannt zu werden. Der Objektivismus sagt der Welt, was sie ist, statt darauf zu hören, was sie über sich selbst sagt. Der Subjektivismus ist der Entschluss, auf niemanden zu hören außer uns selbst. Aber die Wahrheit erfordert es, dass wir gehorsam auf einander hören, auf das antworten, was wir hören, und das Band der Gemeinschaft der Treue [community of troth] anerkennen und neu knüpfen.

Truth as troth – Wahrheit als personales Treueverhältnis, mit diesem englischen Wortspiel drückt Palmer die entscheidende Dimension des Persönlichen und der Beziehung aus. Das hat bei ihm zum Beispiel Folgen für eine ökologische Ethik, in der wir die Schöpfung nicht als Objekt verstehen und uns selbst als ihre Mitgeschöpfe. Und Dietrich Bonhoeffer hat in der Diskussion um die Wahrheit menschlichen Redens im 8. Gebot das Fallbeispiel eines Schülers mit einem alkoholkranken Vater gebraucht. Der Lehrer fragt den Jungen vor versammelter Klasse (und daher in der klar erkennbaren Absicht, ihn zu demütigen), ob sein Vater immer noch trinke. Der Junge verneint und bleibt damit in der Beziehung zu seinem Vater treu und loyal. Der desinteressierte Lehrer und die Mitschüler hingegen haben kein Recht, Einblick in die Not dieser Familie zu erhalten. Der objektivistische Wahrheitsbegriff ließe mit seiner binär-ausschließenden, trivialen Logik eine solche Differenzierung, wie Bonhoeffer sie vornimmt, gar nicht zu. Liebe, Empathie und Glaube aber geben dem Jungen Recht, wenn er so redet.

Bernhard von Mutius kommt in Die andere Intelligenz Palmers relationalem Verständnis von Wahrheit von einer anderen Seite nahe. Er zitiert Hannah Arendt, die gesagt hatte: „Politik entsteht im Zwischen – in dem Zwischen-den-Menschen – und etabliert sich als Bezug.“ Er plädiert daher für ein „Denken nach den großen Theorien“, das die Perspektive des anderen einschließt und die Beziehung, eben das Dazwischen, in den Mittelpunkt rückt. Schließlich spielt sich Denken in unserem menschlichen Gehirn auch im Dazwischen ab, nämlich den Verknüpfungen der Neuronen. Ein solches Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit hat unmittelbare Auswirkung auf gesellschaftliche Zusammenhänge:

Viele Führungsverantwortliche in der Politik wie in der Wirtschaft kleben immer noch an alten, verdinglichten Ordnungskonzepten, an objekthaft gedachten Programm- und Planvorstellungen, in denen vitale Beziehungsgeflechte der Menschen. ihre aus positiven und negativen Identifikationen gespeisten Handlungsenergien allenfalls ganz am Rande auftauchen. Es ergeht ihnen deshalb bei der »Umsetzung« ihrer so exakt geplanten und berechneten Strategien häufig so wie bei dem seltsamen Crocket-Spiel im Wunderland, von dem Alice sagt: ”Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie man durcheinanderkommt, wenn das ganze Spielgerät lebendig ist; mein nächstes Tor zum Beispiel läuft gerade dort hinten auf dem Spielfeld herum.«

Der Objektivismus, mit dem man sich von der Willkür feudaler Herrscher und ihrem Subjektivismus befreien wollte, hat also seinerseits die Neigung zu autoritären Top-Down-„Lösungen“ befeuert. Der Relativismus eines „schwachen Pluralismus“ hingegen hat, um diesem Diktat zu entgehen, zum Kampf aller (sich selbst isolierender) Akteure um die Deutungshoheit geführt, in dem sich am Ende der Gewiefteste, Skrupelloseste oder Mächtigste behauptet. Palmer schließt das Kapitel mit der Bemerkung, wie die Suche nach der Wahrheit heilsam und verbindend wirken kann:

Die Anschauung, dass Wahrheit persönlich ist, führt weder zum objektivem Imperialismus noch zum subjektiven Relativismus. Stattdessen findet man die Wahrheit, indem wir einer pluralistischen Wirklichkeit gegenüber gehorsam sind, uns geduldig auf einen Prozess der Zwiesprache einlassen, nach einem Konsens suchen und einer persönlichen Verwandlung, die alle Beteiligten dazu bringt, sich unter das Band des gemeinschaftlichen Treueverhältnisses zu begeben.

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Wer verliert, wenn die Verlierer gewinnen?

Das Thema Macht lässt mir keine Ruhe, weniger wegen der (nun doch noch spannenden?) Wahl am Sonntag, sondern aus einem theopolitischen und soziospirituellen Interesse, das mich seit langem schon begleitet. Gestern habe ich dazu einen langen Post zu Zygmunt Baumans Analyse der Sicherheitsreflexe unserer verunsicherten Gesellschaft geschrieben – die sind im aktuellen Wahlkampf mit Händen zu greifen.

Einen anderen wichtigen Aspekt steuert dieser Artikel von Sven Stillich auf Zeit Online bei. Dort wird unter anderem beschrieben, dass das Bedürfnis, andere Menschen zu demütigen, bei Menschen mit niedriger Anerkennung und sozialem Status deutlich höher ist als bei den „wirklich“ Mächtigen (die Mächtigen mit hohem Status neigen „nur“ zu Überheblichkeit und werden einsam): „Menschen, die ihren eigenen Status als Erniedrigung auffassen, [lassen] bei Machtgewinn oftmals andere darunter leiden.“ Die Wärter von Abu Ghraib waren, so Stillich, Reservisten, auf die der Rest der Truppen im Irak herabsah.

Wer sich als Ohnmächtig erlebt, neigt also zum Missbrauch der wenigen Macht, die ihm noch bleibt. Das ließe sich nun an vielen Beispielen durchbuchstabieren, nicht nur in Syrien und Ägypten, sondern auch direkt vor unserer Haustüre.

Vielleicht ist aber eine andere Frage interessanter: Welche Art von innerer Veränderung ist nötig, damit die ehemals Ohnmächtigen tatsächlich mit Macht und Verantwortung umgehen können? Was lässt sich der perversen Logik der Despoten entgegensetzen, die behaupten, nach ihrer Entmachtung werde alles nur schlimmer?

