Tabubrecher aller Länder…

Der Beifall für Thilo Sarrazin unter Evangelikalen hat mich in den letzten Wochen doch beunruhigt. Vielleicht ging es dabei nicht einmal um die Sache, sondern um das (meiner Meinung nach nicht unbedingt berechtigte) Empfinden, dass hier jemand von einer linken Medienmeute gelyncht wird, weil er „die Wahrheit“ gesagt und auf „Fakten“ verwiesen hat, die von allen anderen angeblich tabuisiert und totgeschwiegen wird. Solche Erfahrungen kamen vielen vertraut vor, Eva Herman hatte in mancher Augen für ihre Thesen zu Kind und Familie schließlich ähnliches erleiden müssen, in einschlägigen Kommentaren dazu klang auch schon einer gewisse Christenverfolgungs-Rhetorik an.

Unbehagen gegenüber dem Islam kommt dann noch dazu, wie auch eine gewisse Bitterkeit über Kritik und Häme, die man in der Öffentlichkeit für bestimmte Moralvorstellungen einstecken musste. Nun wagt jemand mit tatkräftiger Unterstützung von Bild („Jede Wahrheit braucht einen Mutigen…“) einen scheinbar ähnlichen „Tabubruch“ und erhält dafür große Zustimmung. Dreht sich der Wind? Und wäre das nicht eine herrliche Gelegenheit, dem eigenen Frust auch einmal Luft zu machen, indem man sich mit Sarrazin solidarisiert? Zumal einem selbst doch diese Solidarität versagt geblieben ist…?

Nun, dasselbe haben anscheinend auch Erika Steinbach und der Bund der Vertriebenen empfunden und eine Spur zu deutlich gesagt, was sie immer schon dachten, aber nie klar zu sagen wagten, schließlich war es (aus guten Gründen) auch ein „Tabu“, etwa dass Polen den zweiten Weltkrieg im Grunde mit verschuldet haben soll. Steinbach war (zu Recht, wie sich nun deutlich zeigt) zu einer echten Belastung des deutsch-polnischen Dialogs und die Stiftung „Flucht – Vertreibung – Versöhnung“ geworden, was wiederum polnischen Scharfmachern in die Hände spielte, die es natürlich auch gibt. Steinbach & Co haben sich damit als Revisionisten geoutet.

Für mich bedeutet das: Wir sollten mit Opfer- und Märtyrerposen oder Begriffen wie „Schauprozess“ sehr, sehr sparsam umgehen. In der Geschichte der Kirche sind viele Unterdrückte nur allzu schnell zu Unterdrückern geworden. Sarrazin hat nach allem, was man inzwischen bei Freunden und Gegnern lesen kann, ja nichts wirklich Neues gesagt, sondern es war der Ton und der grob gestrickte publizistische Auftakt seiner Veröffentlichung, sowie das Nachlegen mit kruden Argumenten, das ihm den verdienten Gegenwind einbrachte (und ihn zum zweifelhaften „Volkshelden“ machte).

Zuletzt: Tabubrecher wie die Knalltüte Terry Jones will ja dann doch niemand wirklich haben. Eine christliche Subkultur, die ihre Verfolgungskomplexe hätschelt und trotzig mit Tabubrüchen und politischen Unkorrektheiten kokettiert, droht solchen Wahnsinn jedoch auf Dauer zu begünstigen.

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29 Antworten auf „Tabubrecher aller Länder…“

  1. ….und ich dachte bisher: Bei Peregrin hat man nur Theologie drauf, aber allmählich stelle ich fest, dass er auch ganz „weltlich“ reden kann. Danke!

  2. Ich habe in unserer Gemeinde sehr deutlich gesagt, dass der Geist dieses Buches von Herrn Sarrazin dem Geist des Evangeliums diametral widerspricht. Denn Gott kam zu den „Dummen“, zur „Unterschicht“. Und als Christen ist die Präsenz von Muslimen in unserem Land nach meiner Ansicht eher eine Herausforderung, den Glauben zu leben und gastfreundschaftlich zu bezeugen, als in eine angstvolle Starre zu verfallen und Feindbilder zu kultivieren.

