Zeit und Ehe bei Paulus

Ich lese immer noch in Lehnerts „Korinthischen Brocken“. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zu der Frage, wie Paulus zu lesen und auszulegen ist, weil es sich jenseits gängiger dogmatischer Alternativen bewegt. Recht konkret wird das in der Betrachtung von 1.Korinther 7, wo es um Heirat und Ehelosigkeit geht. Man kann Lehnert sicher nicht vorwerfen, er setze sich leichtfertig über den Wortlaut hinweg oder erkläre irgendwelche Aussagen für heute nicht mehr zeitgemäß. Relativiert wird lediglich eine bestimmte, weit verbreitete und Jahrhunderte lang dominierende Auslegungstradition.

Paulus ist durch seine Christusbegegnung wie aus der Zeit gefallen. Weniger die Kontinuität die vom Vergangenen kommt und auf das Zukünftige hin läuft, bestimmt ihn, sondern deren Unterbrechung.

Paulus – ziellose Schritte, kein »Weiter«, kein »Zurück«, er läuft und läuft. Fort von Damaskus – und auf Damaskus zu, auf den Moment seiner Verwandlung. Paulus agiert nicht mehr auf einem Zeitstrahl. Deshalb kann er auch so schlecht erzählen, er verliert schon innerhalb von zwei, drei Sätzen den Faden, steigt aus und reflektiert, fällt ins Suchen nach Begriffen oder abrupt ins Poetische, in den dichten Ausdruck des Augenblicks. Er schaut auf: Wo bin ich? Was ist das?

Und so ergibt sich auch im Blick auf die Ehe eine andere Perspektive als die vieler rabbinischer Zeitgenossen, die Sexualität und Fruchtbarkeit als göttliches Geschenk feierten, wie auch der entstehenden Gnosis, die Leiblichkeit immer nur negativ in den Blick nahm:

In der Ehe eine »heilige Schöpfungsordnung« zu vermuten, ist für Paulus genauso abenteuerlich wie in der Askese einen Ausweg aus der eigenen Natur. Bleibt! Verharrt! Wenn eine Ehe zerbricht, dann möge sie zerbrechen. Und wenn eine Ehe geschlossen wird, so habe sie Bestand. Bleibt! Was die Gegebenheiten dieser Welt bedeuten, wird der Christus erweisen. Und in diesem Verharren pulst doch eine anarchische Unruhe, sie bestimmt die Lebensform des Glaubens, wie das Verlangen nach Luft die Lunge bewegt. (S. 162)

Lehnert betont auch den Kontrast zum romantischen Ideal der Moderne, die das Heil in der geschlechtlichen Liebe sucht. Auch sie kann sich nicht auf Paulus berufen. Vielleicht wäre das ja auch ein Ausweg aus den Kulturkämpfen rund um Ehe und Familie, das Thema wieder etwas zurückzunehmen. Da scheint mir auch ein Teil der Diskutanten (darunter die offizielle Linie der katholischen Kirche) an der Vorstellung von heiliger Schöpfungsordnung zu kleben und manche Kritik daran dürfte sich ihrerseits vor allem dem säkularen Motiv verdanken, in der geschlechtlichen Liebe etwas Unbedingtes zu sehen, dem ein Mensch um jeden Preis zu folgen hat, wenn er sein Glück nicht verspielen will. Ähnlich sind die Folgen für das Verhältnis der Christen zur antiken Gedächtniskultur, die so großen Wert legt auf Ahnen und Abstammung:

Die Ehe ist ja nichts als eine Interimslösung mit sehr begrenzter Gültigkeit. Ihr kommt keinerlei Heiligkeit zu, keine Metaphysik des Blutes. Es ist, folgt man Paulus, letztlich sinnlos, auf den Stammbaum der Generationen zu schauen, sich ein Weiterleben in einer Familie oder im Gedächtnis von Nachkommen zu erhoffen. Ja, es ist schon fahrlässig, eine Familie außerhalb der direkten Anwesenheit von Personen, der Liebe von Menschen zu denken […]

Die Familie löst sich bei Paulus auf bis auf die Personen, die man kennt und liebt. Genealogien, nichts haben sie mehr zu sagen auf die Frage, wer wir sind. (S. 163f.)

Der Schlüssel zu einer Entkrampfung der Debatten läge aber wohl darin, dieses Zeitempfinden nachzuvollziehen, die „anarchische Unruhe“ zurückzugewinnen. Christentum in unseren Breiten hat sich vielfach in der Zeit leidlich eingerichtet, lebt mehr im Verlauf als der Unterbrechung, hütet das Erbe der Väter oder fügt sich in den Lauf der Dinge. Dass Paulus hier, wie Lehnert schreibt, Lebenssituationen zu sich selbst in Spannung setzen kann, hat mit seinem Bild der Welt zu tun:

Paulus erlebt den Kosmos als flüchtige Erscheinung in stetem Selbstwiderspruch. Die alte Welt ist verwandelt in ihren Schatten, im Licht des messianischen kairos, und doch ist sie Ort der Bewährung, des Ausharrens bis zum Ende, und das heißt: Harren in der Verantwortung für die Welt als Hauch. (S. 169)

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