Das ist auch, ja vor allem eine spirituelle Frage. Möglicherweise liegt hier das Potenzial des Evangeliums, das Menschen die Würde der Gotteskindschaft zuspricht, und das von einem wahrhaft Mächtigen handelt, der sich selbst erniedrigt. Der es nicht nötig hat und für nötig hält, andere seine Überlegenheit schmerzhaft spüren zu lassen. Wie lässt sich das nun so vermitteln, dass es sein revolutionäres Potenzial tatsächlich entfaltet und die Rache- und Gewaltphantasien schon im Keim erstickt?

Einen kleinen Hinweis darauf, wie es aussehen könnte, gibt dieser Bericht über die Arbeit der Franziskaner in der Bronx. Da gewinnen die Verlierer, ohne jemand anderen eine Niederlage beibringen zu müssen.

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Der verfehlte Hass der (vermeintlich?) Ohnmächtigen

DSC01051.jpgZygmunt Bauman hat mit Collateral Damage keine schrille und leicht zu diskreditierende Apokalypse, sondern eine nüchterne, zutiefst beunruhigende, aber alles andere als leidenschaftslose Zustandsbeschreibung unserer westlichen Welt vorgelegt. Das grundsätzliche Lebensgefühl (Wolfgang Herles sprach es gestern bei Pelzig hält sich an) in einer fundamental unberechenbaren Welt ist das der Unsicherheit. Folglich nimmt das Bedürfnis nach Sicherheit dramatisch zu.

Aber wie gehen Bürger und Politiker nun damit um? Es werden immer mehr Versuche unternommen, bestimmte Risiken zu eliminieren, und diese Maßnahmen haben einen immens hohen Preis. Neben den monetären Kosten bleibt vor allem eine am Gemeinwohl orientierte Ethik auf der Strecke, wie Bauman treffend anmerkt. Im Namen der Sicherheit werden bestimmte „Risikogruppen“ pauschal entmenschlicht und ausgegrenzt:

What casts security and ethics in principled opposition to each other (an opposition excruciatingly difficult to overcome and reconcile) is the contrast between divisiveness and communion: the drive to separate and exclude which is endemic to the first versus the inclusive, unifying tendency constitutive of the second. Security generates an interest in spotting risks and sorting them out for elimination, and for that reason it targets potential sources of danger as objects of ‘pre-emptive’ exterminating action, unilaterally undertaken. The targets of this action are by the same token excluded from the universe of moral obligation. Targeted individuals and groups or categories of individual are denied human subjectivity and recast as objects pure and simple, located irrevocably at the receiving end of action.

Sicherheit und Ethik geraten in einen grundsätzlichen Gegensatz zu einander (der sich nur unter großen Anstrengungen überwinden und versöhnen lässt) durch den Kontrast zwischen Spaltung und Gemeinschaft: Der Drang zu trennen und auszuschließen, der in ersterer angelegt ist, gegen die einschließende, verbindende Tendenz, die die letztere konstituiert. Sicherheit führt zu einem Interesse daran, Risiken zu erkennen, sie zu kennzeichnen, um sie ausmerzen zu können, und aus diesem Grund nimmt sie potenzielle Gefahrenquellen als Objekte „präventiver“ Beseitigungsmaßnahmen ins Visier, die einseitig unternommen werden. Die Ziele diese Aktion sind im Gegenzug aus dem Universum moralischen Anspruchs ausgeschlossen. Den anvisierten Individuen und Gruppen oder Kategorien von Individuen wird es vorenthalten, ein menschliches Subjekt zu sein, sie werden schlicht und ergreifend zu Objekten reduziert, die unwiderruflich nur noch Betroffene dieser Maßnahmen sind.

Bauman erinnert daran, wie Juden und „Zigeuner“ im dritten Reich durch „sanitäre“ Maßnahmen beseitigt wurden. Von heutigen Sicherheitsdebatten unterscheidet sich der Rassenwahn von damals sehr wohl durch andere Auswahlkriterien, nicht aber darin, dass das subjektive Bedürfnis nach Sicherheit keine Grenzen kennt und die Angst zunimmt, je mehr man sich in Kokons abschottet und in „gated communities“ einmauert. Es sind weiterhin „die Fremden“ vor der eigenen Haustür, auf die man die Angst projiziert, deren eigentliche Ursachen oft hunderte oder tausende Kilometer entfernt liegen, wenn man ihnen überhaupt einen bestimmten Ort zuweisen kann. Und je länger man im Ghetto und der sehr exklusiven und noch oberflächlicheren Gemeinschaft derer zubringt, die genauso sind wie man selbst (und der man sich auch nur so lange aussetzt, wie man Lust darauf hat), desto mehr schwindet die Fähigkeit, mit Andersartigkeit überhaupt noch angstfrei klarzukommen:

The principal beneficiary is our fear: it thrives and exuberates as it feeds on our border-drawing and border-arming efforts.

Der hauptsächliche Nutznießer ist unsere Angst: sie blüht und gedeiht durch unsere Bemühungen, Grenzen zu ziehen und uns zu wappnen.

Existenzielle Angst und die Suche nach Sicherheit, der Hang zur Ausgrenzung und der Hass auf Fremde und Schwache sind zentrale Themen der biblischen Überlieferung und der christlichen Theologie. Um so interessanter ist es, wie Bauman die Lösungsstrategien der Gegenwart beschreibt und bewertet:

Über kurz oder lang führt der Sicherheitswahn zum Verlust jeglichen Vertrauens innerhalb einer Gesellschaft: Verdächtigungen, Abgrenzungen, Feindseligkeit, Aggression und das Verkümmern moralischer Hemmungen. Und diese Phänomene sind keineswegs nur das Problem rechtspopulistischer Rattenfänger. Der wahre Grund der Unsicherheit der Mittelschicht sind nicht die Armen, sondern die alles andere als unbegründete Angst vor dem plötzlichen und unwiderruflichen Absturz, dem Verlust sozialer Privilegien und dem Ausschluss aus einer immer unsolidarischeren Gemeinschaft. Dagegen bieten auch Familie und Partnerschaft kaum noch Schutz, sie sind selbst brüchig geworden unter der Dauerbelastung unsicherer Arbeitsverhältnisse und ausgebluteter Sozialsysteme: Die Profiteure dieser Entwicklung, die ständig reicher werdenden Milliardäre, werden als Helden verehrt und bewundert. Das Vermögen der reichsten 400 US-Amerikaner (und das ist durchaus repräsentativ für die Superreichen weltweit) hat sich in den letzten 10 Jahren verdoppelt, allein im vergangenen Jahr stieg es um über 300 Milliarden auf nun 2 Billionen, schrieb Forbes diese Woche.

