In mancher Hinsicht stehen sich Marienfrömmigkeit und Bibel-Fundamentalismus sehr nahe, auch wenn Vertreter der letzteren Richtung mit der Muttergottes eher auf Kriegsfuß stehen. Es gibt aber trotz aller Gegensätze auch eine Reihe interessanter Parallelen:
Beide Male wird nicht nur eine Nebensache (hier Maria, da die Bibel) ins Zentrum des Glaubens gerückt, zum unverzichtbaren Glaubensgegenstand gemacht und mit quasi-göttlichen Qualitäten ausgestattet: Maria durch die Lehre von der „unbefleckten Empfängnis“, die besagt, dass sie absolut rein und von der Erbsünde ausgenommen war, die Bibel durch die Lehre von der „Irrtumslosigkeit“, durch die sie zum hundertprozentig reinen Gotteswort stilisiert wird, aus dem alles problematisch-menschliche (etwa kulturell bedingte und zeitgebundene Vorstellungen) dann abgeblendet werden.
Beide Male werden diese Behauptungen der jeweiligen Dogmen durch umfangreiche Theoriebildungen abgesichert (freilich nicht begründet), die sich in Zirkelschlüssen bewegen. Man setzt das zu Beweisende als gegeben voraus und versucht dann die ganze historische Wirklichkeit so zu deuten, dass sie ins Bild passt.
Beide Male scheint das ursprüngliche Ziel gewesen zu sein, die Göttlichkeit Jesu zu betonen, und man hat dazu entweder seine biologische Abstammung oder die literarische Urkunde so verklärt, dass man meinen könnte, sie sei selbst Teil der Dreieinigkeit geworden: Vater, Sohn und Heilige Schrift oder eben Gott Vater, Maria und Jesus. Man hat die Verteidigungslinie von Jesus weg auf eine Art Zwischengröße verlegt.
Beide Male geht der Kult auf Kosten der Pneumatologie: Wo Maria oder die Bibel Mittlerrollen übernehmen, da wird der Geist zur Nebensache und dient eher der Legitimation der Zusatzmythen als eine eigenständige Rolle zu spielen. Und auch die Christologie bekommt eine Schlagseite, weil im Blick auf Jesus dadurch in der Regel die Göttlichkeit die Menschlichkeit dominiert und aufsaugt. Der Mittler zwischen Gott und den Menschen, anders gesagt: der eigentliche Zugang, ist nun für die einen Maria und für die anderen die Bibel.
Maria hat dabei emotional und ästhetisch bessere Karten als die eher spröde Bibel. Und sie hat den Papst auf ihrer Seite, dem wie der Bibel ein Anspruch auf Unfehlbarkeit angehängt wurde. Abgesehen davon überwiegen aber die Ähnlichkeiten für mich.
Warum ist die Bibel für Dich eine Nebensache?
@Huge: Die altkirchlichen Bekenntnisse wie das Apostolikum und Nizänum sagen nichts über die Bibel. Es geht um Gott und sein Verhältnis zur Welt. Wie Stefan schon schreibt, hat sich das (seit dem 17. Jahrhundert) geändert und in manchen neueren Bekenntnissen erscheint die Bibel als der Glaubensinhalt schlechthin. Das ist eine monumentale Verschiebung. In diesem seltenen, aber extremen Ausmaß toppt das sogar das Mariendogma.
Gute Gedanken!
Heißt die katholische Trinität nicht: „Gott, Maria, Christkind“? 😉
@ Huge: Es kommt immer auf den Vergleich an, würde ich sagen. Die Bibel hat enorme Bedeutung für uns Christen. Aber im Vergleich mit Gott muss sogar die Bibel zurückstehen. Sie ist nicht heilig „an sich“, material, sondern weil Gott sie heilig macht, sie gebraucht. Die christliche Hermeneutik ist eine andere als die islamische.
Sehr interessante Gedanken. Dazu passt, dass es einige freie Gemeinden gibt, die ein Glaubensbekenntnis als Grundlage bekennen, in dem die Bibel an erster Stelle, noch vor Gott, kommt. Z. B. hier das Musterglaubensbekenntnis der „Konferenz für Gemeindegründung“ (http://www.kfg.org/download/artikel/redaktion-gb-muster.pdf).
Ich glaube allerdings, dass die Definition von Irrtumslosigkeit „…aus dem alles problematisch-menschliche (etwa kulturell bedingte und zeitgebundene Vorstellungen) dann abgeblendet werden“, nicht das trifft, was viele, die an der Irrtumslosigkeit der Schrift festhalten darunter verstehen. Die Chicagoerklärungen zur Irrtumsolisgkeit (als ein Beispiel dafür) blenden dies alles jedenfalls nicht aus (z.B. Erklärung II, Art. VIII)!