  3. Habt Ihr die Ihr Sarrazin kritisiert überhaupt sein Buch gelesen?
    Wenn ja warum kritisiert Ihr ihn dann?

    Nur so als Gedankenanregung 😉
    (nebenbei man kann von seinen Thesen denken was man will 😉 )

  4. Schätze mal, dass es in der „Mitte unserer Gesellschaft“ angekommen ist, dass die fetten Jahre vorbei sind und die Wohlstands-Sicherheit eingetauscht wurde mit mangelnder Vision, wachsender Armut und einem grundsätzlichen Empfinden der Verunsicherung. Ein Boden der subtilen Angst begünstigt „Volkshelden“ wie Sarrazin (wobei ich dessen Art & Weise sowie seine Thesen durchaus anders betrachte als manch „Opferchrist“ oder als Merkel & Co). Bei weitergedachter Schräglage in Deutschland/Europa wäre in ein paar Jahren das Stündlein des politischen „Erlösers“ zu befürchten.

  5. @Johannes: Ich habe hier in erster Linie nicht Sarrazin kritisiert, sondern den unseligen Trend zum vermeintlichen „Tabubruch“. Über Sarrazins Buch kann man sich inzwischen auch aus zweiter Hand ein ganz gutes Bild machen, es nehmen ihn ja auch etliche in Schutz, aber selbst da finde ich keine sensationell neuen oder tiefen Gedanken. Und in der Diskussion um Migration, Integration, Religion, Tabus und so weiter darf ja jeder mitmachen, egal, was er gelesen hat – bzw. wenn man denken kann, was man will, darf man das ja auch sagen 🙂

  6. Du hast recht das es auch falsche und vermeintliche Tabubrüche gibt.
    🙂 ich hab sein Buch auch noch nicht gelesen 😉 wobei es nach dem Spiegel Chef-Redakteur zwei Seiten dort gibt eine gute und eine schlechte.
    Das gute behaltet gilt vll auch hier 😉

    Das jeder über die Themen diskutieren darf sehe ich genau so 😀

  7. @“Über Sarrazins Buch kann man sich inzwischen auch aus zweiter Hand ein ganz gutes Bild machen, es nehmen ihn ja auch etliche in Schutz, aber selbst da finde ich keine sensationell neuen oder tiefen Gedanken. Und in der Diskussion um Migration, Integration, Religion, Tabus und so weiter darf ja jeder …“

    Mhhh,
    das sehe ich allerdings doch anders. „Die zweite Hand“ berichtet vorzugsweise nacherzählend das, was ihr geeignet erscheint, den Autor des Buches als rassistischen, antisemitischen Bügerschreck darzustellen.
    Bei aufmerksamer Lektüre des umfangreichen Stoffes stellt sich aber ein ganz anderes Bild ein. Ich bin zwar noch nicht auf der letzten Seite angelangt, aber ich stimme den Schlüssen, die Thilo Sarrazin zieht und den Forderungen, die er an die Bildungssysteme und die gesamte Gesellschaft stellt, weitgehend zu.
    Weil es aber sehr viel interessanter ist, jemanden nieder zu machen als sich mit seinen Thesen und Ideen auseinanderzusetzen, schimpft man ihn lieber einen Tabubrecher.
    Mir kommt es so vor, als würde man den Arzt, der den Krebs „Krebs“ nennt als Kurpfuscher bezeichnen und den „Dr. Eisenbart“ der Mundorgel , der Blinde wieder gehen lässt und Lahme wieder gehen, für den Nobelpreis für Meddizin vorschlagen… 😉

  8. @Rika: Sarrazin wurde nicht als Tabubrecher beschimpft, sondern es ist seine Selbstinszenierung als vermeintlicher Tabubrecher (und Medienopfer), die ich hier kritisiert habe. Und die hat bei Dir voll angeschlagen…

  9. Warum kann man Sarrazin nicht ehrliches Bemühen um die Lösung schwieriger Probleme zubilligen?
    Ich glaube nicht, dass er sich selber als Tabubrecher inszeniert, er entspricht nämlich so gar nicht dem Selbstdarsteller aus eigenen Gnaden, und das müsste doch einer sein, der seine „Selbstinszenierung“ betreibt!
    Ich habe damals als Sarrazin vorrechnete, mit dem für Lebensmittel vorgesehenen Hartz IV-Satz auskommen zu können, einige seiner Vorschläge mit meinen Schülern „nachgekocht“ – er hatte Recht!
    Überhaupt entsprechen sehr viele seiner Denkansätze dem, was ich als Fachlehrerin einer Förderschule in langen Jahren hautnah erlebt habe, es entspricht dem, was mir meine Kinder aus ihrem Berufsfeld „soziale Arbeit“ berichten und es entspricht in seinem theoretischen Ansatz dem, was mein Mann als Psychologieprofessor in langer Berufstätigkeit erfahren, gelehrt und vertreten hat.