Dass Baumans Analyse brandaktuell ist, zeigt ein kurzer Blick in die Tagespresse: Nils Minkmar weist aktuell in der FAZ auf eine Studie des Rheingold-Instituts hin, die zeigt, dass in der „Beschaulichkeit des Merkelschen Neobiedermeier“ eine neue Qualität des Hasses auf Randgruppen und der Ausgrenzung heranwächst:

In einer Aggressivität, die in den letzten 25 Jahren in Rheingold-Studien noch nicht beobachtet wurde, wird angeprangert, dass „das eigene Geld im Süden versickert“; dass Zuwanderer und soziale Randgruppen „Geld von Vater Staat geschenkt bekommen“. Im Fokus des Hasses sind Hartzer und Sozialschmarotzer, die Faulenzer im Süden, die üblichen Verdächtigen. In der Studie heißt es dazu: „Die Angst vor der eigenen Ohnmacht beschwört die Sehnsucht nach eigener Tatkraft und der verlorenen Gewissheit, Herr im eigenen Haus zu sein.“

Und er lastet diese Entwicklung der Politik und Wahltaktik der Kanzlerin direkt an, wenn er weiter folgert:

Das ist die Gefahr, welche die Kanzlerin heraufbeschwört, wenn sie den Eindruck erweckt, man könne nichts machen und müsse das ja auch gar nicht; welche auch die Medien befördern, wenn sie die Möglichkeit einer anderen Politik als von vorneherein chancenlos und daher irrelevant karikieren; und die jene Intellektuelle in Kauf nehmen, die erklären, man könne ebenso gut auch nicht zur Wahl gehen. Es gibt in diesem Land eine manifeste Gefahr von Rechts, die sich ermutigt fühlt, je mehr alle anderen das Vertrauen in die Politik verlieren. Zudem ist der Eindruck, dass die Wahl entschieden sei, oder irrelevant und bloße Therapie, völlig falsch. Fast meint man, jemand habe ein Interesse daran, eine Macht, die alle teilen, permanent klein zu reden. Es ist aber echte und große Macht.

Da kommt also noch einiges auf uns zu…

(Wer möchte: hier geht’s zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3 der Bauman-Reihe)

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Mächtig verunsichert?

Eine Studie über das Verhalten von Bürokraten hat unbeabsichtigt, aber wunderbar klar herausgearbeitet, schreibt Zygmunt Bauman in Collateral Damage: Social Inequalities in a Global Age, wie Macht in unseren gesellschaftlichen Zusammenhängen funktioniert. Die einzelnen Exponenten und Ämter seien stets darauf aus gewesen, die Spielräume der anderen möglichst strikt zu regulieren, während man sich selbst jeder Festlegung zu entziehen versuchte. Wenn „der andere“ erst einmal seiner Handlungsoptionen beraubt war, konnte man sein Verhalten ausrechnen und ihn umgekehrt mit unvorhersehbaren Manövern ständig unter Druck setzen.

Anders gesagt: Wer den anderen ständig im Ungewissen lassen kann, sitzt am längeren Hebel.

Im Industriezeitalter galt für Unternehmer wie Mitarbeiter insofern noch eine gewisse Chancengleichheit, als etwa Henry Ford seine Angestellten auch als potenzielle Kunden betrachtete. Entlassungen im großen Stil hätten also unmittelbare Folgen für den Absatz und Gewinn des Unternehmens gehabt. Mit dem Anbruch der flüssigen Moderne hat sich das geändert, und der massiv geschwächte Staat hat dem kaum etwas entgegenzusetzen (tatsächlich haben die Regierenden auch gar kein Interesse daran!).

Es gibt jetzt nur noch eine einseitige Abhängigkeit, die Bosse waren für die Arbeiter außer Reichweite und hatten plötzlich zahllose Optionen auf ihrer globalen Spielwiese, während die einzelnen immer weniger Alternativen dort hatten, wo sie lebten. Die Folgen waren schwerwiegend – alles wurde beweglich, auch die Arbeitsprozesse selbst wurden dereguliert, plötzlich mussten die Leute nicht nur arbeiten, sondern ihre Arbeit in einem vorsätzlich immer willkürlicheren System auch selbst organisieren und verantworten:

During that second revolution, the managers banished the pursuit of routine and invited the forces of spontaneity to occupy the now vacant supervisors’ rooms. They refused to manage; instead, they demanded from the residents, on the threat of eviction, self-management.

… the new managerial philosophy is that of comprehensive deregulation: dismembering the firm and fixed procedural patterns that modern bureaucracy sought to impose. It favours kaleidoscopes over maps, and pointillist time over the linear. It puts intuition, impulse and spurs of the moment over long-term planning and meticulous design.

Um eine Gesellschaft aus derart verunsicherten Individuen dazu zu bringen, gegen die Mächtigen nicht aufbegehren, sondern sich freiwillig zu unterwerfen, sind noch weitere Tricks nötig. Im nächsten Post geht es dann um die systemstabilisierende Funktion der Angst vor den Fremden.

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Paradies und das

Die Landtagswahl ist vorbei und halb Bayern (genauer: 51% der Bayern, 59,9% der Erlanger) wachte heute mit einem schwarzen Kater auf. Für 49% (resp. 40,1% der Erlanger) dagegen ist die Normalität wieder hergestellt, und eben jenes Paradies gerettet, als das der alte und neue Ministerpräsident sein Bundesland so eifrig ausgegeben hat in den letzten Wochen. Zur Abwechslung hat er zwischendurch auch gern mal vom „gelobten Land“ gesprochen.

