Zeit und Unzeit

Mitten im Herbst 2023 blühte eine Erdbeere bei uns im Garten. Allmählich wundern mich diese Dinge, die zur Unzeit geschehen, schon gar nicht mehr.

Trotzdem war ich mächtig erstaunt, als ich an einem lauen Oktoberabend an einem Nadelbaum vorbeikam, der über und über mit kleinen Würstchen übersät war, aus denen dicker Blütenstaub quoll. Ich sah genauer hin: Das müsste eine Zeder sein. Kommen jetzt schon ausgewachsene Bäume völlig aus dem Rhythmus?

Weil es mir keine Ruhe ließ, las ich nach: Zedern blühen tatsächlich im Oktober. Es war mir nur noch nie aufgefallen. Die Zeder kannte also noch ihre Zeit. Auch wenn dieser Herbst fast drei Grad wärmer war als normal.

Wie schön, dass es noch Abläufe gibt, die stimmen! Im Buch Hiob in der Bibel ist an einer Stelle von den Lebensrhythmen der Tiere die Rede, wie sie Junge bekommen und großziehen und gehen lassen. 

Die Beständigkeit der wilden Geschöpfe, die ihrer inneren Uhr folgen, ist für den trauernden, mit seinem Schicksal hadernden Hiob ein göttlicher Trost. Und eine Herausforderung, sich dem Leben mit all der Energie, die darin steckt, wieder zu öffnen. 

Für mich war die blühende Zeder von da an etwas Ähnliches: Ein Augenzwinkern des Schöpfers, das meinen Blick für das Gute in der Welt öffnet.

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Gestandene Paare

Auf einer sandigen Wiese stehen vereinzelt Bäume. Manchmal bilden sie kleine Gruppen – fünf, sechs Birken in einem engen Kreis etwa – und es gibt auch einige Paare. Eiche und Kiefer zum Beispiel, fast zusammengewachsen am Stamm. Den Platz für die Krone teilen sie sich. Es fällt erst auf, dass es ein Baumpaar ist, wenn die eine Hälfte das Laub abwirft. Als würden sie einander umarmen oder miteinander tanzen.

In den letzten Jahren gab es in meinem persönlichen Umfeld etliche Trennungen und Abschiede. Vielleicht berührt mich der Anblick dieser gestandenen Paare auch deswegen. 

Ich gehe weiter in den Wald und sehe eine solitäre Kiefer auf einer Lichtung, die Unwetter in den Wald gerissen haben. Sie stand zwischen vielen Nachbarbäumen. Man sieht ihr den Verlust noch an: Die Äste und Zweige entlang der unteren drei Viertel des Stammes hatte sie abgeworfen, wie Kiefern das so tun, wenn sie zu mehreren sind. Nur die Krone trägt noch die buschigen Nadeln. 

Ich bin dankbar für alle Menschen, die mir nahestehen. Und dafür, dass Gott mich in den Stürmen meines Lebens hält und trägt wie der Mutterboden diese Bäume. 

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Naturspiritualität: Nicht alles gut?

Ich war diese Woche bei einer Gesprächsrunde über Naturspiritualität. Viele motivierte Menschen, tolle Ideen und interessante Konzepte. Viel positive Energie schwappte hin und her durch den Raum.

Wenn man in dem Bereich unterwegs ist, muss man sich oft rechtfertigen. Oder besser: Hat man es mit vielen kritischen Anfragen zu tun. Eine davon ist, ob die Natur nicht naiv verklärt wird, wenn wir sie als Weg zu Gott oder „Spiegel der Seele“ betrachten. Ob wir sie, anders gesagt, also nicht einfach nur so sehen, wie wir sie gerne hätten.

Gestern begegnete mir das – die Abwehr dieses vermuteten Einwands – anhand zweier Beispiele: Dass es jetzt gerade so viele Nacktschnecken gibt und dass es Viren und Pandemien gibt – das ist zum Beispiel nicht gut.

Das hat mich auf dem Heimweg noch länger beschäftigt, weil beide Beispiele das meines Erachtens nicht hergeben. Die Nacktschnecken sind erstens hauptsächlich ein Problem für unsere Gärten und Parks, also die domestizierte Natur (auch unsere Wälder sind überwiegend Nutzwälder, also Holzplantagen. Nur etwa ein Drittel gelten noch als naturnah, echte Naturwälder machen weniger als 5% aus!).

Sie sind zweitens eine Klimafolge, weil die wärmere Atmosphäre zu ergiebigeren (und in diesem Sommer auch viel häufigeren) Niederschlägen führt.

Die Corona-Pandemie entstand höchstwahrscheinlich aus einer Zoonose, die wiederum eine Folge des Zivilisationsdrucks auf Tierpopulationen ist.

In beiden Fällen bekommen wir also eine verwundete, beschädigte Natur zu spüren, die Folgen unserer Verwüstung. Vorletztes Jahr kam ich von einer Wild Church mit einer dicken Auwaldzecke zurück. Eine Borreliose musste anschließend mit Antibiotika niedergeknüppelt werden. Wäre das vielleicht ein besseres Beispiel? Nur bedingt, denn die Verbreitung von Zecken hat eben auch damit zu tun, dass das Rotwild in unseren Wäldern bei weitem nicht ausreichend bejagt wird. Auch da ist das Gleichgewicht längst gestört.

Die Aussage „in der Natur ist auch nicht alles gut“ ist oft eben nur Ausdruck unseres verqueren Blicks auf die Natur, in dem sich immer noch alles um unsere Bedürfnisse und unser Wohlbefinden dreht und alles übrige Leben daran bemessen wird.

Eine Lektion in der Begegnung mit der Natur könnte sein, dass wir aufhören, alles auf unmittelbare Nützlichkeit hin zu bewerten und in ein Gut/Schlecht-Schema einzuordnen. Sie hat nicht erst dann ihren Wert, wenn sie erkennbar „zu etwas gut“ ist. Das wäre ja auch eine wichtige spirituelle Grundhaltung, das Urteil auszusetzen, um einen klareren Blick auf die Dinge und uns selbst zu bekommen. Sehen, was da ist.

Auf diesem Weg gibt es noch eine Menge zu entdecken. Je weniger blinde Flecken im Spiel sind, desto interessanter könnte es werden.

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Eine Legion geht baden

An einem nieseligen Sonntagnachmittag warte ich vor der Nürnberger Lorenzkirche. Da höre ich, wie sich knapp hinter mir ein Schwall Wasser geräuschvoll auf das Pflaster ergießt. Ich springe zur Seite und blicke nach oben. Hoch über mir reißt ein grimmig dreinblickendes Wesen aus Stein sein Maul auf: Ein Wasserspeier, wie er an vielen mittelalterlichen Kirchen zu finden ist.