    „Sarrazin wurde nicht als Tabubrecher beschimpft“ – nun, wenn man die Diskussion in der SPD verfolgt – ich bin seit 30 Jahren Mitglied in dieser Partei -, so drängt sich leider, leider ein ganz anderer Eindruck auf.
    Die Genossen wollen ihn nicht ausschließen, weil er sich – ähnlich selbstverliebt wie Herr Gabriel beispielsweise – „inszeniert“, ob als Tabubrecher oder Schwachkopf, sondern weil seine Thesen ein wesentliches Tabu der SPD berühren, das der Erkenntnis nämlich, dass es die oben und unten, schlaue und dumme, nette und weniger nette Menschen wirklich gibt und eben nicht alle gleich, gleicher am gleichesten sind, wie es dem Ideal einer sozialdemokratischen Partei idealerweise entsprechen würde.
    Das hat übrigens nichts mit „der Würde“ eines Menschen zu tun. Die Würde des Menschen ist unantastbar – trotz aller mögllichen Unterschiede hinsichtlich arm/reich, groß/klein, weiß/schwarz, katholisch/evangelisch/jüdisch/muslimisch/atheistisch!

  10. So sprach es aus Herrn Gabriel:

    „“Sind wir eigentlich bereit, jedes Ressentiment und jede Debatte über Menschenbilder in der SPD zu dulden? Meine Kritik an Thilo Sarrazin ist überhaupt nicht, dass er sich kritisch über Integration äußert – da hat er in vielen Punkten eine absolut zutreffende Beschreibung gegeben.“ Sarrazins umstrittenes Buch sei aber gar kein Buch über Integration, sondern „ein Buch über oben und unten in der Gesellschaft – und die Behauptung, dass unten deshalb unten ist, weil die genetischen Potenziale für nichts anderes ausreichen“.“

    http://www.evangelisch.de/themen/politik/gabriel-wir-k%C3%B6nnen-in-der-spd-nicht-alles-dulden23013

    Leider gehört es aber zu den traurigsten Erfahrungen meines beruflichen Lebens, dass „die genetischen Potentiale für nichts anderes ausreichen“! Wenn man den Begriff „genetische Potentiale“ nicht mag, kann man ja auch Veranlagung, Begabung oder Talent sagen.
    Das hört sich netter an, ist aber in wesentlichen Zusammenhängen „genetisch“ bedingt… auch wenn natürlich viele Benachteiligungen durch die Sozialisationsbedingungen intensiviert werden oder sogar durch sie bestimmt, gar keine Frage. Und das eine schließt das eine schließt das andere nicht aus – auch LEIDER!

  11. @ Rika: Liebe Rika, deine Erfahrung als Förderschullehrerin und die Forschungsergebnisse deines Mannes in allen Ehren.

    Aber wenn du dem biologistischen ‚doof bleibt doof – und Schuld sind die Gene‘-Rufen Tilo Sarrazins zustimmst und dich dabei auf deine Erfahrungen aus der Förderschule berufst, bin ich nur noch mehr froh, dass wir es mit viel Mühe geschafft haben, unseren behinderten Sohn auf eine integrative Schule zu schicken, wo er tatsächlich im besten Sinne des Wortes integriert wird und außerdem Bildungsfortschritte macht, die ihm niermand zugetraut hätte.

    Ich hoffe, du antwortest auf meinen Einwurf jetzt nicht mit dem Hinweis, dass unser Sohn ja auch Glück hat, weil wir keine Muslime sind. (Der Klassenkamerad, mit dem sich unser Sohn am besten versteht, ist übrigens türkisch, und wird jeden Morgen v on seiner kopftuchtragenden Mutter zur Schule gebracht. Auch er ist in der Klasse voll integriert.) Vielmehr ist es doch so: Wenn wir von vorneherein davon ausgehen, dass bestimmte Menschen eben keine Bildungsfortschritte machen können, weil die Biologie das nun mal so festgelegt hat, glauben wir nicht nur einer Lüge, sondern haben darüber hinaus auch schon von Anfang an als Gesellschaft verloren. (Noch ein ‚Übrigens‘: Genau das wurde uns in Bezug auf unseren Sohn erzählt, als es um die Wahl der für ihn richtigen Schule ging und man uns weismachen wollte, eine Förderschule sei genau das Richtige und eine integrative Schule eher bedenklich: Sie sehen doch was Sache ist. Ihr Sohn ist nun mal behindert. Hauptsache, er fühlt sich wohl und wird nicht überfordert …)