Beim weiteren Nachdenken über die populäre Paradies-Metapher kamen mir allerdings ein paar Zweifel an der Idylle:

Erstens gibt es im Paradies (nebenbei: wer da regiert, ist ja Gott…) nach landläufiger Anschauung kaum etwas zu verbessern, wohl aber zu beschädigen. Das wissen wir ja schon aus der Bibel. Wer glaubt, dass er das Paradies regiert, wird also tunlichst dafür sorgen, dass alles beim Alten bleibt – ganz besonders natürlich die absolute Mehrheit der Staatspartei.

Zweitens muss man das Paradies ständig gegen Bedrohungen von außen schützen: Die Autobahnen vor den Holländern und ihren Wohnwagen, das stabile Geld vor den undisziplinierten PIGS-Staaten, die Selbstbestimmung Bayerns vor der regelwütigen EU, die klammen Sozialkassen vor jeder Art von Flüchtlingen und Zuwanderern, den ausgeglichenen Haushalt vor den begehrlichen Saarländern, Bremern und Ossis (ok, am meisten hat uns bislang freilich das Desaster der Bayern-LB gekostet, aber daran waren ja die kriminellen Kärntner schuld!).

Im Grunde ist also erst einmal alles verdächtig, was sich unseren Grenzen nähert – es würde den paradiesischen Zuständen des Mia San Mia aller Wahrscheinlichkeit nach bloß schaden. Und wer im Inneren vom Baum der Erkenntnis nascht, könnte auch Schwierigkeiten bekommen.

Es werden also 5 interessante Jahre im „Paradies“.

 

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Parker Palmer, der Papst und die Wahrheit über die Wahrheit

 

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Wenn in unserer pluralistischen Gesellschaft nach der Wahrheit gefragt wird, dann machen nicht alle Christen dabei eine gute Figur. Die einen scheinen sich gar nicht mehr zu trauen, von Wahrheit zu reden, die anderen tun es in einer monopolisierenden Art, die vielen verständlicherweise plump, überheblich oder intolerant erscheint. Aber es gibt zum Glück auch gute Beispiele, und um die geht es mir:

Papst Franziskus hat diese Woche in einem offenen Brief an Nichtglaubende einen interessanten Satz geschrieben, in dem er sich vorsichtig distanziert von einer bestimmten Art und Weise, Wahrheitsansprüche zu stellen, vor allem „absolute“. Dabei war es ja sein unmittelbarer Vorgänger, der jeglichen „Relativismus“ mit großem Eifer bekämpfte. Er schreibt

Sie fragen mich auch, ob es ein Irrtum oder eine Sünde sei zu glauben, dass es keine absolute Wahrheit gebe. Ich würde zunächst auch für einen Glaubenden nicht von ,absoluter‘ Wahrheit sprechen – für den Christen ist die Wahrheit die Liebe Gottes zu uns in Jesus Christus, also eine Beziehung! Und jeder von uns geht von sich selbst aus, wenn er die Wahrheit aufnimmt und ausdrückt: von seiner Geschichte, Kultur, seiner Lage usw. Das heißt nicht, dass Wahrheit subjektiv oder veränderlich wäre, im Gegenteil. Aber sie gibt sich uns immer nur als Weg und als Leben.

Ganz ähnlich äußert sich auch Parker Palmer in To Know as We Are Known: A Spirituality of Education: Education as a Spiritual Journey im Blick auf das moderne Verständnis „objektiver“ Wahrheit – im Grunde sind die Attribute austauschbar, sie stehen für dieselbe Abstraktion: einer „Wahrheit“ im Sinne eines reinen „Sachverhalts“, also unter Absehung von den beteiligten Personen und deren Beziehung zu einander. Palmer beschreibt die Folgen dieses Denkens sehr treffend:

Christen haben zu oft in einer Weise davon geredet „Jesus zu kennen“, die zu einem von zwei Extremen neigt. Entweder „kennt“ der Glaubende Jesus so, dass es ihn der Aufgabe enthebt, noch irgendetwas anderes zu kennen (sei es Physik oder Psychologie oder englische Literatur), oder der Glaubende packt seine „Kenntnis“ von Jesus in eine Schublade, auf der „religiös“ steht, und betreibt andere Formen des Wissens, als bestünde keine Verbindung dazu. Wenn Christen Jesus auf diese Art „kennen“, ist es recht und billig, dass andere ihre „Wahrheit“ zurückweisen, weil sie entweder irrelevant für das übrige Leben ist oder die Art von prinzipieller Ignoranz hervorbringt, die schon so viel Böses verursacht hat.

Über Wahrheit als personale Beziehung, als Weg und als Leben muss man anders reden als über Fakten und Feststellungen, die – einmal korrekt erfasst – keinerlei Interaktion mit ihrem „Gegenstand“ mehr bedarf und den Wissenden nur insofern verändern, dass dieses Wissen ihn überlegen macht. Wer sich auf eine Beziehung zu Christus einlässt, der ist damit zugleich auch in die Gemeinschaft mit allen Menschen und der gesamten Schöpfung gestellt und damit verpflichtet, sich dieser Wahrheit seiner Mitgeschöpfe auch auszusetzen. Die biblische Geschichte ersetzt weder das Studium der Wissenschaft noch das Hören auf die Poesie, sie bereitet uns vielmehr – richtig verstanden – darauf vor, das Gespräch mit beiden in der größtmöglichen Offenheit zu führen und ganz neue Zugänge zu finden.

Ich glaube, der Quäker Parker Palmer und der Katholik Franziskus würden sich prächtig verstehen.

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Goodbye Lenin und die flüssige Moderne

Das Thema „Macht und Ohnmacht“ beschäftigt mich schon seit einem guten Jahr und das Ganze wird irgendwann auch noch in geeigneter Form zu Buche schlagen. Aktuell liegenPlutocrats. The Rise of the New Global Super-Rich and the Fall of Everyone Else von Chrytia Freeland (das ist auch noch ein paar Posts wert…), Autorität von Richard Sennett und Zygmunt Baumans souverän, leidenschaftlich und aufrüttelnd geschriebenes Buch Collateral Damage: Social Inequalities in a Global Age auf meinem Schreibtisch.

