Verliebt in Theorien

Iain McGilchrist berichtet in seinem Buch The Master and His Emissary von einem Experiment, bei dem die Probanden vorhersagen mussten, ob ihnen als nächstes Rot oder Grün gezeigt wird. Sie absolvierten den Test mit mehr oder weniger Erfolg, dann aber wurde ihnen (ohne dass sie es wussten) immer die Farbe gezeigt, die sie genannt hatten – sensationelle hundert Prozent Trefferquote stellten sich ein.

Als man die Teilnehmer danach interviewte, konnte ein großer Teil auch ganz genau erklären, wie es dazu gekommen war. Sie hatten komplizierte Theorien zur Abfolge der Farben und Methodik ihrer makellosen Vorhersage entwickelt. Das Problem war nur: sie waren alle falsch. Es gibt in uns einen starken Drang, zu gewinnen und Recht zu haben. So nützlich dieser hin und wieder ist, so fatal kann er in anderen Situationen sein. Er „rettet“ uns aus Ambivalenz und Unsicherheit, indem er illusionäre und riskante „Gewissheiten“ und eine über-optimistische Selbsteinschätzung produziert und alle Absurditäten, Widersprüche und Gefahren dieses Standpunktes abblendet, also zu Realitätsverlust führt.

So lange sich das auf banale Dinge bezieht, kann es ja ganz lustig sein. Wenn es aber dazu führt, dass wir fatale politische Entscheidungen treffen (oder versäumen, wie bei den internationalen Klimakonferenzen), dass zwanghaft ideologische Systeme entstehen oder krankmachende Dogmen (passende Beispiele darf hier jeder selbst einfügen), dann wird es schon unheimlicher. Man muss also auch bei Theorien und Weltbildern (selbst wenn sie „biblisch“ sind…) dem Rat das Paulus aus 1.Kor 7,29f. folgen, sie zu „haben, als hätte man nicht.“

 

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3 Antworten auf „Verliebt in Theorien“

  1. Hier werden zwei unterschiedliche Dinge verknüpft.

    a) Nach dem vorgestellten Versuch neigt der Mensch dazu, voreilige b.z.w. falsche Schlüsse aus Einzelereignissen zu ziehen. Das wird auch häufig als rhetorischer Trick verwendet, wenn eine Aussage durch geschickt gewählte Beispiele untermauert wird.

    Wir können uns über einen Wirkungszusammenhang nie 100% sicher sein, es kann sich immer um einen falschen Schluß handeln. Daher der oft benützte Vorbehalt: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit“.

    b) Im letzten Absatz geht es um freiwillige Mitläufer oder auch um soziale Zwänge, man schließt sich einer Meinung an. Beim Beispiel mit den Klimakonferenzen fehlt dem Einzelnen in der Regel die naturwissenschaftliche Kompetenz, er schließt sich einer Meinung an.

    Joachim Datko – Physiker, Philosoph
    http://www.Monopole.de

  2. Mich erinnert dies an Gespräche vor vielen Jahren mit dem Heidelberger Dogmatikprofessor Dietrich Ritschl. Er unterschied immer zwischen dem Denken in offenen Systemen und dem Denken in geschlossenen Systemen. In seiner „Logik der Theologie“ (S. 126/127) schreibt er:

    „Die Frage ist nicht so sehr, ob eine theologische Totalsicht, ein Mobile der Interdependenz und Hierarchie der Themen oder der regulativen Sätze, verwerflich oder wünschenswert ist. Es gilt vielmehr zu entdecken, wie mit einem bereits vorhandenen oder einem selbstentworfenen Totalsystem umgegangen werden kann. Es ist ja möglich, dass der spielerische Umgang mit ihm — die Offenheit also zu denken, es könnte alles auch anders sein — für eine gewisse Zeit, für ein Jahr der Gemeindearbeit, für die Dauer einer Konferenz, für den Tag der Predigtvorbereitung, ja, für die Minuten der Entfaltung eines Arguments in einer Diskussion, einer Kontroverse, einer politischen Versammlung, sogar nötig ist. Es böte dann den Rahmen und die Struktur für die aufzuzeigenden Begründungen und für die Dialogregeln unter den Gesprächsteilnehmern. Vielleicht ist ohne eine solche Vision des Ganzen, wenn auch nur temporär und momentan und auf Abbruch angelegt, theologische Kommunikation, Prüfung und Neuentdeckung gar nicht möglich. Andernfalls würde alles nur aus Gedankensplittern bestehen.“

    Also: „zu denken, es könnte alles auch anders sein“.

    Und weiter unten schreibt er vom „Augenblick des heiligen Geistes“, der solch ein System dann infragestellt.

    „Diesen Systemen (freilich auch den spielerisch entworfenen, momentanen Gesamtvisionen) droht Einspruch von zwei Seiten. Einmal rufen politische, kulturelle und intellektuelle Krisen zur Ablösung bislang akzeptierter Systeme auf, schon durch das Infragestellen der philosophischen Voraussetzungen, denen jede Systembildung verpflichtet ist. Daneben, aber meist unentwirrbar mit dem ersten verknüpft, stellt auch der charismatisch-prophetische Einspruch fixierte theologische Systeme in Frage. Die Verknüpfung der beiden kritischen Kräfte wird oft daran sichtbar, daß die prophetische Stimme sich an einem »Anlaß« (vgl. JE 4) entzündet, der sehr wohl im politischen oder kulturellen Bereich liegen kann. Der prophetische Einspruch der »Augenblick des heiligen Geistes«, kann aber auch durch unscheinbarere oder partikulare Ereignisse ausgelöst werden: durch das Leiden eines Kindes, das erneute Hören einer biblischen Geschichte, die lang versäumte Wahrnehmung der Kriegsgefahr in unserer Zeit. Ereignisse dieser Art können, wie die Stimme eines Propheten, theologische Mobiles zerstören und zur völligen Reorganisation der Gedanken einer Gruppe oder eines einzelnen Theologen führen.“

    Ist das eigentlich von der systematischen Theologie aufgegriffen worden? Ich bin nicht so belesen.

  3. @Johannes Werle: Danke für die Auszüge von Ritschl, ich finde das schön mit der spielerischen Offenheit, dem Temporären und Vorläufigen, das würde McGilchrist sicher auch so sehen. Und dann die Transformation von Systemen durch Krisen und Propheten – sehr treffend. Ich denke, Moltmann und Welker haben solche Gedanken auch im Repertoire, aber ob ein Zusammenhang mit Ritschl besteht (ist der eigentlich mit dem Albrecht Ritschl verwandt?), weiß ich nicht.

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