Die Steinmetze hatten ganz offensichtlich ihren Spaß an den finsteren Gestalten. Drinnen in der Kirche, auf den Altären und in den Fenstern, sind Heilige und Szenen aus der Bibel abgebildet. Für böse Geister gilt also: „Wir müssen draußen bleiben.“ Da aber haben sie ihren Platz: Als Erinnerung daran, dass in dieser Welt nicht nur gute Kräfte am Werk sind. Und vielleicht auch daran, dass wir nicht immer alles verstehen und einordnen können, was um uns herum passiert. 

Diese Faszination für skurrile Fratzen und Fabelwesen begegnet uns heute eher in der den Fantasy-Welten von Harry Potter über den Herrn der Ringe bis zu Game of Thrones. Und in Horrorfilmen wie „der Exorzist“, oder Action-Klamauk á la „Ghostbusters“, der in diesem Monat vor genau 40 Jahren ins Kino kam. If there’s something strange in the neighborhood – wenn in der Nachbarschaft komische Sachen passieren, dann holt man diese Kammerjäger fürs Paranormale. Statt Kakerlaken entfernen sie mit ordentlichem Getöse lästigen Spuk. Geister, die kein Wasser speien, aber ekligen Schleim hinterlassen. Und die verschreckten Kunden können wieder aufatmen und sich sagen: „I ain’t afraid of no ghost – ich hab keine Angst nicht vor Geistern“.

Auf der Leinwand und zwischen den Buchseiten haben Geister und Dämonen an den Rändern unseres aufgeklärten Denkens überlebt. Draußen statt drinnen, ordentlich aufgeräumt, dürfen sie sie ihr Maul aufreißen wie die Wasserspeier an alten Kirchen. Ein bisschen Gruseln ist ganz nett.

Da kann man nichts machen…?

Ganz so aufgeräumt ist die Welt freilich nicht. Denn die konkrete Erfahrung, dass es zerstörerische Kräfte gibt, oder Orte mit einer bedrückenden Atmosphäre, das kenne ich ja auch. Momente, in denen ich mich ganz bewusst dagegen stemmen muss, um nicht von Angst und Hoffnungslosigkeit überwältigt zu werden. Und ich höre, wie andere vom „Ungeist“ des erstarkenden Rechtsextremismus reden. Oder von den „Dämonen der Vergangenheit“, wenn Rassisten aufmarschieren und Nazi-Parolen auf Partys gegrölt werden. Dämonen, das ist und bleibt ein schillernder Begriff. Offenbar aber einer, auf den wir nicht ganz verzichten können, wenn wir darüber reden wollen, wie es uns hin und wieder ergeht.

Wenn die Bibel von Dämonen erzählt, dann handeln diese Geschichten immer von Menschen, die sich als hilflos und ohnmächtig erleben und von etwas scheinbar Übermächtigem bedroht werden. So wie in dieser Episode aus dem Markusevangelium, in der Jesus mit seinen Jüngern den See Genezareth überquert und im Gebiet der „Zehn Städte“ landet. Die Leute dort sind keine Juden. Sie sprechen Griechisch und verehren die Götter der Griechen. Aber manche Probleme gleichen sich hüben wie drüben.

Und sie kamen ans andre Ufer des Sees in die Gegend der Gerasener. Und als Jesus aus dem Boot trat, lief ihm alsbald von den Gräbern her ein Mensch entgegen mit einem unreinen Geist, der hatte seine Wohnung in den Grabhöhlen. Und niemand konnte ihn mehr binden, auch nicht mit Ketten; denn er war oft mit Fesseln und Ketten gebunden gewesen und hatte die Ketten zerrissen und die Fesseln zerrieben; und niemand konnte ihn bändigen. Und er war allezeit, Tag und Nacht, in den Grabhöhlen und auf den Bergen, schrie und schlug sich mit Steinen.
Als er aber Jesus sah von ferne, lief er hinzu und fiel vor ihm nieder und schrie laut: Was willst du von mir, Jesus, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht! 
Denn er hatte zu ihm gesagt: Fahre aus, du unreiner Geist, von dem Menschen!

Jesus begegnet einem Menschen, der außer Rand und Band ist. Er lebt abseits der Stadt, vor allem aber gefährdet und verletzt er sich ständig selbst. Die Leute haben vor ihm Angst und wissen sich nicht anders zu helfen, als ihn zu fesseln. Sie bekommen ihn allerdings nicht so recht in den Griff. Vielleicht haben sie auch ein schlechtes Gewissen; jedenfalls sind die Stricke und Fesseln locker genug, dass er sich immer wieder befreien kann. Resignation macht sich breit: Wir haben alles versucht, nichts hat geholfen.

„Besessenheit“ und Besatzung 

Der Mann bei den Grabhöhlen scheint nicht zu wollen, dass andere ihm nahekommen. Aber Jesus tut genau das: Kaum setzt er – vom jüdischen Ufer des Sees kommend – seinen Fuß auf heidnischen Boden, kommt Bewegung in die festgefahrene Situation. Unwiderstehlich zieht es den Mann zu Jesus hin. Oder wird er von dem bösen Geist getrieben? Es klingt fast so! Und Jesus? Der wirkt kein bisschen überrascht. Er scheint gespürt zu haben, dass da unheilvolle Kräfte wirken, die er mit seiner Ankunft aufscheucht. Jesus fragt seelenruhig: 

Wie heißt du? Und er sprach: Legion heiße ich; denn wir sind viele. Und er bat Jesus sehr, dass er sie nicht aus der Gegend vertreibe.

Der kurze Wortwechsel ist aufschlussreich: 

Die Dämonen geben sich als „Legion“ zu erkennen. Also die militärische Formation, mit der das römische Imperium seine knallharte Besatzungspolitik durchsetzt in dieser unruhigen Region. Gerasa war ursprünglich eine Ansiedlung mazedonischer Kriegsveteranen durch Alexander den Großen und seine Nachfolger. Und tatsächlich ist auch zu der Zeit, als Markus sein Evangelium niederschrieb, ganz in der Nähe eine Legion stationiert. Wirtschaftlich und psychisch ist das eine riesige Belastung für die einfachen Leute. Liebend gern hätten sie die Soldaten aus der Gegend vertrieben. Zwischen „Besessenheit“ und „Besatzung“ besteht offenbar ein Zusammenhang. 

Und der Mann, aus dem die Geisterarmee gerade zu sprechen scheint, ist keineswegs der einzige Betroffene. In seiner Person verdichten sich sämtliche Ohnmachtsgefühle der ganzen Umgebung, von allen, die hier leben. Manchmal kann halt nur einer, der sich wie ein Verrückter benimmt, ungestraft den Wahnsinn aussprechen, den alle tagein, tagaus erleben. 