Zu letzterem poste ich heute und in den nächsten Tagen ein paar Anmerkungen, weil ich die dort angesprochenen Schieflagen für die entscheidenden und weitgehend ungelösten Aufgaben jenseits aller Tagespolitik halte. Das erste Kapitel habe ich mich neulich schon thematisiert. Im zweiten nimmt Bauman, der Krieg und den Totalitarismus Hitlers und Stalins noch aus eigener Erfahrung kennt, Abschied von der mit einem Requiem auf den Kommunismus. Er ist ist ein Kind der „festen“ Moderne („solid modernity“), eines Projekts, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Welt aufzuräumen und Gefahren zu beseitigen, und so die Vergangenheit zu zerstören und die Zukunft zu regeln:

It had been tacitly assumed that contingency and randomness, a profusion of accidents and an overall unpredictability of events, were anomalies; they were either departures from well-established norms, or the effects of the human inability to entrench a ‘normality’ visualized, postulated and designed as a state of equilibrium and regularity. The task was to lift up and put back on the rails a world that had been derailed by an engine fault or driver’s error, or to relay the rails on a tougher and more resistant bed. … The purpose of change was to bring the world to a state in which no more change would be called for: the purpose of movement was to arrive at a steady state. The purpose of effort was the state of rest, the purpose of hard labour was leisure.

Mit dem Kapitalismus lieferte sich der Sozialismus (und später Kommunismus) im Industriezeitalter einen Wettstreit darüber, wie dieses Ziel am schnellsten und einfachsten zu erreichen sei. Im Zuge dieses Wettstreits machte der Staat taktische Zugeständnisse an die Arbeiterschaft. Der Sozialismus drohte zu einer sich selbst widerlegenden Prophezeiung zu werden. Lenins Kommunismus, in dem Berufsrevolutionäre einspringen, wo die Massen versagen, und den Umsturz gewaltsam erzwingen, bezeichnet Bauman als „Abkürzung“ eines stagnierenden historischen Prozesses – in seiner totalitären Praxis war er der Todesstoß für jegliche Art menschlicher Freiheit und zugleich die vielleicht konsequenteste Umsetzung der Ideen fester Moderne:

In a nutshell, communism, Lenin’s version of socialism, was an ideology and practice of shortcuts – whatever the cost. Pushed to an extreme never tried anywhere else, the modern promise of bliss guaranteed by a rationally designed and rationally run, orderly society was revealed to be a death sentence on human freedom.

… To sum up, the communist experiment put to an extreme and perhaps ultimate and conclusive test the viability of the modern ambition of complete control over the fate and living conditions of human beings – as well as revealing the awesomeness of the human cost of acting on that ambition.

Im Übergang von der festen zur flüssigen Moderne gelang es dem Kapitalismus, sich neu zu erfinden, der Kommunismus hingegen (ich bin nicht sicher, wie Bauman China hier einordnen würde, vermutlich aber nicht als kommunistisches Land) ging unter. Im Westen gab man den alten Traum von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit allmählich auf, es blieb nur „Freiheit“ übrig, die man im Sinne von „Deregulierung“ interpretierte: Die Freiheit des Kapitals und der Märkte, während aus Brüderlichkeit der grenzenlose Wettbewerb wurde und Gleichheit in der zunehmend hohlen Prämisse bestand, jeder könne es nach oben schaffen, wenn er nur entschlossen genug daran arbeitet:

… in the liquid stage of modernity capitalism opted out from that competition: its wager was put instead on the potential infinity of human desires, and its efforts have focused since on catering for their infinite growth: on desires desiring more desire, not their satisfaction; on the multiplying instead of the streamlining of opportunities and choices; on letting loose, not ‘structuring’, the play of probabilities.

Bauman trauert dem Kommunismus nicht nach, aber er gibt zu bedenken, dass es ein ausgewachsenes Monster war, das ihn schließlich besiegte, und seither dazu führte, dass ein Prozent der Weltbevölkerung 90% über des Reichtums verfügt und dass Goldman Sachs für seine 161 Aktionäre mehr Gewinn macht, als der Staat Tanzania mit 25 Millionen Bürgern an Einkünften erzielt:

Most of the offputting and revolting, immoral aspects of the human condition that made that programme so attractive in the eyes of millions of denizens of ‘solid modernity’ (such as a blatantly unjust distribution of wealth, widespread poverty, hunger, humiliation and denial of human dignity) are still as much with us, if not even more blatantly, as they were two hundred years ago; if anything, they keep growing in their volume, force, hideousness and loathsomeness.

Die meisten der abstoßenden und widerlichen, unmoralischen Aspekte des Menschseins, die dieses Programm in den Augen so vieler Bürger der „festen Moderne“ so attraktiv gemacht hatten (etwa die krass ungerechte Verteilung von Reichtum, die weit verbreitete Armut, Hunger, Demütigung und die Missachtung der Menschenwürde) sind im Vergleich zu vor zweihundert Jahren immer noch vorhanden, wenn nicht gar verschärft; sie nehmen an Umfang, Einfluss, Bösartigkeit und Widerlichkeit eher noch zu.

In der neuen Situation der flüssigen Moderne sind aber viele staatliche und gesellschaftliche Institutionen überfordert, unter anderem auch die Nationalstaaten. Auch deshalb haben viele Menschen das frustrierende Gefühl, diesen Entwicklungen hilflos ausgeliefert zu sein. Kirchen und Glaubensgemeinschaften (zumal die katholische Kirche als echte globale Größe und unter dem neuen Papst) könnten bei dieser nächsten großen Aufgabe, die uns gestellt ist, eine wichtige Rolle spielen und dazu beitragen, die nötigen universalen Strukturen zu schaffen für die Bändigung des globalen Kapitalismus, umfassende Integration und die Überwindung von Armut und Ungleichheit.

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Angst essen Freiheit auf…

Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, muss sich um die Zukunft der Demokratie ernsthaft Sorgen machen. Spätestens seit ihr das Attribut „marktkonform“ verschrieben wurde, ist unübersehbar, dass sich die Macht vom Volk zu den Märkten verlagert und damit hin zu denjenigen, die sie über Geld und Institutionen beeinflussen können. Zugleich wird das immer ohnmächtige Volk von einer Sicherheitsdebatte in Atem gehalten, die die eigentlichen Ursachen der Angst und Verunsicherung verdunkelt.

