Soziale Wunder

Neulich abends nach dem Tanzen saßen wir in einem Straßencafe. Ein älterer Mann mit einem einzelnen schmutzigen Wollhandschuh sprach die Kellnerin, die unsere Bestellung aufnehmen wollte, in gebrochenem Deutsch an. Es stellte sich heraus, dass er auf einem Mülleimer gegenüber ein paar belegte Brote gefunden hatte und sie gerne mitnehmen wollte, was er dann auch tat.

Wir gerieten darüber in ein Gespräch über unseren Umgang mit Bettlern in der Stadt. Die einen geben manchmal Geld, andere nie und eine Person in der Gruppe meistens. Wir alle waren am Zweifeln, wie arm manche dieser Leute tatsächlich sind, die da mit Leidensmiene knien und ihren Pappbecher in die Luft halten oder mit gesenktem Haupt auf einer schmutzigen Decke sitzen. Jeder schien mit dem Verdacht zu ringen, das könnte nur Theater sein. Einige kannten auch Beispiele dafür.

Schließlich meinte jemand, das seien doch die Leute, zu denen Jesus gehen würde.

Technorati Tags: , ,



Und es stimmt natürlich: Jesus ist an Bettlern nicht achtlos vorbei gegangen. Nur gab er ihnen offenbar Geld, sondern er heilte sie – genauso machten es die Apostel. Das lag schlicht daran, dass praktisch nur der betteln musste, der durch Krankheit oder Behinderung seinen Lebensunterhalt nicht selbst verdienen konnte. Diese Leute hat Jesus wieder auf eigene Füße gestellt – buchstäblich wie im übertragenen Sinn. Sie waren also “weg von der Straße”, als Jesus ging.

Zugleich waren seine Wunder Zeichen dafür, dass das Reich Gottes – und damit die Wiederherstellung des Volkes Gottes und der ganzen Schöpfung – schon begonnen hatte. Sie hatten also nicht nur eine Bedeutung für die “Betroffenen”, sondern für jedermann. Die Geheilten waren sozial und religiös wieder voll integriert. Das ist der Teil der Story, den wir mit unserer modernen, individualistischen Brille so oft übersehen.

Brauchen wir heute also andere Wunder als damals – weil unsere “Bettler” andere Probleme haben? Oder haben wir die vielleicht schon, und merken es gar nicht? Und wenn einer von uns leidlich Gesunden von einem lästigen Wehwehchen geheilt wird (nichts dagegen einzuwenden!) – steckt darin auch noch eine soziale Botschaft – lohnt es sich also, ausführlich davon zu erzählen?

Share

9 Antworten auf „Soziale Wunder“

  1. Bin mir nicht sicher, ob du da Dinge theologisch überinterpretierst: Dass die Geheilten sozial und religiös wieder integriert waren und dass die Heilung einen Bedeutung für jedermann hatten ist eine Möglichkeit; mir scheint sie auf unsicherem Fundament zu stehen. Die Evangelisten werden ja nicht müde zu erzählen, dass die Menschen alles Mögliche in Jesu Wunder gesehen haben nur eben nicht den Beginn eines der Königsherrschaft Gottes. Viel wahrscheinlicher erscheint mir, dass (-damals wie heute-) die Heilung von den Betroffenen dankbar erlebt wurde, aber die Umwelt allenfalls aus Neugier kurz hingesehen hat um dann wieder zur Tagesordnung zurückzukehren. Wenn von zehn Kranken neun nicht einmal „danke“ sagen konnten, wieviel weniger sollte eine Gesellschaft hinter den Taten Jeus die Wiederherstellung des Volkes Gottes sehen.
    Persönlich würde ich auch den Begriff des „Wunders“ enger fassen, als du es tust und ihn auf das direkte und sichtbare Eingreifen Gottes beschränken. Mir wird der Begriff sonst zu schnell inflationär gebraucht und dann ist alles was irgendwo irgendwie geschieht, ein Wunder. Insofern kann ich auch nicht von einem „sozialen Wunder“ reden.
    Bei dem letzten Absatz bin ich mir nicht sicher, wie du ihn gemeint hast: Als kritische Anfrage, doch nicht von der Heilung jedes „Wehwehchen“s zu erzählen (-die Wortwahl läss eher diese Deutung vermuten-), oder als Ermutigung, dies noch viel intensiver zu tun? Mir scheint bei „Wundern“ der Knackpunkt aber gar nicht die soziale Botschaft sondern mein persönliches Vertrauen zu sein: Wenn wir Christen Gott nicht alles (!) in unserem Leben zutrauen, welchen Sinn sollte es machen, Andere zu einer Beziehung mit Gott einzuladen?

  2. Jesus hat, das meinte ich, Menschen mit diesen Wundern wieder „auf eigene Füße gestellt“. Meine Frage war, was dem heute entspricht, und da denke ich, es geht in den meisten Fällen um mehr als nur ein kurzes Heilungsgebet, weil das Ziel mehr ist als physische Unversehrtheit. Da spielt ja auch die Würde der Betroffenen eine Rolle.

    Woran erkennt man denn das „direkte und sichtbare Eingreifen Gottes“? Daran, dass wir keine andere Erklärung für etwas finden – es also „übernatürlich“ sein muss? Es sind sicher keine rein sozialen Wunder im Sinne bloßer Mitmenschlichkeit, aber wenn man nur auf den medizinischen Befund guckt, verpasst man vielleicht auch das Entscheidende?