Im Neuen Testament ist viel häufiger von Dämonen die Rede als im Ersten Testament, der hebräischen Bibel. Die stammt überwiegend aus der Zeit, in der Israel nicht besetzt war, sondern eigenständig. Es war für mich ein echtes Aha-Erlebnis, als ich auf Berichte aus der Kolonialzeit in Afrika aufmerksam wurde. Dort häuften sich mit dem Eindringen der Europäer die Fälle von Menschen, die unter Dämonen litten. Oft trugen die Geister Namen, die mit den Besatzern zu tun hatten. Manche imitierten das Geräusch einer Lokomotive. Und umgekehrt verwendeten die Heilkundigen Motoröl, Konservendosen oder Weißbrot, um die Geister fernzuhalten oder zu besänftigen: Typische Gegenstände jener Kultur, die ihre eigene bedrohte. 

Jedes gewaltsame Aufbegehren gegen die reale Besatzung wäre glatter Selbstmord gewesen. Und jedes friedliche wurde gewaltsam niedergeschlagen. Im Scheingefecht mit den Dämonen war die Ohnmacht vorübergehend aufgehoben. Eine tödliche Eskalation äußerer Gewalt war trotzdem nicht zu befürchten.

Die Dämonen, auf die Jesus hier trifft, sind also keine paranormalen Spukphänomene, und auch keine wüsten Poltergeister wie bei Ghostbusters. Sie sind keine immateriellen Kobolde oder spirituellen Parasiten, die man sich wie Zecken oder Fußpilz irgendwo einfängt. Es geht auch nicht um die Seelen Verstorbener, die keine Ruhe finden und deshalb die Lebenden heimsuchen. In der Ein-Mann-Legion spiegelt sich vielmehr jener Teil der Wirklichkeit, den alle am liebsten vergessen und ausblenden würden: Das Ausgeliefertsein an fremde Eindringlinge, die Einschüchterungen und Demütigungen, die Angst vor Willkür und Gewalt, die angestaute Wut über die eigene Schwäche und der verzweifelte Hass auf die Warlords/Kriegstreiber und ihre Handlanger. 

„Wenn du dich so machtlos fühlst, was wirst du dann tun?“, fragt Nelly Furtado. Sie fragt das als Kind von Einwanderern aus den Azoren. Soll sie sich an die weiße Mehrheit in Kanada anpassen, ihre Fotos retuschieren lassen und damit ihre Herkunft ausradieren? Oder riskiert sie, als fremd und störend ausgegrenzt zu werden – von einer Gesellschaft, die es sich noch immer nicht abgewöhnt hat, nicht-weiße Menschen als „Wilde“ zu betrachten. Dafür, findet sie, ist das Leben zu kurz. 

Und plötzlich eskaliert das Ganze…

Zum Glück nicht: Mit dem Augenblick der Wahrheit über die „Legion“, die ihm so zusetzt, geht die Action erst richtig los. Und für einen kurzen Augenblick erinnert die Szene doch an Ghostbusters, wenn es da (Landwirte und Tierschützerinnen bitte kurz weghören) heißt:

Es war aber dort an den Bergen eine große Herde Säue auf der Weide. Und die unreinen Geister baten ihn und sprachen: Lass uns in die Säue fahren! Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die unreinen Geister aus und fuhren in die Säue, und die Herde stürmte den Abhang hinunter ins Meer, etwa zweitausend, und sie ersoffen im Meer.

Und die Sauhirten flohen und verkündeten das in der Stadt und auf dem Lande. Und die Leute gingen hinaus, um zu sehen, was geschehen war, und kamen zu Jesus und sahen den Besessenen, wie er dasaß, bekleidet und vernünftig, den, der die Legion unreiner Geister gehabt hatte; und sie fürchteten sich.

Und die es gesehen hatten, erzählten ihnen, was mit dem Besessenen geschehen war und das von den Säuen. Und sie fingen an und baten Jesus, aus ihrem Gebiet fortzugehen.

Die „Legion“ verhandelt wie eine echte Armee über ihren Abzug. Oder besser: Nicht-Abzug. Die Dämonen möchten nämlich in der Gegend bleiben. Sie bieten an, in ein anderes „Quartier“ umzuziehen – beziehungsweise, das trifft es wohl besser, ihre derzeitige Geisel gegen andere einzutauschen. Schweine gelten für Juden als unrein, vielleicht ist ja der Rabbi aus Nazareth bereit, sich auf einen Deal zu einzulassen? 

Und tatsächlich – Jesus stimmt zu. Doch im nächsten Moment zerschlägt sich schon jede Hoffnung, ungeschoren davonzukommen: Hat Jesus es geahnt, hat er es vielleicht so geplant, oder passiert das alles spontan – wir erfahren es nicht. Wir lesen nur, dass die Schweine prompt den Hügel hinunterrasen und im Wasser untergehen. Die Geisterarmee versenkt sich selbst auf ihrer Flucht nach Westen.

Nach Westen, und das ist kein Zufall. Von Westen über das Meer kamen nämlich die römischen Schiffe, die Soldaten brachten und den größten Teil dessen mitnahmen, was Land und Leute erwirtschaftet hatten. Viele Menschen in der Region – Juden wie Griechen – hätten die Besatzer liebend gern nach Westen ins Meer zurückgedrängt. Und jetzt spielt sich genau das vor ihrer Nase ab, nur dass keine Menschen zu Schaden kommen. Zweitausend Schweine, das sind eine gewaltige Herde. Nicht ganz so viele, wie eine römische Legion Soldaten hat, aber die Richtung stimmt, und darauf kommt es an. Das ist mehr als ein Scheingefecht. Es ist ein Paukenschlag für die Freiheit, der weit ins Land hinein zu hören ist.

Schon einmal hat ein jüdischer Prophet eine Armee im Meer untergehen lassen. Aber an den Showdown zwischen Mose und den Ägyptern am Schilfmeer denkt im Augenblick nicht jeder. Denn alle staunen, dass der „Besessene“ plötzlich wie ausgewechselt erscheint: Er ist anständig gekleidet, seine Stimmung ausgeglichen, die Kontrollverluste überstanden. 

Er ist sogar ganz erschreckend normal

Freiheit, die nicht alle freut

Das kleine Drama weckt bei dem Umstehenden die Neugier und verursacht zugleich eine Menge Unbehagen. Es bleibt auch unklar, ob das Unbehagen eher dem Verlust der Schweine zuzuschreiben ist oder der Veränderung des Mannes, mit dem die Dämonen ihr böses Spiel getrieben hatten. Vielleicht wissen die Menschen es selbst nicht. Mit der veränderten Lage tut sich für sie ein Problem auf: Solange da ein „Besessener“ herumläuft, kann man sich daran abarbeiten. Oder sich daran gewöhnen und irgendwie damit arrangieren. So oder so braucht man keine Fragen zu stellen, auf die man die Antwort gar nicht wissen will.

