Anstößig oder anständig?

Ein Bekannter hat auf Facebook einen geharnischten Leserbrief an seine Regionalzeitung veröffentlicht, in dem er sich über die „Dekadenz“ der „Slutwalks“ (Deutsch etwa: „Schlampenmärsche“) am Samstag beschwert. Wir haben dann darüber eine Weile kontrovers diskutiert.

Bei diesen Demonstrationen ging es um ein Zeichen gegen sexuelle Gewalt und den Hinweis darauf, dass die (Mit-)Schuld an Vergewaltigungen und Übergriffen häufig immer noch den Opfern zugeschoben wird. Der Begriff „Schlampe“ gibt hier also die Mentalität des Vergewaltigers wider, der seine Tat damit vor sich selbst rechtfertigt und dreist behauptet, das Opfer wollte es im Grunde ja so haben. So hatte es ein Polizist in Toronto formuliert, als er Studentinnen riet, sie sollten sich „nicht wie Schlampen“ anziehen, um nicht zum Opfer sexueller Gewalt zu werden

Anne Wizorek, die Organisatorin der Slutwalks erklärt im Interview auf Zeit Online, grenzwertige und bisweilen vielleicht auch anstößige Kleidung gehöre zur Logik des Protests. Nicht nur wegen des großen Medienechos, auch um der Sache willen. Zugleich räumt sie ein:

ein Großteil der Leute kommt in Alltagsklamotten, denn auch darum geht es: Es ist eine Illusion, dass man sich an irgendwelche Kleiderregeln halten kann, und dann würde man nicht vergewaltigt.

Mit Sodom-und Gomorrha-Rhetorik einzusteigen ist da doch eher unpassend. Über den Stil kann man vielleicht streiten, das Anliegen muss man auf jeden Fall würdigen. Und anerkennen, dass es ohne die schrille Optik vermutlich kein so großes Echo erzeugt hätte (zu dem freilich auch empörte Leserbriefe so oder so beitragen…)

Ich habe mich eher an den Auftritt des Heiligen Franziskus vor dem Bischof von Assisi erinnert oder an die bewusst anstößige Aktion des Propheten Jesaja, der drei Jahre „nackt und barfuß“ durch Jerusalem lief. Wenn es damals schon Leserbriefe gegeben hätte, wie wären die wohl ausgefallen?

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