James Hamilton-Paterson macht sich bei Spiegel Online lesenwerte Gedanken über Sonnenuntergänge bzw. deren Abbildungen. Warum sind sie so populär, dass kaum ein Kitschmotiv ohne sie auskommt? Kunsthistorisch gesehen lässt sich dabei feststellen (und jetzt wird die Grafikabteilung von Aufatmen und erst recht der Kawohl-Verlag ins Schwitzen geraten):
Von 1780 an schätzte man Sonnenuntergänge zusammen mit Ehrfurcht gebietenden Sujets wie Bergen, Gletschern, Wüsten und wilden Küsten zunehmend dafür, dass sie ein Gefühl der Erhabenheit evozierten. Es ist kein Zufall, dass zur selben Zeit der Pantheismus Mode wurde. Infolge der Aufklärung und des Aufkommens der Naturwissenschaften waren die in heiligen Schriften festgehaltenen religiösen Gewissheiten ins Hintertreffen geraten. Dank dem Pantheismus konnte man nicht nur die Menschheit, sondern die Natur überhaupt als Gottes Werk betrachten. Damit wurde die unschuldige Natur erstmals in der abendländischen Kultur Objekt aller möglichen menschlichen Sehnsüchte. Schlagartig wurden Sonnenuntergänge zum Malerischen schlechthin, und die großen romantischen Landschaftsmaler ließen ihrem Gefühlsüberschwang freien Lauf.
Glücklicherweise bietet er dann auch noch eine andere Deutung an, die dürfte all jenen Wächtern der reinen Lehre, für die Aufatmen bisher eher den Untergang der evangelikalen Tugenden und des christlichen Abendlandes symbolisierte, besser gefallen. Weshalb sie hoffentlich der Redaktion aus den bisherigen Titelbildern – Anselm Grün natürlich ausgenommen – keinen (weiteren) Strick drehen dürften. Denn da ist der Sonnenuntergang als Symbol für – nein, nicht das Höllenfeuer, sondern die Endlichkeit menschlichen Daseins. Eine Urlaubspostkarte könnte auch diese Botschaft transportieren, in der Regel freilich eher unbeabsichtigt:
Ich dachte, es schadet dir nichts, daran erinnert zu werden, dass das menschliche Dasein etwas mit Sonnenuntergängen zu tun hat und dass wir uns mit jedem Tag ein Stückchen weiter westwärts bewegen. Drum rate ich dir: Bewahre jeden Sonnenuntergang in deinem Herzen, denn du hast immer weniger Gelegenheiten, noch einen zu erleben.
Mein Vorschlag an Kawohl & Co zur Beseitigung von Missverständnissen und zur Kundenbindung am recht(gläubig)en Rand: Druckt ab jetzt nur noch Sonnenaufgänge – als Hinweis auf die Sonne der Gerechtigkeit und die Gewissheit (oder war es Hoffnung?) der Auferstehung von den Toten 🙂
Selten so gelacht! Peter, du bist der Größte!
😉 sehr schön…!
😉 über den letzten Absatz musste ich auch lachen, auch wenns ne Anspielung sein sollte 😉
Auffallend
wenige Kommentare – war das kein Thema? Für mich schon. Nach dem
spontanen ersten Lacher hat es mich nicht so schnell losgelassen.
Sonnenuntergänge sind populär, jeder hat sein besonderes Verhältnis zu
ihnen, verbunden mit eigenen Erlebnissen und Gefühlen. Sonnenaufgänge
können damit nicht konkurrieren. Sie werden, obwohl auch sie täglich
geschehen, für den Menschen eher den Hauch des Exclusiven behalten. Den
herrlichsten und folgenreichsten Sonnenaufgang erlebte Jakob mit
sechzig Jahren. Von ihm erzählt man noch heute.
Sonnenaufgänge fallen einem gewöhnlich nicht in den Schoß. Meist muss
man etwas tun, um einen zu erleben: Im Dunkeln aufstehen, einen Berg
besteigen, warten und frieren mit leerem Magen. Aber dann! Nach einem
Sonnenaufgang am See Genezareth, wenn sie sich endlich über den
Golanhöhen zu ihrer vollen Pracht entfaltet, kann man süchtig werden.
Ende desLebens? Ich versende keine Beileidskarten mit
Sonnenuntergängen. Sie vermitteln die falsche Botschaft.
AufAtmen – nicht das Cover, der Inhalt bringt manchen Sonnenaufgang hervor.