Zygmunt Bauman ist sicher einer der renommiertesten Sozialwissenschaftler. In seinem neuen Buch Collateral Damage erinnert er daran, dass die Wiege der Demokratie im antiken Griechenland um die Agora kreiste, auf der Privates und Öffentliches vermittelt wurde. Die Geschichte der Demokratie seither kann man, so Bauman, als den Versuch begreifen, die in größeren Staaten nicht mehr allen physisch zugängliche Agora in neuen Formen wiederzubeleben, um den Bürgern die Partizipation am politischen Prozess zu ermöglichen:

What was essentially expected or hoped to be achieved in the agora was the reforging of private concerns and desires into public issues; and, conversely, the reforging of issues of public concern into individual rights and duties.

Rede- und Meinungsfreiheit werden heute als Gradmesser einer demokratischen Gesellschaft herangezogen. Der Soziologe Albert O. Hirschmann schlug vor, für Bürger und Verbraucher dieselben Kriterien zu verwenden, da er davon ausging, dass ökonomische Freiheit und Demokratie einander fördern und bedingen, eine wirtschaftliche Liberalisierung also über kurz oder lang auch die Freiheitsrechte der Bürger stärkt. Die These darf man heute als widerlegt ansehen, viele Wirtschaftswunder spielen sich in autoritären Staaten ab. Und auch in de demokratischen Gesellschaften tut sich eine Kluft aus zwischen den theoretisch gleichen Rechten der Bürger und deren Fähigkeit, sie tatsächlich wahrzunehmen.

Die Väter das Sozialstaates im 20. Jahrhundert hatten es sich zum Ziel gesetzt, diese Kluft zu überwinden. Sie waren darin keineswegs Sozialisten, sondern echte „Liberale“ im damaligen Sinn, denen es darum ging, möglichst vielen Menschen eine gesunde und gute Lebensperspektive zu ermöglichen, in der das liberale Ideal der Wahlfreiheit nicht nur Theorie bleibt:

Lord Beveridge, to whom we owe the blueprint for the postwar British ‘welfare state’, later to be emulated by quite a few European countries, was a Liberal, not a socialist. He believed that his vision of comprehensive, collectively endorsed insurance for everyone was the inevitable consequence and the indispensable complement of the liberal idea of individual freedom, as well as a necessary condition of liberal democracy.

Die Gemeinschaft muss dem einzelnen eine Grundsicherheit gegen Absturz und Ausschluss bieten, damit eine Bürgergesellschaft überhaupt funktionieren kann. Für Bauman ist der Sozialstaat die moderne Verkörperung der Idee menschlicher Gemeinschaft, in der wirtschaftliche, politische und soziale Rechte im Gleichgewicht sind:

…democratic rights, and the freedoms that accompany such rights, are granted in theory but unattainable in practice, the pain of hopelessness will surely be topped by the humiliation of haplessness; … Without social rights for all, a large and in all probability growing number of people will find their political rights of little use and unworthy of their attention.

T.H. Marshall konnte vor 60 Jahren noch postulieren, es gebe ein allgemeines Gesetz, nach dem sich aus Eigentumsrechten politische Rechte und daraus wiederum soziale Rechte entwickeln. Der Markt stärkt die Agora, und die wird immer inklusiver, bestehende Ungleichheiten werden zunehmend überwunden. Dagegen vertrat John Kenneth Galbraith die These, die zufriedene und gesättigte Mehrheit verliere das Interesse am Wohlfahrtsstaat, der zunehmend als störende Einengung statt als beruhigende Absturzsicherung empfunden werde. Und so kam es dann auch:

The introduction of the social state used indeed to be a matter ‘beyond left and right’; now, however, the turn has come for the limitation and gradual dismembering of welfare state provisions to be made into an issue ‘beyond left and right’.

Die Privatisierung führte zu einem immer stärkeren Abbau des Sozialstaates (Bauman versteht den Begriff nicht so sehr im Sinne einer abstrakten Umverteilung sondern einer gemeinschaftsdienlichen Zuwendung und Fürsorge) und damit zu einer Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – in bedrohlichem Ausmaß:

‘Privatization’ shifts the daunting task of fighting back against and (hopefully) resolving socially produced problems onto the shoulders of individual men and women, who are in most cases not nearly resourceful enough for the purpose; whereas the ‘social state’ tends to unite its members in an attempt to protect all and any one of them from the ruthless and morally devastating competitive ‘war of all against all’.

Die „Ordnung der Gleichheit“ – und mit ihr das Zutrauen und die Solidarität – nimmt ab, die „Ordnung des Egoismus“ kehrt zurück – und mit ihr das Misstrauen. Der Sozialstaat hatte Menschen vor einem dreifachen Fluch geschützt: dem Verstummen, der Exklusion und der Demütigung.

And it is the same principle that makes the political body democratic: it lifts members of society to the status of citizens, that is, it makes them stakeholders, in addition to being stockholders of the polity; beneficiaries, but also actors responsible for the creation and decent allocation of benefits.

Diese Demontage der Solidarität führt zu einem wachsenden Desinteresse an gesellschaftlichen und politischen Themen. Die Autonomie des einzelnen bedeutet, dass er nun auch Probleme zu lösen hat, die eigentlich den privaten Bereich weit übersteigen. Wahrgenommen wird das als eine verschärfte Konkurrenz der Individuen innerhalb einer Gesellschaft, die zu immer größeren Polarisierungen führt und große existenzielle Unsicherheit verbreitet:

Not much prompts people, therefore, to visit the agora – and even less prods them to engage in its works. Left increasingly to their own resources and acumen, individuals are expected to devise individual solutions to socially generated problems, and to do it individually, using their individual skills and individually possessed assets.

… To a steadily growing extent, the task of gaining existential security – obtaining and retaining a legitimate and dignified place in human society and avoiding the menace of exclusion – is now left to the skills and resources of each individual on his or her own;

Die Stars und Superreichen spielen dabei eine groteske Rolle: Sie werden zu Idolen, deren unerreichbaren Lebensstil man nachzuahmen versucht in der absurden und illusorischen Annahme, im Grunde könne es doch jedem gelingen, reich und berühmt zu werden. Die Illustrierten und Promi-Magazine sind das neue Opium des Volkes.