In der Familientherapie ist das ein bekanntes Phänomen. In dysfunktionalen Familien, wo Menschen nicht miteinander klar kommen und einander immer wieder verletzen, gibt es oft ein „schwarzes Schaf“. Ein Familienmitglied, das sich auffällig verhält und auf das alle zeigen, wenn es um die Probleme im Miteinander geht. Es ist aber nur der Symptomträger, und nicht der Hauptverursacher der bestehenden Probleme. Das ist oft die einzige Person, die nicht am Rad dreht. Jesus hat das Schwarze Schaf aus seiner Rolle entlassen. Und plötzlich kriegen alle anderen die Krise.  

Die Situation erinnert ein bisschen an jenen alten Witz von dem Betrunkenen, der im Lichtkegel einer Straßenlaterne seinen Haustürschlüssel sucht. Eine Nachbarin kommt vorbei und hilft suchen. Nach einer Weile fragt sie: „Bist du sicher, dass du den Schlüssel hier verloren hast?“ Er antwortet: „Nein, da hinten. Aber da ist es viel zu dunkel.“

Den Symptomträger in eine Klinik zu stecken, ihn mit Medikamenten ruhigzustellen, während alles bleibt, wie es ist, das wäre so eine Schlüsselsuche unter der Laterne. Ihn im desolaten Zustand bei den Gräbern hausen zu lassen, auch. Aber das geht jetzt nicht mehr. Nicht, so lange Jesus da ist. Und ich merke: Kein Wunder, dass nicht nur die Schweinehirten möchten, dass er verschwindet. Der Schlüssel zur Lösung ihrer Probleme liegt im dämonischen Dunkel ihrer Ängste und Albträume. Da wird man ganz schnell überwältigt.

Es sei denn…

Kleine Aufstände allenthalben

Es sei denn, die Gerasener könnten in dem ganzen Tumult auch erkennen, dass sich das un- und übermenschliche Böse gerade selbst zerstört hat. Dass im Untergang der Schweinelegion sogar schon der Untergang der römischen Militärdiktatur durchschimmert. Dass da schon jemand im Namen Gottes unterwegs ist, der ganz erstaunlich furchtlos und handlungsfähig ist, und der Menschen aus ihrer Ohnmacht und Verzweiflung herausholt. 

Wir leben derzeit zum Glück nicht unter fremder Besatzung oder in einer Diktatur. Ohnmachtsgefühle und alles, was sie begleitet, kennen wir trotzdem. Sie entstehen bei uns durch Probleme, die wir als einzelne lösen sollen, obwohl sie viel zu groß sind für jede und jeden einzelnen: 

  • Wenn durch Inflation und Spekulation die Mietpreise explodieren und die Armut zunimmt, ist Obdachlosigkeit nicht einfach nur das Problem einzelner, die irgendwie versagt haben. 
  • Die Klimakrise trifft die am härtesten, die am wenigsten dafür können. Egal wie radikal ich meinen persönlichen Konsum ändere, es reicht noch lange nicht aus, um sie zu stoppen. 
  • Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt von Männern werden, erleben diese Übergriffe als etwas ganz Persönliches und Intimes. Es dauert oft lange, bis sie aufhören, den Fehler bei sich selbst zu suchen. Bis sie Worte finden für das, was ihnen angetan wurde. Erst dann zeigt sich: Nicht nur ein paar wenige sind betroffen. Und die Täter finden immer wieder Wege, ihre Schuld zu verschleiern, weil es Denkmuster und Machtkonstellationen gibt, die das fördern und begünstigen. (Auch in unserer Kirche.)

Wenn die Autor:innen der Bibel von Dämonen erzählen, dann zeigt es, wie ernst sie die Schadensmächte nehmen, die Menschen anfallen. Die sie so lange drangsalieren, bis sie sich nicht mehr vorstellen können, dass sich etwas ändert – bis ihnen die Kraft abhanden kommt, sich zu wehren. Das sind keine bloßen Wahnvorstellungen, kein primitiver Aberglaube, und wer so empfindet, ist nicht verrückter als alle anderen. 

Diese krasse Geschichte tut mir richtig gut. Ich staune erleichtert darüber, wie das Böse, das manchmal so übermächtig auftrumpft, sich selbst zerstört. Gegen die Resignation ist also doch ein Kraut gewachsen: Gott selbst hat den destruktiven Mächten und Gewalten dieser Welt den Kampf angesagt. Er hat sich in Jesus auf die Seite der Ohnmächtigen und Traumatisierten geschlagen. Er erleidet am Kreuz dieselbe brutale Gewalt wie sie. Aber er zerbricht nicht daran. Er kommt mit dem verlorenen Schlüssel in der Hand aus der tiefsten Dunkelheit zurück und schließt die Tür zur Freiheit auf. Am Ende seines Evangeliums erzählt Markus die verrückteste Geschichte von allen: Vom leeren Grab. Und deutet damit an: Niemand ist jetzt vor Jesus mehr sicher. Er könnte wer weiß wo auftauchen…

Denn so wie der irdische Jesus auf Schritt und Tritt kleine, gewaltlose Aufstände vom Zaun gebrochen hat, so tut der Auferstandene das nun überall da, wo sich Menschen auf ihn einlassen und mit ihm zusammentun. Da endet die Machtlosigkeit und die Isolation. Da geht was. Und manchmal, manchmal auch ein bisschen mehr.

Die Jars of Clay singen davon, dass hoffnungslose Fälle Gottes Spezialität sind. Und dass Gott Menschen Kraft und Mut schenkt, sich einzumischen: „Small rebellions… Gib uns Tage, die voller kleiner Aufstände sind. Mutwillige, wüste Akte der Freundlichkeit von uns allen. Wir stemmen uns gegen den Strom (und den Verfall). 

Und am Ende singen sie: We will never walk alone.

(Foto von Claudio Mota auf unsplash.com)

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Wird schon gutgehen

Es gibt Dinge, die schiebe ich gern vor mir her. Sie sind einfach nicht so dringend. „Ich mach’ das schon irgendwann, wenn grad mal mehr Zeit ist,“ denke ich mir dann. „Aber nicht jetzt, ich hab schon genug Stress.“

Manchmal komme ich mit dem Aufschieben durch. Aber dann gibt es auch die Momente, wo es lichterloh zu brennen beginnt, weil zum Beispiel der Reisepass abgelaufen und es zum Urlaub nur noch eine Woche hin ist. Dann wird es anstrengend und teuer, und manchmal ist es auch einfach zu spät.

Letzte Woche haben wir entdeckt, dass nicht nur Einzelpersonen so denken und agieren, sondern auch Gremien: Ämter, Stadträte, Regierungen. An vielen Orten wurde der Hochwasserschutz vernachlässigt. Es kommt ja nur alle hundert Jahre ein großes. Und selbst dann ist fraglich, wo genau. Wird schon gutgehen.