    Übrigens begründet der von dir angesprochene Gabriel heute in der Zeit für mich sehr schlüssig, was er gegen Sarrazins Buch hat, und zwar hier: http://www.zeit.de/2010/38/SPD-Sigmar-Gabriel?page=all

    Dass Sarrazin mit seinen Kochrezepten recht hatte, glaube ich dir ja. Hatte er auch recht, als er als Berliner Innenminister Hartz IV Empfängern empfahl, kalt zu duschen und im Winter lieber dicke Pullover zu tragen als zu heizen, um Geld zu sparen?

  12. @ Gofi,
    ich weiß nicht so recht, wie ich mit dem Kommentar umgehen soll.
    Du beisst ganz schön heftig zu und es tut mir weh!
    Du kennst mich nicht und schlägst einfach blind zu.

    Ich finde es toll, dass ihr für euren Sohn die Möglichkeit einer Integrationsklasse/schule habt und er dort vollkommen integriert ist. Leider gibt es viel zu wenig Schulen mit Integrationsklassen, viel zu wenig Lehrer, viel zu wenig pädagogische Mitarbeiter und viel zu wenig Geld, um allen Kindern mit Förderbedarf (wie es auf Amtsdeutsch heißt) diese Möglichkeit zu bieten. Und leider, leider gibt es Schüler, die trotz intensiver Begleitung und Hilfe auch nicht in Integrationsklassen unterrichtet werden können.
    Vor diesen Problemen die Augen zu verschließen, würde doch bedeuten, ihnen die Solidarität der Gesellschaft zu versagen.
    Meine Kolleginnen und Kollegen setzen sich getreu dem alten Pestalozzi-Motto mit „Kopf, Herz und Hand“ ein … und es gibt nicht wenige Eltern, die dafür sehr dankbar sind!

    Die pauschale Verurteilung von Förderschulen führt leider gar nicht weiter und die bittere Polemik: „Ich hoffe, du antwortest auf meinen Einwurf jetzt nicht mit dem Hinweis, dass unser Sohn ja auch Glück hat, weil wir keine Muslime sind.“ bringt weder den muslimischen Migranten etwas noch fördert es die sachliche Lösung tatsächlich vorhandener Probleme.

    Zu Sarrazins Empfehlung Pullover zu tragen, könnte ich dir Geschichten von nackten Kleinkindern in völlig verdreckten und überhitzten Wohnungen erzählen, von Müttern, die hoffnungslos überfordert sind mit 5 Kindern von 5 verschiedenen Vätern (nicht-muslimische Mutter, muslimische und nichtmuslimische Väter, wenn du unbedingt dieses Vorurteil bedient haben möchtest!!!)
    Das mit dem kalten duschen würde ich nur nach einem sehr heißen Saunagangweiterempfehlen!

    Ach ja, ich bin ein gefühlloses rassistisches Monster, vergaß ich einfach zu erwähnen.
    http://himmelunderde.wordpress.com/2007/06/14/rechenkunstler/

  13. Siegmar Gabriels Antwort auf Thilo Sarrazin bedient (natürlich?) vor allem die Sarrazin-Kritiker mit ausgewählten Passagen, die zudem aus dem Zusammenhang gerissen sind und mit der entsprechenden Entrüstung kommentiert werden . Außerdem muss er ja irgendwie glaubhaft machen, warum Herr Sarrazin als Genosse nicht länger tragbar ist und deshalb aus der Partei ausgeschlossen wird. Ihn nach Frankfurt zu loben war trotz „Kaltduschen“ und „Pullover für Hartz IV-Empfänger“ kein Problem…

    Hast du schon das Buch gelesen?
    Es ist schwierig, es „ohne Brille“ zu tun und nicht nur das selektiv wahrzunehmen, respektive auszublenden, was ins eigene Raster passt. (Das gilt übrigens auch für mich!)

