Nietzsche fand bekanntlich, dass Pilatus besser abschneidet als Jesus, weil er illusionäre Wahrheitsansprüche ironisiert. David Bentley Hart betrachtet das Gespräch der beiden aus einem anderen, sehr erhellenden Blickwinkel, wie ich finde:
Die Frage des Pilatus ist höchst dialektisch, höchst sokratisch: Mit einem Wahrheitsanspruch konfrontiert, einer rhetorischen Geste, die den Angesprochenen zur Anerkennung einlädt, aber die abgesehen von dieser Einladung nicht in eigener Sache argumentiert, versucht Pilatus, deren Kraft umzuleiten, indem er seinen Blick von der Wahrheit vor seinen Augen abwendet, hin zu einer abstrakten Frage bezüglich der Wahrheit von Wahrheit.
Jesus jedoch hat keine Behauptung aufgestellt, die besagt, dass er wahr sei, dass er im Abstrakten an „Wahrheit“ appelliere, vielmehr hat er gesagt, dass er die Wahrheit ist, die er anbietet und bezeugt; er hat die Frage des Pilatus tatsächlich schon beantwortet, und Pilatus manövriert sich nun weg von dem beunruhigenden Anspruch, vor den Christus ihn stellt. Und dann wieder, nachdem Christus gegeißelt und verspottet worden ist, versucht Pilatus Christus ein letztes Mal dazu zu zwingen, über sich Auskunft zu geben, irgendein reinrassiges – „Wo bist du her?“ – das den außerordentlichen Ansprüchen, die er stellt, Autorität verleiht oder sie wenigstens erklärbar macht; Pilatus ringt darum, die Kraft der Rhetorik aufzulösen, die vor ihm steht, mit Dornen gekrönt, und schließlich kann er nur die eine Wahrheit aussprechen, die er kennt – „weißt du nicht, dass ich die Macht habe, dich zu kreuzigen?“ – und dann kann er nur diese Wahrheit herbeiführen, … indem er Christus dem Tod übergibt.
Pilatus ist also nicht der vornehme Ironiker, sondern schlicht ein kurzsichtiger Reaktionär; Jesus hat die Ordnung von Wahrheit, der Pilatus sich verschrieben hat, längst untergraben, also hat Pilatus keine andere Wahl, als sie wiederherzustellen, indem er handelt. Christi Wahrheit jedoch ist derart, dass sie umso offenkundiger wird, je mehr man sie unterdrückt; ihre Geste ist die des Geschenks, das selbst dann gegeben wird, wenn es abgelehnt wird; und so macht Christus am Kreuz die schiere Gewalt, die den Ökonomien weltlicher Wahrheit zugrunde liegt, für sich selbst transparent, und eröffnet eine Wahrheit anderer Ordnung, eine andere Geschichte, eine, die jedes Mal neu und mit größerer Kraft erzählt wird, wenn man sie mit Gewalt zu Schweigen bringt. (The Beauty of the Infinite, S. 332f.)
(Wer dem Wahrheitsthema gern weiter nachgehen möchte, kann hier zu Parker Palmers Gedanken klicken).
Wie schön, dass auch über uns, die mit diesem hinreißenden Gott sind: niemand Macht hat!