Aber immer öfter geht es eben nicht gut. Und dann sind ja nicht nur die betroffen, die das Problem aussitzen wollten, sondern auch die vielen anderen, die sich auf sie verlassen haben. Ein faules „wird schon gutgehen“ ist da einfach zu wenig. Wenn die Sache nämlich dringend wird, ist es schon zu spät.

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Pilgern mit Hindernissen

Ich komme gerade zurück von einer „Pilgerreise“ nach England und Schottland. An- und Abreise hat unsere Gruppe, um möglichst klimaschonend unterwegs zu sein*1, mit der Bahn unternommen. Dabei haben wir den ganzen Katalog der Widrigkeiten erlebt: Kaputte Weichen, verpasste Anschlüsse, verfallene Reservierungen, total überfüllte Züge (hinwärts mit Fans von Manchester City und United, rückwärts mit Fans des BVB). Buchungen für zwei Unterkünfte platzten und um ein Haar hätten wir an einem Reisetag die letzte Fähre verpasst.

Nichts für schwache Nerven!

Wir hatten aber auch wunderbar ruhige Tage mit unverschämt gutem Wetter – an Orten, wo sich Himmel und Erde schon besonders nahe sind. Und als es an die Rückreise ging, war es ganz schwer zu sagen, was davon nun eindrücklicher war: Die Highlights oder all die Hindernisse, die wir gemeinsam bewältigt haben.

Jemand hat mal gesagt: „Eine Unannehmlichkeit ist nur ein missverstandenes Abenteuer. Ein Abenteuer ist eine richtig verstandene Unannehmlichkeit“. Mir scheint, wir haben entdeckt: Bei einer Pilgerreise gehört sowas wohl einfach dazu. Jedenfalls haben wir jetzt eine Menge zu erzählen.

  1. kleiner Nachtrag: Ich finde, Pilgern lässt sich mit Flugreisen nur schwer bis gar nicht vereinbaren. Es geht ja gerade darum, nicht möglichst schnell und bequem möglichst weit zu kommen. Und darum, anderen Menschen und dem Planeten nicht zur Last zu fallen. Es gibt genug Pilgerwege und -stätten, die mit der Bahn erreichbar sind. Lassen wir es doch einfach dabei. Und wenn diese Anreise länger dauert als der Flug, kann man sich einfach entsprechend mehr Zeit dafür nehmen und es als integralen Bestandteil des Pilgerweges betrachten. ↩︎
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Einigkeit und Geist und Freiheit

„Der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2. Kor 3,17)

Das Grundgesetz wird in diesen Tagen 75 Jahre. Und in den vielen Kommentaren dazu ist die Sorge darüber zu spüren, dass die Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, die es so lange garantiert hat, derzeit so bedroht ist wie noch nie.

Sie ist bedroht von außen durch Diktaturen und ihre Handlanger, die immer zahlreicher werden und immer skrupelloser agieren. Aber das wäre zu verkraften, wäre sie nicht auch bedroht von innen: Durch Korruption, Ungleichheit, Lügen und zersetzenden Streit – um nur mal das Offensichtliche zu nennen.

Im öffentlichen Leben sieht es momentan aus wie in einer kaputten Beziehung: Alles Gute scheint nicht der Rede wert zu sein, und an allem Schlechten sind die anderen schuld. Mich erinnert das daran: Der Paartherapeut John Gottman hat schon vor Jahren vier Haltungen entdeckt, die fast unweigerlich zum Zusammenbruch von Beziehungen führen – er nennt sie die „Apokalyptischen Reiter“, Vorboten des Untergangs: Es sind Kritik, Verachtung, Verteidigung und Mauern.

Wo immer Menschen so etwas erleben, fühlen sie sich fremd und schutzlos. Und im Augenblick begegnet uns das überall: In sozialen Medien ganz besonders, in politischen Parolen, in persönlichen Gesprächen über die Zukunft unserer Welt.

Abgenutzte Ideale

Die Freiheit westlicher Demokratien lebt von Idealen: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ oder „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, so die klassischen Formulierungen für ein Ziel, das wir freilich nie zu hundert Prozent erreichen. Ideale (die romantische Liebe wäre auch eines) nutzen sich im Alltag ab und verlieren ihre Strahlkraft. Dann fehlt auch die Energie, ihnen mit der nötigen Beharrlichkeit nachzueifern.

Vor ein paar Monaten sollte ich eine Kollegin im Gymnasium für eine Stunde vertreten. Die Schüler:innen wollten – natürlich – keinen Unterricht mit mir machen, sondern spielen. Wir einigten uns schließlich darauf, dass sie am Ende der Stunde ein Spiel machen durften. Als aber der Zeitpunkt kam, rannten, redeten und riefen alle planlos durcheinander. Sie waren nicht in der Lage, aus der geforderten Freiheit etwas zu machen. Die Impulskontrolle der Gruppe funktionierte nicht. Zu wenige waren bereit, zuzuhören und sich ein bisschen zurückzunehmen um des gemeinsamen Spiels willen.

Wenn die Ideale nicht mehr ziehen, dann kommen Appelle und Drohungen ins Spiel. Im Politischen Spektrum wird auf der Linken eher appelliert und auf der Rechten lieber gedroht. Aber das Problem bleibt: Ohne Einsicht und ohne – ich sag das mal fromm: „Herzensveränderung“ – bleibt beides äußerlich. Wenn es dann nicht mehr gelingt. den Druck hoch zu halten, eskaliert alles wieder wie in der Chaos-Klasse.

Nochmal von vorn, aber anders

Paulus hat aus der Geschichte seines Volkes gelernt: Israel und Gott sind gescheitert wie viele Paare. Die Schuld daran war nicht gleichmäßig verteilt: Es braucht nur eine Seite, der die Beziehung nicht genug wert ist. Weder die Appelle der Propheten noch die Drohung mit Strafe haben es verhindert. Aber dann, als alles in Trümmern liegt, entscheidet Gott sich für einen Neuansatz:

Ideale (das Land, wo Milch und Honig fließt) sind offenbar zu wenig. Auch an sich richtige Regeln (Gottes Gebote) nageln uns eher auf Defizite fest. Es muss eine Kraftquelle dazukommen, die sich nicht erschöpft. Sie muss unabhängig sein von der äußeren Großwetterlage, und das heißt, sie muss in den Menschen selbst liegen, ohne sich in deren Endlichkeit zu erschöpfen. Dann ist auch die verlorengegangene Spontaneität wieder da.

Aber dafür ist das Eingeständnis nötig: Wir brauchen Gottes Hilfe. Es muss eine Art Herztransplantation stattfinden, denn das ist es, was Gottes Geist im Menschen bewirken kann. Wenn Gottes Sehnducht nach einer besseren Welt nichts Fremdes, Äußerliches mehr ist, wen der Wunsch danach aus mir selbst kommt und auch nicht nachlässt, dann geht es nicht mehr darum, meinen Kopf gegen Gott und andere Menschen durchzusetzen.

