Wohltäter und Opfer?

Wir hatten gestern Abend ein interessantes Gespräch in Berlin über die unterschiedlichen Aspekte der „Wiedervereinigung“ und die daraus bis heute resultierenden Spannungen. Irgendwann sagte Miroslav Volf dann, Deutschland und Frankreich seien ja ein Musterbeispiel für nationale Versöhnung, aber lasse sich eigentlich das klassische Muster von Versöhnung – das wir in Marburg zwei Tage lang diskutiert hatten – auf den Osten und Westen Deutschlands anwenden?

Und tatsächlich ist die Situation eine andere. Es gibt keine nahezu ebenbürtigen Feinde, die sich nach vielen Kriegen dauerhaft versöhnen, sondern einen großen Bruder, der dem deutlich kleineren irgendwie aus der Patsche helfen musste und sich nun wundert, das der daran auch noch etwas auszusetzen hat. Es geht nicht um eine Täter-Opfer Beziehung, sondern um eine Wohltäter-Opfer-Beziehung. Die ist ungleich schwerer zu klären, weil der Wohltäter ja subjektiv nur das Beste wollte oder das zumindest gern so sieht und zurückgespiegelt bekommen will.

Aber wir kennen ja alle diese Situationen, wo jemand nur das Beste für uns wollte und uns seine – keineswegs immer passenden – Lösungen für unsere wahren oder auch nur vermeintlichen Probleme übergestülpt hat. Wo es dann aber kaum möglich war, das anzusprechen, weil der Wohltäter dann empört oder zumindest mit Unverständnis reagierte auf diesen Undank. Fast jeder hat schon erlebt, dass jemand ihn mit den besten Absichten vereinnahmt hat. Solche Erfahrungen könnten als Schlüssel für ein Gespräch dienen, in dem die unguten Gefühle unverblümt benannt, die komplementären Rollen kritisch betrachtet werden – und wo man sich allmählich von beidem lösen kann.

Share