Die allgegenwärtige, nebulöse und unterschwellige Angst vor dem Scheitern und den Risiken des Lebens in dieser Gesellschaft spielt dabei den Politikern wie den Konzernen in die Hände. Produkte werden als identitätsstiftende Symbole vermarktet, die der Vergewisserung von Identität und Teilhabe dienen. Und die Regierenden führen öffentlichkeitswirksame Schaukämpfe an allen möglichen Fronten, um sich dem verunsicherten Wahlvolk als Retter anzubieten, wie Bauman scharfsichtig anmerkt:

… they are interested in expanding not reducing the volume of fears; and particularly in expanding fears of the kinds of dangers which TV can show them to be gallantly resisting, fighting back against and protecting the nation from. … However successful the state might be in resisting the advertised threats, the genuine sources of anxiety, of that ambient and haunting uncertainty and social insecurity, those prime causes of fear endemic to the modern capitalist way of life, will remain intact.

Ob Einwanderer oder Terroristen, Sozialschmarotzer oder Schuldenländer, die allzu gern beschworenen Risiken unterscheiden sich nur recht bedingt, während die wahren Ursachen der Verunsicherung weitgehend ungenannt und praktisch völlig unangetastet bleiben. Verletzungen und Bürger- und Menschenrechten werden dabei klaglos hingenommen, in der ebenso illusorischen Annahme, es treffe nur „die anderen“.

We, the ‘democratic majority’, console ourselves that all those violations of human rights are aimed at ‘them’, not ‘us’ – at different kinds of humans (‘between you and me, are they indeed human?!’) and that those outrages will not affect us, the decent people.

Das ganze liest sich wie ein prophetischer Kommentar zu den Ereignissen der letzten Monate – „Supergrundrechte“ etwa. Baumans Fazit zu den Mechanismen gegenwärtiger Politik fällt entsprechend düster aus (und diesmal hänge ich die Übersetzung an):

In an insecure world, security is the name of the game. Security is the main purpose of the game and its paramount stake. It is a value that in practice, if not in theory, dwarfs and elbows out of view and attention all other values – including the values dear to ‘us’ while suspected to be hated by ‘them’, and for that reason declared the prime cause of their wish to harm us as well as of our duty to defeat and punish them. In a world as insecure as ours, personal freedom of word and action, the right to privacy, access to the truth – all those things we used to associate with democracy and in whose name we still go to war – need to be trimmed or suspended.

In einer unsicheren Welt heißt das Spiel: Sicherheit. Sicherheit ist der Hauptzweck des Spiels und der vorrangige Einsatz. Ein Wert, der in der Praxis, wenn nicht auch in der Theorie, alle anderen Werte in den Schatten stellt und verdrängt – einschließlich derer, die ‚uns‘ teuer sind und von denen wir glauben, sie seien ‚ihnen‘ verhasst. und aus diesem Grund wurden sie zum Hauptgrund erhoben, warum sie uns schaden wollen und warum es unsere Pflicht ist, die zu besiegen und zu bestrafen. In einer Welt, die so unsicher ist wie unsere, müssen persönliche Freiheit in Wort und Tat, Zugang zur Wahrheit – all die Dinge, die wir immer mit Demokratie verbunden haben und in deren Namen wir immer noch in den Krieg ziehen – beschnitten oder außer Kraft gesetzt werden.

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Liebe Deutschlehrer

der von euch, an den dieser Text sich richten sollte, ist leider nicht mehr unter uns. Aber vielleicht ist es ohnehin wichtiger, dass die Aktiven es lesen: Ihr habt eine wichtige Aufgabe in dieser Gesellschaft.

Erst heute wurde ich wieder daran erinnert, sechste Klasse, Textgattung „Bericht“ glaube ich. Das Thema lautete „Fahrrad flicken“. Also musste ich mich informieren und die ganze Sache einmal ausprobieren (irgendein Rad ist in größeren Haushalten immer platt…). Rad ausbauen, Mantel runter, Schlauch raus, Loch finden, aufrauen, saubermachen, Flicken anzeichnen, Gummilösung, Flicken drauf, Folie ab, Schlauch rein, Mantel drauf, Rad einbauen (dabei auf die Felgenbremse achten), aufpumpen – losfahren. Eine echte Lektion fürs Leben, und weil ich es aufschreiben musste, habe ich es auch nie mehr vergessen.

Heute ist das leichter: Schnellspanner statt 15er-Schlüssel, Kleben statt Vulkanisieren, Kevlarstreifen zur Pannenverhütung im Mantel. Und trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass diese immens lebensertüchtigende Aufgabe immer noch Standard im gymnasialen Lehrplan wäre. Denn wenn heute in unserem (immer noch großen) Haushalt eines der vielen Räder platt ist (und eines ist immer platt), dann bin ich die erste Anlaufstation. Und ich kann nicht auf Unwissenheit plädieren…

Alles nur wegen dieses Aufsatzes in der sechsten Klasse. Was wären wir ohne Euch alle!

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Nicht verkriechen

Letzte Woche habe ich im Morgengebet der Iona Community dieses Lied mitgesungen, das schön widerspiegelt, wie man dort Spiritualität und Engagement als Einheit versteht. DIe Autorin, Kathy Galloway, war einige Jahre die Leiterin der Kommunität. Lieder aus Iona sind in diesem Buch erschienen.

Sich um richtige und wichtige Dinge wie den Garten zu kümmern, die eigene Seele und die Familie, darf nicht dazu führen, dass wir im Privaten steckenbleiben, so beschreibt es dieses Lied:

Do not retreat into your private world,

That place of safety, sheltered from the storm,

Where you may tend your garden, seek your soul

And rest with loved ones where the fire burns warm.

 

To tend a garden is a precious thing,

But dearer still the one where all may roam,

The weeds of poison, poverty and war,

Demand your care, who call the earth your home.

 

To seek your soul it is a precious thing,

But you will never find it on your own,

Only among the clamor, threat and pain,

Of other people’s need will love be known.