Nicht mehr um Spaltung, sondern um Verbundenheit geht es ab da. Und das ermöglicht Veränderung: Hochachtung – Gott und den/die Nächste:n höher zu achten als mich selbst – und Liebe, die sich selbst zurücknehmen kann, die auch mit ganz unterschiedlichen Meinungen und Bedürfnissen umzugehen lernt.

Und klar – all das fühlt sich in der Praxis manchmal trotzdem an, als würde es mich umbringen! Aber genau deshalb glauben wir ja auch an die Auferstehung von den Toten.

So war das auch beim ersten Pfingsten: Ein paar Wochen nach dem Mord an ihrem Anführer stehen die Jünger:innen wieder auf den Straßen der Stadt: Frei von Furcht und Groll, fröhlich und klar, einfach nicht totzukriegen.

Wo der Geist ist, da bricht Freiheit aus und durchlöchert die Unfreiheit in der Welt. Eine andere Welt wird möglich. Wir haben – nein, wir bekommen – alles, was wir dazu brauchen.

(Foto von Alex Alvarez auf Unsplash

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Einfach Mann sein – geht das?

„Wann ist ein Mann ein Mann?“ fragt – mal wieder – ein Beitrag in der Arte-Mediathek im Anschluss an Herbert Grönemeyer. Und deutet damit im Titel an, dass es nicht ausreichen könnte, auf ein Y-Chromosom zu verweisen und/oder auf testosteronbasierte Geschlechtsmerkmale. Dass also zu Genetik und Anatomie noch etwas kommen muss, um ein „echter“ Mann zu sein. Und das das, was dazukommt, sogar irgendwie das Eigentliche sein könnte.

Lässt man sich auf den Gedanken ein, dann geht es ab da nicht einfach um Eigenschaften, nicht um ein bestimmtes So-Sein, sondern um das Tun: Männlichkeit wird ganz überwiegend performativ aufgefasst, und zwar absurderweise ganz besonders nachdrücklich von denen, die sich strikt gegen jede gendertheoretische Relativierung physischer Gegebenheiten verwahren.

Am sogenannten „Vatertag“ werden gewisse Stereotypen performativer Männlichkeit besonders zelebriert. Andere haben mit Bier und Bollerwagen weniger zu tun, aber auch da gilt: Man ist nur (oder vor allem) dann ein „richtiger“ Mann, wenn man dieses oder jenes tut.

Es gibt eine ganze Männlichkeitsindustrie, die Männern „hilft“, sich als Männer zu fühlen, indem Sie irgendwelche Männerdinge tun. Irgendeinem Ideal nacheifern, das mal so und mal so aussieht. Grölen, Grillen, irgendwas verbrennen oder irgendwas jagen … ach, und vor allem scheinen viele „richtige“ Männer sich dadurch auszuzeichnen, dass sie anderen nur allzu bereitwillig unter die Nase reiben, dass sie gar keine echten Männer sind, solange sie das nicht tun, was Männer angeblich ausmacht. Oder üble Ressentiments gegen Frauen entwickeln und verbreiten, die vermeintliche Männerdinge tun und deshalb als Bedrohung der Männlichkeit insgesamt wahrgenommen werden.

Wäre also am Ende einfach dies das Wesen des Männlichen, dass man immer einem (reichlich wandelbaren) Ideal hinterherhechelt? Ein Ideal, das deshalb auch unerreichbar sein muss, weil man in dem Augenblick, wo man es erreichte, nichts mehr tun könnte und sich die zugrundeliegende Performativität damit selbst erledigt hätte?

Oder ist dieser Anspruch, das eigene Mannsein immer und immer wieder zu verwirklichen oder zu unter Beweis zu stellen, eher eine als Problemanzeige zu sehen und eine Beeinträchtigung – wenn schon nicht der Männlichkeit, dann auf jeden Fall der Lebensqualität?

Was würde wohl passieren, wenn Männer die Nonchalance an den Tag legen könnten, einfach die zu sein, die sie gerade sind: Jetzt, in diesem Augenblick, ohne nach rechts und links zu schielen und auf Bestätigung von irgendwem zu warten, wie männlich ich dabei erscheine? Gottes Erlaubnis dazu habe ich. Aber gestehe ich mir es auch selbst zu?

(Foto von Vince Fleming auf Unsplash)

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Leichtgläubige Skepsis

Gegenüber im Zug sitzt ein freundlicher älterer Herr, der mir auf der Fahrt seine lange Krankheitsgeschichte und Berufsbiografie erzählt, um dann zu fragen, was ich eigentlich so mache. Pfarrer, sage ich. Er sei schon vor langer Zeit ausgetreten, erklärt er daraufhin, freilich aus der katholischen Kirche. Die evangelische scheint ihm etwas sympathischer zu sein, sie hat halt keinen Papst.

Aber nicht sympathisch genug, um dort einzutreten. Die Bibel sei ja erst im vierten Jahrhundert geschrieben worden, erklärt er mir dann, auf Geheiß von Kaiser Konstantin und für das leichtgläubige Kirchenvolk. Hingegen sei die Wahrheit über Jesus und die ersten Christen, die sich in den viel älteren und daher authentischeren Schriften aus Qumran findet, ja vom Papst unterdrückt worden. Jesus sei mit Maria Magdalena verheiratet gewesen, und das dürfe ja nicht sein, daher wurde es vertuscht, wie vieles andere.

Ich höre eine Weile zu und sage dann: „Für einen Skeptiker glauben Sie ja doch eine ganze Menge. Soweit ich weiß, ist in den Texten von Qumran von einem verheirateten Jesus nicht die Rede?“ Er ist sich aber ganz sicher. Also relativ sicher, meint er schließlich. Aber jeder könne sich auch mal täuschen. Ich bin nicht sicher, wen von uns beiden er jetzt gerade meint, aber dann hält der Zug und unsere Wege trennen sich.

Und ich denke mir: In gewisser Weise haben wir es immer mit Hörensagen zu tun, wenn wir davon reden, dass sich Gott in menschlicher Geschichte offenbart. Aber es ist doch ein Unterschied, ob man etwas glaubt, was irgendwo im Internet oder bei irgendeinem Bestsellerautor steht – oder sich auf Traditionen bezieht, die sich seit Generationen immer wieder in Frage stellen lassen und sich ihrer Grundlagen immer wieder kritsch vergewissern, ohne damit je aufzuhören.

So einen unerschütterlichen Glauben, wie der freundliche Mitreisende hatte, bringe ich jedenfalls nicht auf.

(Foto: Tanner Mardis auf Unsplash)

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Das UFO im Garten

Die Nacht nach dem Palmsonntag war klar und kalt, und als ich vom Frühstückstisch in den Garten schaue, sehe ich ein seltsames Objekt etwa einen Meter über dem Boden schweben. 