Eine Tiefenbohrung zu diesem Phänomen bieten die Aufzeichnungen zur Auseinandersetzung Karl Barths mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Nachzulesen in Busch, Eberhard: Meine Zeit mit Karl Barth (2011) http://www.v-r.de/de/Busch-Meine-Zeit-mit-Karl-Barth/t/1001004163/
Was ist denn „Bibel-Fundamentalismus“? Ein Kampfbegriff von SPON?
Natürlich ist die Bibel ein Fundament unseres Glaubens, denn woher sonst erfahren wir das, was wir über Gott wissen? Hat nicht sogar Jesus die (damals verfügbaren) Schriften ernst genommen und regelmäßig daraus zitiert?
Außerdem glaube ich nicht, dass bei den hier als „Bibel-Fundamentalisten“ bezeichneten Menschen die Bibel zum Glaubensgegenstand wird. Es ist ja nicht so, dass man „an die Bibel glaubt“ und von der kann man sich auch selten ein Handeln erwarten. Die weist ja lediglich auf Gott hin, auch wenn man auf ihrer Irrtumslosigkeit besteht. Warum das Ziel ist, Jesu Göttlichkeit herauszustellen, erschließt sich mir auch nicht. In der Bibel wird ja ausdrücklich beides festgestellt. Und warum sollte der Geist zur Nebensache werden, wenn er doch in der Bibel einen so großen Stellenwert einnimmt?
Ich bin glaube ich durchaus anderer Ansicht als die Leute, die in diesem Post kritisiert werden. Aber müssen wir denn auf so eine Art und Weise uns im Internet von unseren eigenen Glaubensgeschwistern distanzieren? Was soll das bringen?
@Michael: Fundamentalismus ist in der Theologie ein feststehender Begriff, ich habe „Bibel“ mit Bindestrich drangehängt, um das gegen Missverständnisse in Richtung auf militante Glaubensgemeinschaften abzugrenzen, die in der Öffentlichkeit auch als „Fundamentalisten“ gehandelt werden. Es ist also kein Kampfbegriff, sondern die Selbstbezeichnung einer Bewegung, die heute noch etliche Erben und Nachfahren hat. Es soll auch niemand diffamiert werden, aber man darf über solche Themen ja ruhig kontrovers diskutieren.
@Stefan: „Glaubensbekenntnis der GEMEINDE BIBELTREU, Musterstadt“ – bist Du ganz sicher, dass das nicht eher satirischen Charakter hat? Ich meine, ich dachte wirklich immer, ich sei mit mancherlei evangelikalen Wassern gewaschen – und das Dokument hätte ich jetzt ganz klar Adrian Plass zugeordnet. Ich hoffe, Du raubst mir meine Illusion (?) nicht…
Na, aber Adrian Plass reflektiert ja gerade alle evangelikalen Wässerchen, die es so gibt … und wird gerade deswegen so satirisch …
Ja, er reflektiert sie und gibt sie dann überzeichnet wieder. Und dieser Text kam mir von Kopf bis Fuß so dermaßen überzeichnet vor, dass ich wirklich dachte, es kann sich bloß um Satire handeln. Leider musste ich inzwischen selbst feststellen, dass er bierernst gemeint ist. Es gibt ihn sogar noch in verschärfter Form als Fragebogen für Gastprediger. Um vorab zu klären, ob sie auch das rechte Bibel- und Kirchenverständnis haben — Kyrie eleison.
Diese Mustervorlage wird vielfach von freien Gemeinden als Glaubensgrundlage verwendet. Einfach mal googlen. Hier nur drei Beispiele:
http://www.christliche-gemeinde-schweinfurt.de/Glaube.htm
http://bibelgemeinde-gotha.de/Glaubensbekennt.html
http://www.christliche-gemeinde-wahlstedt.de/03896a9d160046004/
Aaaaaaaaaaaarghhhhh … Grauenhaft.
Mich erschreckt auch die Naivität, zu glauben, dass durch die Zustimmung zu einer Floskel wie „Wiedergeburt“ oder „direkte Schöpfung Gottes“ (was soll denn diese Formulierung?) „Einmütigkeit im Dienst“ gegeben sein soll …
Vielleicht sagen die altkirchlichen Bekenntnisse auch deshalb nichts zur Schriftfrage, weil das gerade nicht das Problem war, sondern z.B. die Christologie, die ja nicht ohne Grund z.B. im Apostolikum den größten Raum einnimmt. Und erst in neuerer Zeit waren Bekenntnisse auch dazu genötigt sich zur Schriftfrage zu äußern, weil diese auf einmal zur Disposition stand.
Mag sein, aber es ist die beherrschende Stellung dieses theologischen Locus im modernen Bibelglauben, ob naiv oder komplex, die den Schluss zulässt, dass da etwas unter der Hand vergöttlicht (oder eben. vergötzt) wird.