    Siegmar Gabriel ist nach meinem ganz und gar subjektiven Dafürhalten der größte Populist, den die SPD je hervorgebracht hat …

  14. Gabriel als Populist zu bezeichnen und Sarrazin dabei in Schutz zu nehmen ist schon ein krasses Manöver, Rika. Wenn (und daran zweifle ich nicht) Sarrazin das geschrieben hat, was Gabriel zitiert, dann ist das auch ohne den Zusammenhang des übrigen Buches schon eine klare Aussage. Und klar zitiert Gabriel die Passagen, die er ablehnt. Aber so, wie sie da stehen, kann man sie auch nur ablehnen. Sein Grundgedanke, dass Sarrazin Selektion statt Integration will, ist mit diesen Zitaten hinreichend belegt.

  15. Klar,
    ganz klar! Zitate aus dem Zusammenhang haben hinreichende „Beweiskraft“.
    Aber selbstverständlich gilt das nur für bestimmte Bücher und bestimmte Autoren und bestimmte Kommentatoren, DENN
    wenn ich mir aus der Bibel nur den einen oder anderen Vers „selektiere“, ist damit „hinreichend belegt“, dass …………………………………………… auf der Pünktchenlinie kann nun jeder das einfügen, was ihn schon immer an der Bibel, an Gott und Christsein gestört hat.
    So prakatisch ist das mit Zitaten, die, aus dem Kontext gerissen, das belegen, was man ohnehin schon immer gedacht hat….!
    TOLL!!!
    Etwas mehr nachdenkliche Zurückhaltung in der Bewertung von Büchern, die man nlicht selbst gelesen hat, hätte ich dir schon zugetraut!

  16. @
    „In den 1920er Jahren waren gerade Sozialdemokraten entschiedene Eugeniker. Das war weder völkisch noch rechts oder gar reaktionär gemeint, sondern verstand sich geradezu als Imperativ von Aufklärung und Progressivität, galt als wesentlicher Beitrag für eine planvoll herbeigeführte Gesellschaft der Gleichen, Glücklichen und eben – Gesunden. Es war ein Beitrag zum „Neuen Menschen“ der sozialdemokratischen Zukunftsgesellschaft.

    Auf den Tagungen sozialdemokratischer Ärzte ging es in jener Zeit ebenfalls ganz und gar eugenisch zu. Man war schon damals um den Volksbestand besorgt, plädierte für kinderreiche Familien, glaubte mit der Eugenik über eine vorzüglich gesellschaftsverbessernde Methode zu verfügen, um beim menschlichen „Artprozess“ durch ärztlich-hygienische Überwachung die Aufzucht körperlich und geistig hochwertiger Individuen systematisch fördern und die Fortpflanzung weniger gesunder Familien ebenso planmäßig verhindern zu können. In solchen …“

    http://www.zeit.de/politik/deutschland/2010-08/sarrazin-spd-eugenik

  17. @Rika: Ja, ich denke, ich muss meinen Tonfall etwas abmildern. Entschuldige, das war nicht so heftig gemeint, wie es sich liest.

    Meine Polemik hat zwei Gründe: Erstens ist es wohl noch die Verbitterung darüber, wie wir als ‚behinderte‘ Familie von Schul-, Jugendamt und der sonderpädagogischen Gutachterin behandelt wurden. Dafür kannst du nichts. Entschuldige. Über den Sinn von Förderschulen könnten wir bei einer Tasse Kaffee sicher toll streiten. Aber natürlich stelle ich nicht die Menschenfreundlichkeit von FörderschullehrerInnen grundsätzlich in Frage. Und selbst verständlich auch deinen persönlichen Einsatz nicht.

    Der polemische Hinweis auf Muslime richtet sich eigentlich nicht gegen dich, sondern gegen Sarrazin. Nein, ich habe sein Buch nicht gelesen, sondern die Interviews mit ihm verfolgt. Das Interview in der Zeit habe ich sehr eingehend gelesen. Ein interviewter Sarrazin ist ja immer noch Sarrazin, und kein böswilliger Interpret. Und seine Aussagen, die er dort gemacht hat, reichen völlig aus, um mich auf die Palme zu bringen.

    Aber um es kurz zu machen: Ich habe dir Schläge verabreicht, die eigentlich andern gegolten hätten. Tut mir Leid. Du hast völlig Recht, wenn du dich dagegen wehrst.

  18. @Rika: Ja und? Die SPD hat seit den 20er Jahren dazugelernt, an Sarrazin ging der Prozess offenbar vorbei. Nach 1945 spätestens war doch klar, dass das ein Irrweg ist.

