Mit ein paar Leuten bin ich im Gespräch darüber, was wir unter dem Begriff “prophetisch” verstehen. Mir scheint eine Klärung wichtig, weil die gängigen Bestimmungen recht unbefriedigend sind. Theologisch liberal gedacht geht es darum, Unrecht anzuprangern und Soizalethik zu predigen, konservativ geht es um die reine Lehre und ein bißchen Moral, für andere ist es eine Art Orakel (oft bei Charismatikern und auch Esoterikern), in der Regel mit Botschaften für einzelne.
Hirsch und Frost beschreiben es funktional als “questioner” und “disturber” – das gefällt mir schon deutlich besser. Noch weiter geht Walter Brueggemann hat sich in “The Prophetic Imagination”. Für ihn geht es darum, ein alternatives Bewusstsein zu bewirken, das sich von dem Zeitgeist der herrschenden Kultur abhebt. Mehr noch, es geht um eine alternative Gemeinschaft von Menschen. In unserem Fall der materialistischen Konsumgesellschaft ist das Gegenstück dazu ein Leben ohne Geschichte und ohne Hoffnung, immer im Augenblick, aber daher auch müde und unfähig zu echter Veränderung.
Israel ist als Gemeinschaft durch Moses prophetisches Wirken eigentlich erst richtig entstanden. Es enthielt nicht nur Kritik an den Göttern und Herrschern Ägyptens, sondern es setzte auch revolutionäre Kraft frei:
Prophecy is born precisely in that moment when the emergence of a social political reality is so radical and inexplicable that it has nothing less than a theological cause. (S. 6)
Hier begegnen wir einem Gott, der nicht himmlisch-distanzierter Exponent und Garant einer irdischen Machtstruktur ist (an der er daher nicht rütteln wird), sondern einem freien Gott, der sich auf die Seite der Underdogs schlägt. Ohne Gottes Freiheit wird es keine echte Barmherzigkeit und keine Gerechtigkeit geben.
The program of Moses is not the freeing of a little band of slaves (…) Rather, his work is nothing less than an assault on the consciousness of the empire, aimed at nothing less than the dismantling of the empire both in its social practises and in its mythic pretensions. (S.9)
Brueggemann zeigt, wie im Lauf der Plagen sich das Bewusstsein verändert. Die Hoffnung der Israeliten gilt immer mehr Jahwe und immer weniger der Einsicht oder Großmut des selbstgefälligen Pharao, der immer noch leugnet, dass es überhaupt ein Problem gibt und die Schreie der Sklaven unterdrückt. Die Götter und Zauberer (“research and development”) werden vorgeführt. Der Prophet lässt das Dunkel unerklärt, in dem sich Gottes Befreiung anbahnt. Aber auch ohne es zu verstehen kann Israel Hoffnung schöpfen, weil es das Ziel kennt: Die Befreiung.
the urging I make to those who would be prophets is that we not neglect to do our work about who God is and that we know our dicernment of God is at the breaking points in human community. (S. 16)
Schließlich mündet Prophetie in Doxologie, die selbst ein Akt menschlicher Freiheit und Gerechtigkeit ist (Exodus 15): Ein neuer Name, der auf den Plan getreten ist, wird besungen; die Umkehr der alten Ordnung; der Aufruf, die Freiheit im Tanz zu betätigen und der polemische
The language of the empire is surely the language of managed reality, of production and schedule and market. But that language will never permit or cause freedom because there is no newness in it. Doxology is the ultimate challenge to the language of managed reality and it alone is the universe of discourse in which energy is possible. (S. 18)
Gefällt mir, die Definition von Brueggemann. Aber: Kann ich Gott um ein alternatives Bewußtsein bitten, dann mittels Bibel und anderem alternativen Gedankengut daran machen, mir möglichst ein solches zu erarbeiten und dann hoffen, dass Gott mich geführt hat und ich jetzt ein Prophet bin. Oder muss ich darauf warten, dass Gott mir ein solches Bewußtsein auf übernatürliche Weise einflößt und ich dann auch Sicherheit über meine Rolle als Prophet habe?
Das ist genau mein Problem mit den Propheten: Ich bin immer sehr skeptisch ggü. Menschen, die nicht die geringste Spur Zweifel an dem göttlichen Status ihrer prophetischen Einsichten haben; andererseits kann ich mir nur schwer einen Propheten vorstellen, der sich darüber unsicher ist…
Eine Formulierung, die ich seit einiger Zeit im Kopf habe, wenn es um Propheten geht: sie erhalten einen kurzen Einblick in das Herz Gottes.