    Beim letzten Punkt – „persönliches Vertrauen“ – denke ich wirklich anders. Die Wunder waren nicht nur Botschaften an einzelne Kranke, dass Gott sie liebt und sie ihm vertrauen dürfen. Sonst hätten sie kein solches Aufsehen erregt. Die Heilung des Lahmen in Markus 2 ist zum Beispiel eine Botschaft an die Pharisäer, die Jesu Autorität anzweifeln. Und die reagieren auch prompt, aber nicht, weil sie ihm seine Gesundheit neiden.

  3. Weiss nicht so recht, ob ich Wunder so „instrumentalisieren“ könnte (z.B. als Botschaft an ..). „Dein Vertrauen hat dich gerettet“, war doch die Begründung und nicht: „Ach, wo du gerade da bist, könnte ich mal den anderen was zeigen?“
    Daneben denke ich schon, dass ein Wunder als Wunder an sich schon genügend Aufsehen erregen kann, ohne dass es eine Botschaft dahinter sein muss, die mich anspricht.
    Würde mir jedenfalls so gehen 😉

  4. In Markus 2 fehlt der Hinweis auf den Glauben des Kranken, dafür aber explizit der Zusammenhang mit der Legitimation gegenüber den Pharisäern.

    Wenn ein Wunder ein Zeichen für das Reich Gottes ist, dann ist es als Vorwegnahme der Heilung des gesamten Schöpfung zu sehen, und die ist sozial wie physisch zu verstehen.

  5. Unbedingt würde ich sagen, dass die Wunder eine Bedeutung haben über die Person hinaus, die geheilt wird. Und ich würde mir auch sehr wünschen – gerade in dieser Unsicherheit, was Bettler unserer Zeit wirklich brauchen – soziale Wunder zu sehen.

    Ich weiß jetzt aber noch nicht genau, was das bedeutet. Was meinst du damit, wenn du schreibst, dass wir diese Wunder vielleicht schon haben? Und was kann ich das nächste mal machen, wenn ich jemandem mit einem Becher und Pappschild begegne?

  6. @ Simon: Ich weiß es nicht – daher die Frage. Hier ist es in aller Regel nicht sinnvoll, Geld zu geben (in den USA mag das z.T. anders sein), wenn ein Obdachloser es in Alkohol umsetzt. Sich Zeit nehmen wäre besser. Ein Euro in den Becher bedeutet nicht, dass ich diesen Menschen auf Augenhöhe mit mir selbst sehe. Ein Gespräch über Kaffee und Gebäck schon eher – aber das wollen nicht alle und es geht nicht immer. Und wenn es nicht wie ein Alibi der eigenen Hilflosigkeit rüberkommt, ist ein Gebet oder ein Segen zu Abschied sicher auch ein gutes Zeichen. Und wenn jemand tatsächlich mehr Hilfe braucht, sollten wir wenigstens wissen, wo er die findet.

    Nebenbei: Wie der Schuss nach hinten losgehen kann, wenn man nach eindeutigen Wundern fragt, kann man hier sehen:

  7. Während meines Studiums in Bad Liebenzell bekamen wir die Aufgabe gestellt, ein Interview mit einem Obdachlosen zu führen. Das war ein sehr lehrreiches Erlebnis, nicht zuletzt, weil ich bei dieser Gelegenheit einen zweiten Mann, ehemals obdachlos, kennen lernte. Die beiden waren so unterschiedlich und jeder auf seine Art so hilflos bzw. hilfsbedürftig. Der Erste verstand unter Hilfe vor allem ein paar Euro, damit er sich ein Bier und sein faules Leben (sorry, meine Worte) leisten konnte. Job und Wohnung hätten ihn nicht lange gehalten. Der zweite nahm gern jede Hilfe in Anspruch, die ihn zurück in ein zivilisiertes Leben bringt. Über die gemeinsam verspeisten Döner bzw. Pizza, haben sich beide sehr gefreut, insbesondere der zweite, der trotz Hartz IV und 1,50€-Job über 24 Stunden nichts mehr gegessen hatte. (Ich glaube, er gab von seinen paar Kröten noch etwas als Alimente ab!) Augenhöhe ist ein gutes Stichwort. Durch ein Gespräch, und das heißt vor allem Zuhören, zeigt man ihnen Interesse und Wertschätzung. Wann erfahren sie das denn sonst in unserer Gesellschaft?

    Zu der Frage der Eindeutigen Wunder, schreib ich einen Eintrag auf meinem Blog. Zu dem Neon-Artikel: Wer hat eigentlich behauptet, dass Gott keine Amputationen heilt?!

  8. „Jesus beabsichtigte, dass seine Machttaten der Heilung symbolisch verstanden würden als eine Erfüllung dieser Erwartung (von Jes 35, P.A.). Sie waren nicht bloß sozial oder religiös subversiv, das ganz sicher auch. Sie sprachen, wie es nur Symbole können, von der Rückkehr und der Wiederherstellung, dem Kommen JHWHs um sein Volk zu retten und zu heilen.“ (N.T. Wright, Jesus and the Victory of God, 429)

Kommentare sind geschlossen.