Das UFO entpuppt sich als die Krone unseres Zwetschgenbäumchens. Meine Frau hat es am Vorabend noch verpackt gegen die Kälte. Die Obstbaumblüte hat dieses Jahr wieder recht früh begonnen. Die Zwetschge strahlt seither weiß im Sonnenlicht und wird von Bienen eifrig umsummt. Wir freuen uns an dem Anblick, aber wir machen uns auch ein bisschen Sorgen: Eine einzige klare, kalte Nacht könnte der Blütenpracht ein jähes Ende bereiten. 

Obstbauern zünden in solchen Nächten kleine Feuer unter ihren Kirsch- oder Apfelbäumen an, habe ich beim Fernsehen erfahren. Das ist verständlich, aber irgendwie auch absurd. Denn die Tatsache, dass alles eher blüht und deshalb öfter Nachtfrost abkriegt, ist ja die Folge davon, dass wir so viel verheizen: Öl, Gas, Benzin, Kohle oder auch Holz.

Schon komisch, was wir alles machen, und was gar nicht (oder viel seltener) nötig wäre, wenn wir es alle zusammen gleich richtig gemacht hätten…

Inzwischen ist die Zwetschge ohne Frostschaden verblüht. Der Apfelbaum hat sich erst zwei Wochen später herausgetraut, bei über 20 Grad und Saharastaub. Vielleicht lernen die jungen Bäume ja schneller, als ich dachte.

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Warum Minderheiten so wichtig sind für die Demokratie

Die Staatsregierung hat ihren Beamten kürzlich das Gendern verboten. Ein Bekannter, der gern über vermeintliche „Verbotsparteien“ herzieht, findet dieses Verbot super. Die Mehrheit sei schließlich „gegen den Schmarrn“, und wir seien doch in einer Demokratie. 

Gut, sage ich, aber zur Demokratie gehört halt auch, dass Minderheiten geschützt werden und sichtbar bleiben, auch in der Sprache. Und er antwortet: „Ich bin ja sehr dafür, Minderheiten zu schützen, aaaber: Nur weil jemand anders fühlt oder sich irgendwie identifiziert, ist er keine Minderheit.“

Und damit sind wir beim Kern des Problems. Es passiert eben ganz schnell, dass die Mehrheit bestimmt, wer als legitime Minderheit gilt und wer nicht. Und damit – reichlich gönnerhaft – festlegt, wen man ein bisschen schützt und wer gemobbt werden darf.

Demokratie heißt aber, dass die Mehrheit Störungen und Befremdliches akzeptiert. Nicht weil es angenehm ist, sondern weil die Mehrheit weiß, dass sie nicht immer Recht hat. Wenn wir diese Spannung aushalten, könnte es uns alle weiterbringen.

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Privilegien: Der Zankapfel unserer Zeit

Selten hatte ich das Gefühl, dass ein Perikopentext besser in die Zeit passt, als gestern am Palmsonntag. Wir sind ja ständig dabei, Privilegien auszuhandeln. Aber seit ein paar Jahren erleben wir ein besonders zähes, immer verbisseneres Ringen: Die einen möchten ihre Privilegien zementieren, die anderen reduzieren. Mit gravierenden Folgen für die Demokratie und den gesamten Planeten.

Was das Ganze mit Jesus zu tun hat und auf welche Spur es seine Nachfolger*innen in den gegenwärtigen Kulturkämpfen setzt, dazu habe ich mir gestern ein paar Gedanken gemacht. Hier könnt Ihr sie anhören.

(Und wer es gern noch vertiefen möchte: Das neue Buch von Daniel Mullis über den aufstieg der Rechten und die Regression der Mitte ist sehr informativ und gut zu lesen)

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Nachfolge in Zeiten des Zorns

Letztes Jahr im Oktober: Ich sitze in der Regionalbahn und höre, wie jemand ganz am anderen Ende des Waggons laut sagt: Der Habeck gehört erschossen! Ich will ja eigentlich ein Buch lesen, aber die weibliche Stimme kann ich nicht ausblenden, sie klingt wie eine Bekannte (die so etwas freilich nie niemals sagen würde).

Die unbekannt-bekannte Stimme im Zug monologisiert lautstark weiter, neue Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr. Keiner ihrer Gesprächsparter (es sind wohl mehrere) widerspricht. Sind die denn alle einverstanden, gewählte Politiker, die man nicht mag und deren einziges „Verbrechen“ es ist, andere Positionen zu vertreten als man selbst, mit Gewalt zu beseitigen? Die junge Frau hält sich ganz offenkundig für eine von den Guten. Und je länger sie sich im Recht fühlt, desto mehr Hass auf andere genehmigt sie sich.

Selbstgerechtigkeit ist ein starkes Gefühl. Sie verleitet mich dazu, Gott zu spielen. Als ich aussteige, fällt mir eine Szene aus der Bibel ein: Da wird Jesus „guter Meister“ genannt und er weist das sofort zurück: „Gott allein ist gut“, sagt er. Jesus weiß genau, wie brutal und übergriffig selbstgerechte Menschen sein können. Er hat es am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Ich bin nicht Gott. Ich bin auch nicht immer gut. Und genau deshalb kann ich mit mir und anderen Geduld haben. Sie stehen lassen mit ihren manchmal wunderlichen oder nervigen Ansichten. Fair und friedlich bleiben, statt auf Rache und Vernichtung zu sinnen. So wird zwar nicht alles, aber manches wieder ein bisschen besser. 

Aber den Hass und die mörderische Sprache kann man nicht stehen lassen. Nick Cave sagt in „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“:

"Ich habe das Gefühl, … dass es da draußen unermessllichen Zorn gibt, der irgendwie zum Leben erwackt wurde und sich nun gegenseitig entfacht. … Es fühlt sich die ganze Zeit an, als wären wir kurz vor einer Explosion."

In den letzten Wochen haben viele Menschen, auch viele Christen, ein deutliches Zeichen gesetzt, indem sie auf die Straßen gegangen sind. Gegen Akteure und Bewegungen, die offenbar Gott spielen wollen, indem sie anderen ihrer Grundrechte berauben.

Aber es ist nicht nur das, was mich an die Bahnfahrt vom Herbst erinnert. Im Oktober fühlte sich das Bahn-Erlebnis noch wie ein grotesker Ausreißer an, aber aus dem dumpfen Krakeelen ist inzwischen handfeste Gewalt geworden – eben vor allem gegen grüne Politiker:innen. Die Polizei ist erstaunlich zurückhaltend angesichts dieser Übergriffe. Man könnte fast meinen, sie wendet ihre Schmerzgriffe vor allem da an, wo die Protestierenden unbewaffnet, friedlich und verletzlich daherkommen. Und konservative Politiker kommentieren den Bruch demokratischer Spielregeln immer noch mit einem hämischen „selber schuld“. In den Unionsparteien und bei den Freien Wählern haben einige offenbar ein recht opportunistisches Verhältnis zur Gewalt in der politischen Auseinandersetzung. Sabine am Orde schrieb dazu kürzlich:

Noch viel schlimmer aber ist, dass diese entweder nicht begreifen, wie ernst die Lage ist – oder bereit sind, dies parteipolitischem Kalkül zu opfern. Die Attacken richten sich ja nicht nur gegen die Grünen, sondern ­gegen die Demokratie. Und damit auch gegen sie.