Schon Luther wurde damals vorgeworfen, er mach die Bibel zu einem neuen „papierenen Papst“. 🙂
Das man allerdings die Worte Jesu und des Paulus wertschätzen konnte, auch ohne sie gleich zu kanonisieren oder als „Neues Testament“ vom älteren abzugrenzen, zeigen doch die ersten 250 Jahre des Christentums. Es war noch nicht klar geregelt, was ist nun Wort Gottes und was nicht, das wurde erst im späten 4.Jahrhundert festgelegt.
Das die ersten 250 Jahre des Christentums nun keineswegs „erfolglose“ Zeiten waren, ist unstrittig – im Gegenteil. Das die Worte Jesu hochgeschätz waren, die Briefe des Paulus ihre Runden machten steht außer Frage!! Aber es zeigt doch auch, dass das Niet-und-nagel-festmachen von geistigen Inhalten, das kanonische Verankern dieser Schriften KEINE Vorraussetzung waren, für die Dynamik des Christentums.
Zu Maria fällt mir nur ein, dass man Luther wohl heute aus lutherischen und bibeltreuen Gemeinden rausschmeißen würde, wenn es um sein Marienverständnis geht. Luther hielt auch Marienpredigten und er sang und schrieb Marienbilder. Das sie ewig jungfräulich war, stand für ihn so fest, wie für den Papst. Wenn das so mancher beinharter Lutheraner wüsste! 😉
@Markus: danke für den Beitrag. Was mich immer irritiert, ist die reflexartige Unterstellung, man schätze die Bibel gering, nur weil man sie nicht in dem überhöhten Sinn verklärt. Ich denke, man nimmt sie so ernster als viele, die ständig auf der formalen Geltung herumreiten und sie zugleich mit Scheuklappen lesen.
Ja, das sehe ich ähnlich. Leider passiert es dann sogar, dass einige die Argumente für die Bibel (ihre Irrtumslosigkeit, diverse Erklärungen in diese Richtung) scheinbar besser kennen, als die Bibel selber. Sie wird dann verteidigt, ohne gelesen zu werden.
@Markus: Ich würde vielen sogar zubilligen, dass sie „Ihre Bibel“ intensiv lesen. Aber immer aus einem ganz bestimmten (das ist normal), recht exklusiven (da liegt das Problem) Blickwinkel, der einige Dinge hervorhebt und andere abblendet. Wenn alles „absolut“ ist, dann geht einem der Blick für die komplexen Interpretationsvorgänge bei sich selbst und anderen verloren, andere Auffassungen werden ohne tiefere Auseinandersetzung als falsch und „unbiblisch“ verworfen. Aus der Vielstimmigkeit des Kanons wird eine ziemlich flache, erzwungene „Stimmigkeit“. Damit nimmt man die Bibel dann gerade nicht ernst.
Guter Post, danke! Ich frage mich, wie man die Überzeugung, dass nicht die Bibel Autorität hat, sondern dass Gott alleine Autorität hat und sie durch die Bibel ausübt, in den Alltag und in den eigenen Zugang, die Bibel zu lesen, übersetzt. Bei den vielen Gesichtern, die Gott in der Bibel zeigt, welches davon ist autoritativ, und welches darf ich getrost ablehnen? Beides gleichzeitig festhalten zu wollen, ginge zwar als dialektische Theorie, nicht jedoch als vertrauende Grundhaltung einer Person gegenüber. Wo man es doch versucht (-und ich persönlich finde viele solche Stimmen unter uns Christen-) läuft man Gefahr, in einer kognitiven Dissonanz zu leben, d.h. Ich glaube 2 Dinge, die miteinander unvereinbar sind und empfinde diesen Zustand als natürlich. Aber legt dann nicht doch jeder von uns fest, an welchen Gott er glauben will, wenn es keinen unumstößlichen Standpunkt außerhalb gibt, von dem aus ein Utreil möglich ist?
@Michael: Der Verlust des absoluten Standpunkts (bzw. der Illusion, dass es einen gibt) ist in der Tat ein Problem. Um der Bibel „Irrtumslosigkeit“ attestieren zu können, müsste man diesen jedoch haben. Hat man ihn nicht, wäre das Urteil „irrtumslos“ prinzipiell fehlbar. Es wird ja an die Schrift von außen herangetragen, auch wenn die Protagonisten alles tun, um dies zu verklausulieren und zu verschleiern (wie bei den umständlichen Erklärungen der Absurditäten des Mariendogmas auch). Das grundsätzliche Risiko, das eine Interpretation mit sich bringt, und die eigene Verantwortung samt der Frage, ob man da seinen (”bibeltreuen“ wie „bibelkritischen“) Standpunkt nicht verabsolutiert und damit nichts mehr lernt, kann man nicht ausschalten. Bestenfalls lässt es sich durch das Gespräch mit anderen reduzieren. Oder siehst Du noch einen anderen Weg?