  19. @ Gofi,
    DANKE für deine Antwort!
    Nein, ich glaube nicht, dass wir uns über den Sinn von Förderschulen streiten würden, vielmehr würden wir einen sehr konstruktiven Dialog führen!
    Ich halte die Integration von Schülern mit einer Behinderung in den „normalen“ Regelschulen für äußerst sinnvoll – sofern sie nicht als Alibi dazu dient, Geld zu sparen!
    Die Bereitstellung einer Schule ist eben sehr viel kostspieliger als das Verteilen der Förderlehrer auf die Schulen, die einen „Förderbedarf gemeldet haben“, wie es hier bei uns in Niedersachsen heißt.
    Der weitere, viel wichtigere Punkt, den es zu bedenken gibt, ist aber die Mitarbeit der Eltern. Engagierte Eltern, die nachfragen, sich in die Zusammenarbeit wirklich einbringen, sind an meiner (ehemaligen) Schule aber die absolute Ausnahme. In manchen Klassen ist es schwierig, die gesetzlich vorgesehenen Elternvertreter zu „wählen“, weil es gar keine Wahlmöglichkeiten gibt mangels Beteiligung am obligatorischen Elternabend, von ehrenamtlicher Mitarbeit im Schulleben ganz zu schweigen.
    Dafür habenwir es an meiner Schule mit Eltern zu tun, die froh sind, wenn ihnen auch die Erziehungsarbeit zu Hause ganz oder teilweise abgenommen wird durch Tagesgruppen oder die Aufnahme ihrer Kinder in der stationären Erziehungshilfe (Amtsdeutsch, tut mir leid!)
    Und wir haben es mit Kindern zu tun, die durch das Jugendamt regelrecht befreit wurden aus vollkommen desolaten und untragbaren Verhältnissen im Elternhaus. Kinder erleben so zum ersten Mal in ihrem Leben eine geregelte Versorgung mit den elementarsten Dingen wie Nahrung, Kleidung, einer sauberen Wohnung, sie erleben Zuwendung und offene Ohren durch ihre Erzieherinnen und Erzieher, Hilfe bei der Bewältigung von Schwierigkeiten oder schlicht beim Anfertigen der Hausaufgaben.

    Viele Leute machen sich überhaupt keine Vorstellung davon, unter welch entsetzlichen Bedingungen manche Kinder leben müssen, bis endlich jemandauf ihre Not aufmerksam wird. Da kommt man schon mal auf die Idee, solchen Eltern das Recht auf Kinder grundsätzlich abzusprechen…. Es sind die Kinder, die leiden. Und wenn wir in der Gesellschaft nicht alles dafür tun, derartige Missstände deutlich anzuprangern und abzustelleln, tradieren wir die miserablen Verhältnisse in die nächste Generation – und stimmt, da muss man nicht einmal von Genen reden 😉 , die Sozilisationsbedingungen reichen vollkommen aus, um „unten“ zu sein. Leider ist das so. Und leider lässt sich das in der Öffentlichkeit nur schwer bewusst machen.
    Jede bedrohte Vogelart erhält mehr Aufmerksamkeit als bedrohte Kinder.

    Vielleicht hat Herr Sarrazin schon deshalb mit seinem Buch etwas Gutes erreicht : Die Kinder und Jugendlichen rücken in den Blickpunkt des Interesses, nicht der Gene wegen – das ist ein in der Tat irreführender Ansatz -, sondern wegen der Zustände, die er allerdings absolut richtig beschreibt!

  20. Eine letzte Anmerkung zu Herrn Sarrazin, die nicht von mir stammt, aber lesenswert ist:

    http://www.welt.de/debatte/article9612405/Herzliche-Gruesse-von-Henrico-Frank-an-Thilo-Sarrazin.html

    Ich selbst habe schon vor Tagen in einem Kommentar geschrieben, dass es mich verwundert, warum noch keine heftige Auseinandersetzung über den Fakt entstanden ist, dass Herr Sarrazin eben nicht überwiegend von Migranten, vorzugsweise Türken, redet, sondern die Bevölkerung im Blick hat, die wir so freundlich als „Randgrupe“ bezeichnen.

    http://himmelunderde.wordpress.com/2010/08/31/gestern-bei-beckmann/#comment-1871

    http://himmelunderde.wordpress.com/2010/08/31/gestern-bei-beckmann/#comment-1871

    Damit ziehe ich mich dann endgültig aus diesem Kommentarstrang zurück.

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