Wir müssen uns wohl darauf einstellen, dass es ein langes, zähes Ringen darum geben wird, welchen Weg unser Land einschlägt. Die katholischen Bischöfe haben sich schon erfreulich klar positioniert – gegen einen Populismus, der „stereotypen Ressentiments freie Bahn verschafft – gegen Geflüchtete und Migranten, gegen Muslime, gegen die vermeintliche Verschwörung der sogenannten globalen Eliten, immer stärker auch wieder gegen Jüdinnen und Juden“.

Die Bischöfe wissen es, und wir wissen es im Grunde ja auch: Nur wenn wir nicht der Versuchung erliegen, Gott zu spielen (vor allem nicht den zornigen Gott), gelingt es uns auch, menschlich mit uns selbst und anderen umzugehen. Die Passionszeit ist ein guter Anlass, darüber nachzudenken.

Wutfasten sollte freilich nicht auf ein paar Wochen im Jahr beschränkt sein.

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Winter, Wald und Wunden

Ein stiller Moment im winterlichen Wald. Ich stehe neben einem kleinen Wasserlauf, der fast unmerklich vor sich hin tröpfelt. Als ich mich umdrehe, sehe ich am Stamm einer schlanken Rotbuche Spuren eines Sonnenbrandes. Benachbarte Bäume sind umgefallen oder geschlagen worden, das Kronendach hat dadurch ein Loch bekommen und der Stamm hat die Hitze der Sommersonne nicht gut verkraftet. Die RInde ist aufgeplatzt und hat um die offene Stelle eine dicke Wulst gebildet.

Ich lege meine Hand ein paar Augenblicke in die vernarbte Wunde. Mein Blick wandert umher. Der Schnee verbirgt etliche Baumstümpfe und die vielen am Boden liegenden Äste und Zweige. Aber es ist immer noch deutlich, dass da ein verwundeter Baum in einem verwundeten Wald steht.

Ich habe aus zwei Ästen ein Kreuz auf dem Waldboden gelegt. Das erscheint mir ein passender Ort, um an einen verwundeten Gott zu erinnern. Einer, von dem es rätselhafterweise heißt, dass wir in seinen Wunden Heilung finden. Wie sie wohl aussehen wird? Wie lange wir noch auf sie warten müssen? Was noch alles verwundet oder zerstört wird, bis es so weit ist?

Aber die Buche steht noch, und für eine Weile stehen wir hier zusammen. Eine tröstliche Weile.

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Wir Frösche im Kochtopf

Diese Woche kam die offizielle Bestätigung: Das vergangene Jahr war weltweit das heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen und nach allem, was wir wissen, das wärmste seit 125.000 Jahren.

Weil es im Sommer öfter geregnet hat als in den vorausgehenden Dürrejahren, haben viele Leute hier das gar nicht zur Kenntnis genommen. Gefühlte und gemessene Temperaturen –davon könnte der Frosch ein Lied singen, wenn er den Kochtopf denn überlebte – sind zwei Paar Stiefel.

Der Frosch im sich allmählich erhitzenden Kochtopf merkt nämlich nicht, dass er in Gefahr ist. Würde er direkt vom kalten ins heiße Wasser geworfen, wäre das anders. Der Temperaturschock würde eine schnelle, heftige Reaktion hervorrufen. Und in dieser Hinsicht, dass wir langsame, schleichende Veränderungen nicht als Gefahr wahrnehmen, sind wir Menschen leider eher wie Frösche. Deshalb ist es auch so wichtig, auf die Messwerte zu schauen. Und sie ernst zu nehmen.

Ich habe die Messwerte des letzten Jahres für Nürnberg hier mal in der Übersicht. Mit Ausnahme des – nur gefühlt eisigen – April liegen alle weit über dem Mittel der 30 Jahre vor 1990. Doch selbst der April ist nur Durchschnitt, also eigentlich doch nicht kalt gewesen.

Quelle: wetterkontor.de

Neun von zwölf Monaten waren mindestens zwei Grad wärmer. Da kann man nicht mehr von Einzelfällen, Anomalien und Ausreißern sprechen. Bei drei Grad Erwärmung wären mindestens 20% mehr Regen nötig, um den ansteigenden „Dampfhunger“ der Atmosphäre auszugleichen. Das haben wir in Nürnberg gerade mal so erreicht, aber es war eben nicht genug, um die niedrigen Grundwasserstände in der Region wieder aufzufüllen. Und weil ein Teil dieser Niederschläge als Starkregen fiel, floss das Wasser ab, bevor es in den Bödern verscikern konnte.

Auch in anderer Hinsicht sind Zahlen aufschlussreich: Naturkatastrophen haben im vergangenen Jahr Schäden in Höhe vom 250 Milliarden Dollar verursacht. Fast ein Drittel davon waren Gewitterschäden. Die fielen in Europa und Nordamerika heftiger aus als je zuvor. Für die globale Situation gibt es diese gelungene Kurzübersicht bei Zeit Online.

Unsere Parteien streiten derzeit über die Schuldenbremse im Staatshaushalt. Die Verengung auf das Monetäre ist in dieser Form verantwortungslos, verrückt und kurzsichtig, weil wir täglich weiter Klimaschulden auftürmen, die uns in Form von immens kostspieligen Klimafolgen viel teurer zu stehen kommen als alle Kredite und Anleihen, die zum ökologischen Umbau der Wirtschaft und Gesellschaft nötig wären. Geldschulden kann man zurückzahlen, aber wenn die Kippunkte unserer Ökosysteme erreicht sind (und etliche sind bereits überschritten), wird diese Schuldenspirale sehr schnell und vor allem unwiderruflich außer Kontrolle geraten.

Wenn Jesus in den Evangelien mit dem Kernsatz zitiert wird „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“, dann würde die Entsprechung angesichts der Risiken, die wir heute gemeinschaftlich entfesseln, jetzt lauten:

Es ist möglich, unsere destruktive Art zu leben und zu wirtschaften zu verändern. Aber dazu müssen wir bereit sein, umzudenken und uns einzugestehen, dass es so nicht weitergehen kann. Und wir müssen eine Haltung gegenüber Menschen und Mitgeschöpfen einüben, die nicht darauf aus ist, sie uns anzueignen und zu unterwerfen. Denn selbst wenn wir das nicht vorsätzlich tun, darauf läuft es derzeit hinaus. Und dass es nicht so bleiben darf, ist einfach nur fair und gerecht.

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