 

To rest with loved ones is a precious thing,

But peace of mind exacts a higher cost,

Your children will not rest and play in quiet,

While they hear the crying of the lost.

 

Do not retreat into your private world,

There are more ways than firesides to keep warm;

There is no shelter from the rage of life,

So meet its eye, and dance within the storm.

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„Es wird regiert“

Dieser Satz ist ein berühmtes Zitat des großen Karl Barth aus der Zeit des kalten Krieges und eigentlich ein Ausdruck christlicher Hoffnung. Ich habe mich in einem ganz anderen Zusammenhang wieder daran erinnert, als ich nämlich letzte Woche durch einen Tipp vom Simon de Vries diese Analyse von Carolin Emcke fand, in der die Sprache von Angela Merkel scharfsinnig beleuchtet wird. Viele Beobachtungen, die ich bei Merkels Rede neulich hier in Erlangen machte, habe ich dort wiederentdeckt, nun aber an einer repräsentativen Auswahl von Merkeltexten verifiziert.

Ein Punkt, vielleicht der Wesentlichste, ist dabei das Verschwinden von Subjekt und Verantwortung, beziehungsweise dessen sprachliche Verschleierung. Emcke schreibt:

Nicht sie, die Bundeskanzlerin, ist es, die im Verbund mit Troika und den europäischen Regierungschefs Griechenland bestimmte fiskalische Vorgaben diktiert, sondern es ist der „Prozess aufeinanderfolgender Maßnahmen“. Diese gleichsam aus dem Nichts entstandenen Maßnahmen sind subjektlos und „alternativlos“. Politik ist in dieser Logik nur Exekution von Notwendigkeiten. Es ist bemerkenswert, wie oft eine Kanzlerin, die regelmäßig an „Freiheit in Verantwortung“ appelliert, Entscheidungen beschreibt, als ob sie weder Freiheit noch Verantwortung implizierten.

Es wird also regiert in Deutschland, und diesmal ist es kein Grund, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, denn gerade das, was Barth meinte, als er diesen Satz prägte, dass die Zukunft offen ist, weil Gott sie offen hält, und dass man sich aus den Denk- und Sachzwängen lösen kann, genau das verschwindet hier aus dem Blickfeld. Während sich also bei Barth das „es“ auf Gott und seine Möglichkeiten bezeigt, steht das „es“ bei Merkel für die unpersönlichen Notwendigkeiten ihres Pragmatismus.

Zygmunt Bauman merkt in seinem neuen Buch Collateral Damage: Social Inequalities in a Global Age kritisch an, dass viele Mächtige die negativen Folgen ihrer Entscheidungen für andere, vor allem Arme, damit herunterspielen, dass beim Hobeln eben Späne fallen – und dabei verschweigen, dass sie und niemand anders darüber entscheiden, zu wessen Lasten die vermeintlich not-wendigen „Maßnahmen“ konkret gehen.

Ebenso brisant, und kürzlich ebenfalls in Erlangen zu hören, ist das Merkel’sche Narrativ des 21. Jahrhunderts. Emcke fasst treffend zusammen, mit welchen dunklen Folien hier gearbeitet wird. Milliarden von Indern und Chinesen etwa wollen dem kleinen Deutschland seinen hart erarbeiteten Wohlstand streitig machen:

Die Schrecken der Globalisierung erzeugen das apokalyptische Narrativ, mit dem Angela Merkel erst Angst schürt, um sich sogleich als nüchterne, notwendige Rettung anzubieten. Der rhetorische Gestus der Kanzlerin, dieses Undramatische, kommt erst dann zur Geltung, wenn die historische Entwicklung besonders dramatisch gerät. Je uferloser und unkontrollierter die Kräfte der Globalisierung walten, je dynamischer und jünger Chinesen und Inder sind, je zügelloser die „Südeuropäer“ Regeln missachten, so die Logik des düsteren Narrativs, umso beruhigender, umso vertrauenserweckender die deeskalierende Erzählung der Kanzlerin.

Wenn wir also derart gehetzt werden, dann ist ja auch keine Zeit mehr für ausführliche Diskussionen (die heißen dann gern „akademisch“ oder „philosophisch“) über gerechte Teilhabe im Innern, über Bürgerrechte, Macht und Verantwortung, denn es müssen sich alle reinhängen und die Galeere aus der Sturmzone rudern. Und was könnte in einem solchen Inferno für unsere geplagten Gemüter tröstlicher sein als die Gewissheit, dass regiert wird…?

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Klöster am Rande der Welt (5): Applecross

Ein gutes Jahrhundert nachdem Columba (oder auch Colum Cille) das Kloster auf Iona gründete, ließ sich Máelrubai auf der Halbinsel mit dem heutigen Namen Applecross nieder, die daraufhin im Gälischen A‘ Chomraich (das Heiligtum) genannt wurde. Er lebte dort 59 Jahre und sein Kloster gedieh über die nächsten 120 Jahre bis zum Einfall der Wikinger als ein Zentrum der Mission unter den Pikten auf Skye und in Wester Ross. So ähnlich wir auf dem Bild unten dürften die „Coracles“ ausgesehen haben, mit denen die Mönche über die irische See und entlang der Küsten Schottlands unterwegs waren.

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Máelrubai stammte väterlicherseits von dem irischen König Niall ab, seine Mutter war eine Nichte von St. Comgall, der ein Schüler des großen Ciaran von Clonmacnoise war, eine enge Beziehung zu Colum Cille pflegte und in der Nähe des heutigen Belfast 552 das Kloster Bangor gründete, aus dem nicht nur Máelrubai, sondern auch Columbanus stammte. Einer späterer Abt von Applecross, Ruaraidh Mor MacAogan, soll 801 als Abt von Bangor gestorben sein.

Es ist kaum etwas übrig geblieben aus dieser Zeit. Im Heritage Centre von Clachan wird ein Modell gezeigt, wie das damalige Kloster angelegt war: Strohgedeckte Holzhütten, eine kleine Kirche und eine Ringmauer. Nach Columba war Máelrubai der vielleicht populärste lokale Heilige in Schottland. Über 20 Kirchen sind ihm gewidmet. Letzte Woche, am 25. August, war sein Gedenktag.

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